Man durfte nicht traurig sein! - Dorit Linke

Liebe Frau Linke, Gratulation zu Ihrem grandiosen Roman! Wie kamen Sie auf die Idee die Geschichte um Hanna und Andreas zu schreiben?

 

Vielen Dank erst einmal für Ihr Interesse an meinem Roman und für dieses Interview! Ich wollte einen Roman schreiben, der eine Kindheit und Jugend in der DDR beschreibt, so wie viele sie erlebt haben könnten. Da ich in Rostock groß geworden bin, war es naheliegend, meine Erfahrungen einfließen zu lassen. Die Idee, eine Flucht über die Ostsee zu beschreiben, ist erst später entstanden, nachdem ich mich mit den Schicksalen der Menschen beschäftigt habe, die in der DDR benachteiligt waren, weil sie Widerstand geleistet und sich gegen Willkür gewehrt haben. Es war mir ein Anliegen, diesen Menschen eine Stimme zu geben.

Wie verzweifelt muss man sein, um 50 Kilometer durch die Ostsee schwimmen zu wollen? Hätten Sie Hanna und Andreas verstanden?

 

Sehr verzweifelt, gleichzeitig aber auch mutig und selbstsicher. Es war eine existenzielle Entscheidung, bei der viel auf dem Spiel stand, was die Betroffenen auch wussten. Dennoch sind sie diesen Weg gegangen, und nicht jeder hat sein Ziel erreicht. Ich persönlich hätte Hanna und Andreas verstanden. Die Konsequenz ihres Handelns ist natürlich bedrückend, doch das zeichnet junge Menschen aus. Sie nehmen Kompromisse nicht hin, wollen sofort etwas verändern und können nur schwerlich mit dem Satz „wenn du älter bist, wirst du das alles verstehen“ milde gestimmt werden. Diese Haltung ist gut, denn etliche gesellschaftliche Prozesse in Ost und West wären ohne die junge, Veränderungen einfordernde Generation nicht in Gang gekommen.

 

Sie sind selbst in der DDR aufgewachsen und waren 18 Jahre alt, als die Mauer fiel. Wie viel mussten Sie für Ihren Roman dennoch recherchieren und wie hat sich die Recherche gestaltet?

 

Was ich nicht aus eigenem Erleben kannte, habe ich recherchiert, so u.a. die Einzelheiten der Flucht. Hier gibt es einige Bücher, die mir eine große Hilfe waren: „Hinter dem Horizont liegt die Freiheit“ von Christine Vogt-Müller oder auch der eindringliche Erfahrungsbericht „Solange ich atme“ von Carmen Rohrbach. Ich besuchte die Gedenkstätte der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock, eine seltsame Erfahrung, denn während meiner Kindheit wohnte ich in der Nähe und lief oft an dem Gebäude und dem Posten, der davor stand, vorbei. Damals hatte ich keine Vorstellung davon, was sich Schreckliches in diesem Gebäude abspielte. Natürlich war ich zwecks Recherche auch vor Ort am Stand von Kühlungsborn und habe mich intensiv mit dem Thema „Jugendwerkhof“ befasst.

 

Wie haben Ihre Freunde und Familie reagiert, als Sie erzählt haben, dass Sie einen Roman schreiben über eine Flucht aus der DDR?

 

Ich kann mich an keine besondere Reaktion erinnern und denke, dass alle die Idee ganz gut fanden.

 

Eine sehr berührende Szene in Ihrem Roman, die die Verzweiflung von Hanna und Andreas deutlich macht, ist der Moment, als die beiden die leere Wohnung von Sachsen-Jensi betreten.

Andreas ruft da: „Scheißland! Den sehen wir nie wieder!“ Gab es Momente, in denen Sie damals ähnliches gedacht haben? Haben Sie selbst über Flucht nachgedacht?

 

Die späten 80er Jahre waren bedrückend. Es wurde uns nicht nur über das Westfernsehen bewusst, dass sich etwas tat, sondern zeigte sich auch im nahen Umfeld. Freunde reisten mit ihren Familien in den Westen aus und waren plötzlich weg. Diese Eingriffe in die ohnehin schwierige Pubertät mussten verkraftet werden. Weder konnte man darüber sprechen noch durfte man traurig sein, denn offiziell sollte man diesen Menschen „keine Träne nachweinen“ (Honecker).  Sie existierten einfach nicht mehr.

