Unter der verstaubten Fensterluke des Dachbodens über der Bibliothek wurde eines Tages eine kleine Idee geboren. Im Schein des diffusen Lichtes kroch sie aus einem Stapel Kartons hervor und sah sich um. In einer Ecke standen Klappstühle an die Wand gelehnt, von den Dachbalken hingen dichte Spinnweben und in einem windschiefen Regal lagen kreuz und quer einige Aktenordner. Die kleine Idee schwebte über den Dachboden und steckte ihre Nase in jede Ecke.
„Hatschi!“, nieste sie, als der Staub aufwirbelte, und purzelte rücklings in eine Tüte, die mit altem Seidenpapier gefüllt war. Verwundert sah die kleine Idee an sich herunter, als sie aus der Tüte hinauskletterte. Sie trug nun ein knittriges Gewand aus rotem Papier.
„Wie schön!“, lachte die kleine Idee und tanzte vor Freude über ihr neues Kleid ausgelassen über den Dachboden.
Doch bald wurde der kleinen Idee langweilig. Was sollte sie denn allein hier anstellen zwischen all dem Staub? Sie wollte die Welt entdecken und Freunde finden. Bestimmt gab es noch andere Ideen, mit denen sie spielen konnte.
Unter der Dachbodentür befand sich ein kleiner Spalt. Die kleine Idee hielt die Luft an, machte sich ganz dünn und glitt Stück für Stück unter der Tür hindurch.
Oh, was war das hell hinter der Tür! Die kleine Idee blinzelte gegen das Licht und machte ein paar vorsichtige Schritte die Treppe hinunter. Als sie die obere Etage der Bibliothek erreichte, staunte die kleine Idee sehr.
So viele Regale, gefüllt mit bunten Paketen! Was das wohl war? Die kleine Idee schwebte auf eines der Regale zu und schnupperte. Irgendetwas roch vertraut. Doch die kleine Idee konnte nicht sagen, was es war.
„Wir waren auch Ideen, wie du“, hörte sie ein Flüstern.
Wer hatte da gesprochen? Die kleine Idee spitzte die Ohren.
„Wir sind es. Die Bücher!“
Was waren Bücher? Die kleine Idee fand diesen Hinweis nicht sehr hilfreich.
„Du sitzt doch drauf“, sagte schließlich jemand.
Da begriff die kleine Idee, dass die bunten Pakete, die hier in den Regalen standen, die Bücher sein mussten. Sie freute sich. Hier würde sie bestimmt Freunde finden können. Hatten die Bücher nicht gesagt, sie wären auch einmal Ideen gewesen?
Aber bevor die kleine Idee noch etwas sagen oder fragen konnte, kam ein Junge auf das Regal zu, in dem es die kleine Idee sich bequem gemacht hatte, und zog eines der Bücher hervor. Er drehte es hin und her, schlug es auf und legte es schließlich in einen Korb.
„Was passiert mit dem Buch?“, fragte die kleine Idee die Bücher.
„Der Junge wird das Buch lesen“, antworteten die Bücher.
„Lesen? Was ist das?“
„In jedem von uns stecken Wörter. Der Junge sieht sie an und versteht, was sie meinen, und dadurch gelangen die Ideen aus dem Buch in seinen Kopf.“
Die kleine Idee machte große Augen. „Was passiert dann mit dem Buch?“
„Der Junge bringt es wieder hierher zurück und jemand anderes kann es lesen.“
„Aber ist es dann nicht leer? Die Idee ist doch im Kopf von dem Jungen“, sagte die kleine Idee.
Die Bücher brachen in lautes Gelächter aus. Die kleine Idee verstand die Welt nicht mehr. Was hatte sie denn falsch gemacht?
„Eine Idee, die aufgeschrieben ist, verschwindet nicht. Sie bleibt in den Wörtern für jeden sichtbar“, erklärte schließlich eines der Bücher.
Das gefiel der kleinen Idee. Wenn es so war, wie die Bücher sagten, dann konnten Ideen sich ganz vielen Menschen mitteilen. Das wollte die kleine Idee auch.
„Kann ich auch ein Buch werden?“, fragte sie.
„Du?“, fragte ein großes, dickes Buch vom oberen Regalbrett herunter. „In deinem zerknitterten roten Kleid?“ Es lachte dröhnend.
Die kleine Idee sah an sich hinab. Was war denn verkehrt an ihrem Kleid aus Seidenpapier? Die rote Farbe gefiel ihr sehr gut.
„Richtige Bücher mit großen Ideen sind aus weißem, glatten Papier“, erklärte ein anderes Buch mit wichtiger Miene und klappte vor den Augen der kleinen Idee seinen Deckel auf.
Die kleine Idee sah auf das helle Papier und die vielen schwarzen Linien und Punkte. Das mussten die Wörter sein, von denen die Bücher gesprochen hatten.
„Dann wird aus mir kein Buch?“, fragte die kleine Idee bestürzt.
„Du hast ja nicht mal Wörter“, krähte ein Buch vom Regal gegenüber. „Keiner weiß, wer oder was du bist.“
„Du bist nicht mal eine Notiz!“, sagte ein anderes Buch.
„Wenn du nicht von dir erzählen kannst, bist du nichts. Schon gar kein Buch!“, stimmte ein weiteres Buch ein.
„Genau. Und jetzt stör uns nicht länger!“, kam es vielstimmig von den Regalen.
Ganz verstört schwebte die kleine Idee wieder zur Treppe und kroch unter dem Spalt der Dachbodentür hindurch. Traurig hockte sie sich auf die Lehne eines Klappstuhls und ließ die Zipfel ihres Seidenpapiers hängen.
