Sechs Tage noch! Wie ein Mantra wiederhole ich gedanklich diese Zahl. Dabei sollte ich mich besser auf die Klausur in drei Tagen vorbereiten. Preispolitik ist nicht gerade meine Stärke, Konzentration wäre also angebracht. Aber ich kann an nichts anderes mehr denken. In weniger als einer Woche bin ich endlich wieder zuhause. Ich kann es kaum erwarten. Dabei habe ich mich hier in der WG sogar recht wohl gefühlt. So wohl, wie man sich halt fühlen kann, wenn man die ganze Zeit glaubt, woanders sein zu müssen. Diese verdammte Angst und Lauerstellung, die ich einfach nicht ablegen kann.
Auch als mein Handy jetzt vibrierend einen Anruf von Zuhause anzeigt, schnellt mein Puls augenblicklich in die Höhe.
Helena strahlt über das ganze Gesicht und leckt sich genüsslich über die Lippen.
„Judith, die ist mega! – Gaumenorgasmus.“ Sie legt die Schokoladentafel, die ich ihr aus England mitgebracht habe, auf ihren Schreibtisch, schielt aber sofort wieder zum Papier. Ich kann ihr das Verlangen förmlich ansehen und verstehe sie nur zu gut. Die Toffee-Salted-Caramel-Sorte hat mir auch am besten geschmeckt. Aber meine beste Freundin beherrscht sich und erhebt sich von ihrem Bett.
„Fehlt eigentlich nur noch der Tee, oder? Ich hab zwar keine Scones, aber ein paar Kekse tun’s auch.“ Mit diesen Worten lässt sie mich in ihrem Zimmer zurück und ich höre sie die Treppe nach unten in die Küche laufen.
Ich lehne mich an eines der großen Kissen, das Helena auf ihrem Bett drapiert hat und esse ein Stück von der Schokolade, die sie mir aus Frankreich mitgebracht hat. Sie ist nicht ganz so gut wie die englische, aber auch ziemlich großartig, und sie vermittelt mir, verbunden mit dem vertrauten Geruch aus Helenas Kissen, Geborgenheit.
Fassungslos halte ich mein Handy in der Hand. Welcher Teufel hat mich geritten, Judith wieder zu schreiben? Es wäre besser gewesen, das, was vorgefallen ist, totzuschweigen. Nicht mehr zu reden. Zu schreiben.
Aber meine Finger haben wie von selbst unseren Chat geöffnet und jene Nachricht getippt. Angesichts ihrer Antwort schlägt mein Herz noch schneller als es sollte. Mein Verdacht, dass Judith etwas bedrückt, hat sich bestätigt. Dass ihre Klassenkameraden sie allein gelassen haben, geht echt gar nicht. Ob das schon öfter vorgekommen ist? Hatte sie deshalb keine Lust mitzufahren? Ich warte auf eine weitere Nachricht von ihr, aber unser Chat bleibt stumm.
Stattdessen erscheint eine Nachricht von Ben in unserem Band-Chat.
Am Fenster des Reisebusses zieht regnerisch graue Landschaft vorbei. Nicht gerade stimmungshebend. Ich lehne meinen Kopf gegen die Scheibe und sehe den Regentropfen nach, die im Fahrtwind in wilden Mustern das Glas entlangrinnen. Julia sitzt neben mir, hat sich aber abgewendet und quatscht leise mit Sabrina, die auf der anderen Seite des Gangs sitzt. Sabrina kichert leise und ich spitze die Ohren. Sprechen sie über mich? Ich sehe mich zu den beiden um, und bin halbwegs erleichtert, dass meine Klassenkameradinnen auf Herrn Willms deuten, der vorne hinterm Busfahrer sitzt und eingenickt ist. Zwar weiß ich nicht, was an einer schlafenden Person so witzig ist, aber ich bin froh, dass ausnahmsweise einmal nicht ich das Ziel von Spott bin. Die Erleichterung hält nur für ein paar Sekunden an.
Der Himmel ist wolkenverhangen und ein paar rotverfärbte Blätter an den Bäumen zeigen deutlich, dass der Herbst begonnen hat. Die Temperaturen sind allerdings noch spätsommerlich und mir ist es viel zu warm in meiner Jacke. Ich stehe am Eingang von Planten un Bloomen und öffne den Kragen meiner Jacke, um besser Luft zu bekommen. Was mache ich hier eigentlich? Wie bin ich auf die bescheuerte Idee gekommen, dieses Treffen vorzuschlagen?