Ich habe nie ernsthaft an eine Flucht gedacht, doch als Rettungsschwimmerin am Ostseestrand kam ich bei schönem Wetter (Blick über die ruhige, blaue See und auf die gut sichtbaren Tanker in der Ferne) schon mal auf dumme Gedanken. Aber mehr als den Satz: „Ich könnte es schaffen!“, dachte ich nicht. Was man eben so denkt, wenn man jung ist und sich für unverwundbar hält.

 

Sie haben an den Montagsdemonstrationen teilgenommen. Welche Hoffnungen haben Sie damit verbunden? Hatten Sie Angst vor Verhaftung?

 

Die Demonstrationen, die in Rostock auf den Donnerstag fielen, hatten für mich nichts Bedrohliches. Ich habe mich unter den friedlich demonstrierenden Menschen aufgehoben und sicher gefühlt, vermutlich weil ich mit Freunden unterwegs war. In dunklen Ecken stand zwar die Staatssicherheit, aber das hat uns nichts ausgemacht. Nur in der Rückschau wird mir manchmal etwas mulmig. Es hätte ja auch schief gehen können, so wie in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Heute weiß ich, was für ein Geschenk diese besonderen Tage im Oktober 1989 waren. Das Land wachte auf, die Menschen waren eins, und niemand machte irgendeinen Blödsinn. Später in meiner Studentenzeit war ich öfter auf Demos in Berlin, die nicht an die Atmosphäre von 1989 herankommen konnten. Es verschaffen sich in Menschenmassen ja immer auch Stimmen Gehör, die dumm und ausgrenzend sind, derartige Stimmen hörte man 1989 nicht.

Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, welche Hoffnungen ich mit den Demonstrationen verbunden habe, nehme aber an, dass diese weit übertroffen wurden. Ich bin damals hingegangen, weil positive Veränderungen in der Luft lagen und ich teilhaben wollte. Und ich war neugierig! Es war in Rostock endlich mal was los, die Stadt wurde bunter, lebendiger. Und die von der Ideologie so oft bemühte „Macht des Volkes“ spürte ich das erste Mal im Leben wirklich.

 

Mit welchen Vorurteilen des Westens gegenüber dem Osten sahen Sie sich damals konfrontiert, als 1989 die Mauer fiel? Was hatten Sie selbst für Vorstellungen vom Westen?

 

Die Wochen nach dem Mauerfall habe ich als positiv und nicht vorurteilsbehaftet in Erinnerung. Wir sind mit dem Skoda nach Hamburg gefahren und wurden dort mitten auf der Straße in offene und freundliche Gespräche verwickelt. Ich hatte außerdem das Glück, an einem Schüleraustausch mit Bremen teilnehmen zu dürfen. Eine Woche lang lebte ich in einer sympathischen Bremer Familie (unsere Familien sind noch heute eng befreundet) und besuchte den Unterricht an einer Schule in Walle. Die Begegnungen mit Schülern und Lehrern waren herzlich, von Vorurteilen keine Spur. Es herrschten Interesse und aufgeregte Freude darüber vor, dass wir uns alle nun so einfach begegnen konnten. Nur wenige Wochen zuvor hatte davon niemand zu träumen gewagt.

Meine damaligen Vorstellungen vom Westen? Alles ist bunt, laut und schrill (stimmte), Geld ist wichtig (stimmte), es gibt seltsame Südfrüchte (stimmte), es gibt Obdachlose (stimmte), die Menschen sind alle oberflächlich (stimmte nicht).

 

Wie sehen Sie die heutige Ost-West-Beziehung? Inwieweit glauben Sie, ist die Deutsche Einheit erreicht, wo müsste noch mehr investiert werden?