Wie gerne wäre sie ein Buch geworden. Es musste doch das größte Glück sein, zwischen zwei Buchdeckeln im Regal zu stehen und hin und wieder von jemandem mitgenommen zu werden.
„Blödsinn“, hörte die kleine Idee plötzlich eine tiefe Stimme.
Erschrocken sah sie sich um. War ihr jemand auf den Dachboden gefolgt? Da entdeckte sie im Stuhl neben sich ein zerknittertes kariertes Papier. Es ruckelte ein wenig hin und her und setzte sich neben die kleine Idee.
„Wer bist du?“
„Ich bin eine Idee, genau wie du!“
Die kleine Idee musterte ihren Sitznachbarn. „Aber du hast ein weißes Kleid. Du bist bestimmt eine gute Idee, die ein Buch wird.“
„Sehe ich so aus?“
Die kleine Idee seufzte ratlos. So perfekt wie die Bücher unten in den Regalen, sah diese Idee wirklich nicht aus.
„Wenn man dein Kleid glattstreicht, wirst du bestimmt ein Buch.“
„Was hast du nur mit deinen Büchern“, schnaubte die andere Idee. „Die da unten, die tun so, als ob es der Schlüssel der Glückseligkeit sei ein Buch zu werden.“
Die kleine Idee sah erstaunt auf. „Ist es das denn nicht?“
„Papperlapapp. Manche von ihnen stehen schon seit Jahren auf ihrem Regalbrett herum, ohne dass sie je mitgenommen und gelesen werden. Kein Mensch interessiert sich für sie. Und wenn sie lange genug da herumgestanden haben, werden sie irgendwann ins Archiv gebracht. Da stehen sie dann zwischen Dunkelheit und Staub.“
Der kleinen Idee schauderte und das Seidenpapier knisterte. Das hatten die Bücher ihr nicht erzählt, dass manche von ihnen nie mitgenommen und gelesen wurden. Trotzdem trösteten sie die Worte der älteren Idee nicht völlig.
„Du hast gut reden“, seufzte sie. „Du hast wenigstens Wörter.“ Sie deutete mit dem Kopf auf die schwarzen Linien auf dem Papier.
Die alte Idee lachte. „Das sind keine Wörter“, sagte sie und entfaltete sich auf der Stuhllehne.
Nun konnte die kleine Idee erkennen, dass sich auf dem karierten Papier viele Kreise, Vierecke und Pfeile und schwungvolle Kringel befanden. Keines der Zeichen sah so aus, wie das, was sie in den Büchern gesehen hatte.
„Es braucht nicht immer Wörter. Der das hier geschrieben hat, wusste nach dieser Skizze, was zu tun war“, erklärte die alte Idee.
„Oh“, sagte die kleine Idee überrascht. „Aber was wird aus mir? An mir ist ja noch nicht einmal eine Skizze“, fügte sie dann traurig hinzu.
Die alte Idee streckte eine Ecke des karierten Papiers aus und tätschelte das Seidenpapier der kleinen Idee.
„Na na, nicht weinen. Es gibt viel mehr Ideen als nur die aus Wörtern oder Skizzen. Manche brauchen weder das eine noch das andere.“
„Was sind sie?“, fragte die kleine Idee leise.
„Zum Beispiel Stimmungsideen“, sagte die alte Idee. „Wenn jemand eine Geschichte schreiben will, braucht er Inspiration und Atmosphäre. Soll es eine spannende Geschichte sein oder eine geheimnisvolle? Eine traurige oder lustige? Das richtige Gefühl muss her. Dafür braucht es Stimmung.“
Die kleine Idee hörte gut zu, was die alte Idee ihr erzählte. Richtig fassen konnte sie es noch nicht. Das mit den Wörtern oder der Skizze hatte viel einfacher geklungen.
„Dabei ist die richtige Stimmung ganz besonders wichtig“, betonte die alte Idee. „Ohne sie gibt es keine Wörter, keine Skizze, keine Geschichte. – Und auch keine Bücher.“
„Woher weißt du das alles?“, fragte die kleine Idee.
„Oh, ich bin schon seit einer Weile hier“, sagte die alte Idee. „Ich habe vieles beobachtet. Kurz bevor du aus den Kartons dort drüben gekrochen bist, saß hier eine junge Frau unter der Fensterluke und hat ein sehr nachdenkliches Gesicht gemacht. Dann hat sie tief eingeatmet, sich einmal im Kreis gedreht – und dann lag plötzlich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Das warst du!“
Die kleine Idee knisterte vor Erregung mit ihrem roten Seidenkleid. Die junge Frau hatte sie gar nicht gesehen. Die kleine Idee konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie einmal ein Lächeln gewesen war. Wie konnte denn aus einem Lächeln eine Idee werden?
„Das ist das große Geheimnis der Welt“, sagte die alte Idee weise. „Du musst dich jedenfalls nicht schämen, dass du nicht zwischen zwei Buchdeckel gepresst im Regal stehst. Ich glaube, aus dir wird viel mehr als nur eine wunderbare Geschichte.“
Der kleinen Idee kullerte vor Rührung eine Träne aus einem der Papierknicke. Und weil sie nicht anders konnte, drückte sie die alte Idee ganz fest an sich. Da verwob sich auf wundersame Weise das karierte Papier mit dem Seidenpapier und verband sich mit dem Faden, der aus der Träne der kleinen Idee entstanden war.
So kam es, dass die Autorin, die wenig später den Dachboden betrat, ein kleines Notizbuch zwischen den alten Stühlen fand, in das sie die Anfänge von vielen Geschichten schrieb.