Schick mir eine Orange, wenn du da bist

Tibor hatte gelacht und gesagt, dass das zu schön wäre um wahr zu sein. Zehn Monate fürs Nichtstun bezahlt werden. Das konnte doch nur ein Fake sein. Ja, wahrscheinlich. Aber was, wenn nicht?

  „Das wäre schön ziemlich nice. Einfach in der Hängematte liegen, die Sonne genießen, und dabei wandern ganz easy die Euros auf dein Konto.“

  „Richtig nice“, hatte ich gesagt und schon mal probeweise verträumt die Augen geschlossen.

Doch bevor ich mir die ganze Situation richtig hatte vorstellen können, hatte Tibor mir kräftig auf den Rücken geschlagen, sodass ich das Gleichgewicht verloren hatte und die letzten Stufen der Institutstreppe hinunter gestolpert war.

  „Wach auf, Mann. Das ist ein Marketing-Gag, nichts weiter“, hatte Tibor gerufen, seinen Rucksack geschultert und den Campus in Richtung Bib überquert.

 

Und hier stand ich nun. In dem, was angeblich nur ein Marketing-Gag war. Gerade eben hatte mir der Chef persönlich den Schlüssel zum Apartment überreicht, das nun für die nächsten Monate mein Zuhause sein würde. Von der orange-grün gestreiften Hängematte auf dem Balkon war die Plantage gut zu überblicken. Ich sog die warme Luft ein, die nach Erde, Orangen und Sommer roch.

Der Kühlschrank im Apartment war gefüllt mit einigen Flaschen Orangensaft. Ich musste grinsen. War ich gerade Protagonist in einem Werbespot, und würde gleich der Slogan ertönen „Vom Baum direkt in die Flasche“?

Ich trank einen Schluck, stellte fest, dass kein Werbespruch folgte und trank zufrieden auch den Rest der Flasche aus.

Das Grinsen wollte einfach nicht von meinem Gesicht schwinden, als ich mich in die Hängematte plumpsen ließ und darin hin und her schaukelte, während ich meinen Blick über die Plantage schweifen ließ.

Irgendwo im Zimmer hörte ich mein Handy brummen. Ich ignorierte es. Das konnte nur eine Nachricht von Tibor sein. Er hatte wieder amüsiert und ungläubig zugleich gelacht, als ich ihm erzählt hatte, dass ich den Job hatte.

„NIIIIIICE“, hatte er gesagt. Aber es hatte falsch geklungen. Dafür kannte ich ihn einfach zu gut. Oder er war zu leicht zu durchschauen. Die Anzeige hatte im ersten Moment zwar witzig geklungen, aber das konnte man doch nicht ernst nehmen. Wie sah das denn aus im Lebenslauf? Mit dem, was ich hier in den nächsten Monaten tun würde, wäre meine perfekte Laufbahn vermutlich auf ewig unwiderruflich zerstört. Da wäre eine Lücke noch besser gewesen. Das war es, was Tibor eigentlich gedacht hatte, als er mir mit der Bierflasche in der Hand zugeprostet und sein „NIIIIIICE“ gerufen hatte.

Vielleicht hatte er recht. Womöglich könnte ich es vergessen, auf der Karriereleiter bis in die Führungsetagen zu klettern. Aber das war mir gerade ziemlich egal. Ich hatte mich in den letzten zehn Jahren um meinen Lebenslauf gekümmert und mir deshalb viel Spaß entgehen lassen und auf einmalige Chancen verzichtet.

Es war an der Zeit, endlich mal etwas Verrücktes zu tun. Oder besser, nichts zu tun, was weiterhin mein „Ich bin der perfekte Kandidat, um Ihre Firma in edlem Zwirn zu retten“-Image polieren könnte.

Nichts tun. Zehn wunderbare Monate lang. Nichts tun – außer Orangen beim Wachsen zuzusehen und in den Social Media ein bisschen davon erzählen, wie wunderbar das war.

 

Am Anfang schrieb Tibor noch häufig und fragte, wie es mir ging und was ich so machte. Ich antwortete nicht. Ich unternahm Spaziergänge über die Plantage, unterhielt mich mit den Arbeitern. Ja, es kam sogar vor, dass ich im Schatten einer der Bäume saß und die Orangen beobachtete. Einer der Bäume wurde zu meinem Lieblingsorangenbaum. Die Äste waren besonders schön verzweigt und in dem Muster der Blätter konnte ich mich verlieren. Fasziniert betrachtete ich, wie der Baum Knospen trieb, aus denen weiße Blüten erwuchsen und schließlich Früchte preisgaben.

„Diese Woche sind schon wieder zwei Dutzend Früchte gewachsen“, sagte ich einmal zu einem der marokkanischen Arbeiter und zeigte mit dem Finger auf die verschiedenen Äste, an denen in den letzten Tagen neue Orangen gewachsen waren.

Er lachte. „Du kannst wirklich genau beobachten“, sagte er. „Das ist wichtig!“

Ich erhielt von dem Plantagenbesitzer die Erlaubnis hin und wieder von meinem Lieblingsbaum eine Frucht zu pflücken und zu essen. Die Arbeiter erklärten mir, worauf ich achten müsse, woran ich erkennen konnte, dass eine Frucht reif war. Als sie es mir sagten, kam es mir logisch vor, so, als hätte ich es schon immer gewusst.

Ich sah mir die Orangen genau an, befühlte sie, sog ihren Duft ein. Wenn alles stimmte, pflückte ich sie und schälte sie mit Hingabe.

Eines Tages hatte ich gerade eine Orange gepflückt und geschält, als der Arbeiter auf mich zukam, der meine Beobachtungsgabe gelobt hatte.

„Wie geht’s deinem Baum?“, fragte er lachend.

„Gut“, sagte ich. „Die Früchte sind fantastisch.“ Ich hielt ihm ein Stück der Orange hin. Er nahm es. Dann sah er mich ernst an.

„Ich fahre weiter. Nach Deutschland. Ich werde dort arbeiten“, sagte er.

Ungläubig sah ich ihn an. „In Deutschland gibt es keine Orangenplantagen“, wandte ich ein.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde Orangen verkaufen.“

Daran hatte ich in all den letzten Monaten überhaupt nicht gedacht. Für mich waren die Orangen reiner Selbstzweck geworden. Sie waren einfach da. Sie blühten, sie wuchsen und leuchteten gelb zwischen den grünen Blättern hervor. Hin und wieder aß ich eine. Aber sie zu verkaufen, kam mir nie in den Sinn, obwohl diese Plantage ja zu keinem anderen Zweck angelegt worden war.

„Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder“, sagte er und reichte mir zum Abschied die Hand.

„Warte“, sagte ich. „Kannst du etwas für mich mitnehmen?“

 

Das Paket war klein und kompakt. Braune Pappe mitten auf dem gläsernen Schreibtisch.

„Hier, das ist für dich abgegeben worden“, sagte sie.

„Für mich?“

Sie zuckte mit den Schultern.

Er löste das Paketband, mit dem das Päckchen an der Oberseite zugeklebt war, und schlug die Laschen zurück. Fassungslos starrte er auf den Inhalt. Nach so langer Zeit. Das konnte doch nicht wahr sein.

Er nahm die Orange heraus. Sie war ausgehöhlt und fast bis zum oberen Rand mit brauner Erde gefüllt. Was sollte das bedeuten?

Irritiert sah er in den Karton, ob sich noch etwas darin lag und fand tatsächlich einen Zettel.

„Es ist nicht nice. Es ist ein Wunder. PS: Viel Sonne und gießen nicht vergessen.“