 

Entwicklung braucht Zeit. „Nun muss zusammenwachsen, was zusammengehört“ - treffender und vorausschauender als Willi Brand nur wenige Tage nach dem Mauerfall hat es wohl niemand formuliert. Wir haben vieles gemeinsam geschafft und sollten uns, bei allen Problemen, auch vor Augen führen, was nach 1989 alles nicht passiert ist. Kein Krieg wie auf dem Balkan, kein wirtschaftlicher Zusammenbruch, keine Armut wie in vielen Ländern Osteuropas. Einen Menschen, der heute noch Vorurteile gegen Ost oder West hat, kann ich persönlich nicht verstehen. Je größer die Unkenntnis, desto größer die Vorurteile. Dagegen hilft die menschliche Begegnung. Es liegt am Einzelnen, den Rahmen und die Möglichkeiten auszuschöpfen, wobei schwache und benachteiligte Menschen jedoch Unterstützung brauchen.

Investieren sollten Ost und West gleichermaßen in Kinder und Jugendliche. Diese kommen auch in unserem Land oft zu kurz, erleben Armut, Desinteresse und Perspektivlosigkeit.

 

Sie haben Landschaftsplanung studiert. Was reizt Sie an dieser Arbeit? Was fasziniert Sie hingegen am Schreiben? Was macht mehr Spaß?

 

Ich arbeite seit längerem nicht mehr im Bereich der Landschaftsplanung, sondern bin in der Berliner Immobilienbranche tätig, einem Haifischbecken ;-) Ernsthaft: Mir gefällt die Arbeit, denn ich begegne darüber täglich den unterschiedlichsten Menschen mit immer neuen Geschichten. Außerdem bin ich andauernd in Berlin unterwegs, eine Pfundgrube für Ideen. Daher ergänzt sich diese Tätigkeit gut mit meiner Autorentätigkeit, und beides macht mir gleichermaßen Spaß.

Am Schreiben fasziniert mich, dass ich mich kreativ mit Themen auseinandersetzen kann, die mich interessieren. Ich kann an meinem Schreibtisch sozusagen machen, was ich will, anders als im Berufsleben, welches die Inhalte vorgibt. Obwohl auch ein Roman Regeln unterliegt, kann ich meiner Phantasie freien Lauf lassen. Allerdings darf man sich nichts vormachen. Schreiben ist harte Arbeit, man braucht Selbstvertrauen, Durchhaltekraft, Geduld. Und eine gewisse Ignoranz unserer leistungsorientierten Gesellschaft gegenüber, die schnelle Ergebnisse einfordert, wodurch Qualität dann oft zu kurz kommt.

 

Arbeiten Sie bereits an neuen Projekten? Was dürfen Leser in Zukunft von Ihnen erwarten?

 

Derzeit schreibe ich an einem Kinderbuch, das in Berlin spielt. Abgesehen davon kann ich mir vorstellen, eine Fortsetzung von „Jenseits der blauen Grenze“ zu schreiben, allein schon deshalb, weil ich persönlich ganz neugierig bin, welchen Weg meine Figuren wohl einschlagen werden.

 

Zum Schluss noch ein paar kurze Fragen, die Sie bitte so spontan wie möglich beantworten bzw. vervollständigen.

 

        1.       Dieses Buch hätte ich gern geschrieben: Schuld und Sühne.

        2.       Bei diesem Film würde ich gern Regie führen: Das könnte ich nicht, also lasse ich es sein.

        3.       Ein Buch ist … eine wunderbare, neue Welt. 

        4.       Auf meinem Schreibtisch … befinden sich Kugelschreiber, Laptop und eine Bananenpflanze, die ich

                regelmäßig gießen muss. Jetzt muss ich schmunzeln, weil ich damit ein Vorurteil bediene (Banane            - Ossi)

        5.       Uni und Studium sind … in der Regel sinnvolle Beschäftigungen, mal so mal so.

        6.        Ich würde sofort fast alle Bücher der Welt lesen, wenn … ich Zeit hätte!

        7.       Schwimmen ist … abschalten und den Alltag hinter sich lassen.

        8.       Eines Tages werde ich … mehrere Wochen am Stück in den Bergen wandern.

        9.       Ein Haus ohne Bücher ist wie … ein Körper ohne Seele.

      10.   Autoren sind … auch nur Menschen.

Mehr zu Dorit Linke und ihrem Buch erfahrt ihr auf ihrer Website und ihrem Facebook-Profil

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