Mit gierigen Schlucken leere ich meine Wasserflasche, während mir der Schweiß über die Stirn perlt. Obwohl es Ende September ist, gibt die Sonne noch einmal alles und hat die Halle gut aufgeheizt. Was unsere Trainerin nicht daran gehindert hat, uns hart ranzunehmen. Mein Shirt klebt am Körper und ich öffne meine Sporttasche, um mein Duschzeug rauszuholen. Wie üblich schaue ich dabei kurz aufs Handy. Eine neue Nachricht.
„Servus, ich bin Martin.“ Ein schlaksiger Typ mit kurzen verstrubbelten braunen Haaren öffnet mir die Tür und lacht mir fröhlich entgegen.
Mir fällt es schwer, das Lächeln zu erwidern. Ich bin hundemüde nach knapp 10 Stunden Zugfahrt, während der ich mich die ganze Zeit zwingen musste, nicht am nächstbesten Bahnhof wieder auszusteigen und zurückzufahren. Was soll ich hier in Bayern? Zuhause würde ich dringender gebraucht, auch wenn Mama bis heute Morgen behauptet hat, ich könne ruhigen Gewissens fahren. Einen Scheiß kann ich. Mama ist immer noch im Krankenhaus und Finn wird bei seinem Schulfreund unterkommen, bis Mama wieder nach Hause kann. Ja, ich weiß, dass meine Ausbildung wichtig ist – aber ist sie wichtiger als meine Familie? Ich habe jedenfalls alles andere als ein gutes Gewissen dabei.
Ich beobachte das Aufleuchten von Scheinwerfern, das von der gegenüberliegenden Fassade in mein Zimmer reflektiert wird. Fast eine gespenstische Stimmung. Aber die macht mir keine Angst. Etwas anderes hält mich wach, obwohl ich mich schon vor einer gefühlten Ewigkeit umgezogen und ins Bett gelegt habe.
Warum ist Freddy so plötzlich verschwunden? In dem einen Moment hat er noch mit strahlenden Augen über Musik geredet und im nächsten Augenblick drehte er sich um und ging.
Ich sollte das nicht denken, aber mich lässt der Gedanke nicht los, dass er wegen mir gegangen ist. War der Anruf vielleicht nur Fake? Habe ich zu viel geredet? War ich zu aufdringlich? Nach meinen Erfahrungen aus den letzten beiden Wochen würde es mich nicht wundern, wenn auch Freddy nichts mit mir zu tun haben will.
Sven tippt sich lässig mit zwei Fingern gegen die Stirn, als ich meine Gitarre schultere und den Laden durchquere.
„Viel Spaß bei der Probe, bis morgen.“
Ich verabschiede mich mit der gleichen Geste von meinem Ausbilder und Chef und laufe die paar Meter zur U-Bahn-Haltestelle. Während der Fahrt zum Jugendzentrum kann ich nicht aufhören zu grinsen. Ich habe so ein verdammtes Glück, in Svens Laden meine Ausbildung machen zu können. Er ist cool, weiß unheimlich viel, und, was das Beste ist: Die Donnerstage organisiert er mit mir so, dass nachmittags alles erledigt ist und ich rechtzeitig zur Bandprobe aufbrechen kann. Dafür bin ich freitags immer eher da. Das ist unser Deal, der bislang super klappt.
Keep on fighting, you’ll fly high. Wie ein Mantra singe ich in Gedanken die Worte mit, die Escape mir durch die Kopfhörer ins Ohr spült. Im Rhythmus der Musik trete ich in die Pedale, schaue zu, wie die Straße unter mir hinweggleitet, die mich weiter weg von der Schule bringt. Run ist in den letzten Tagen zu meinem Lieblingssong geworden. Ich wünschte bloß, ich könnte ihn allein wegen des coolen Beats genießen. Aber heute kann ich die Gedanken an die Schule noch weniger ausblenden als sonst. Wahrscheinlich wäre es gesünder, dem Ganzen keine Beachtung zu schenken.
Der kräftige Geruch von Salzkartoffeln schlägt mir entgegen, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe und sogleich meldet sich mein Magen. Die Mittagspause ist schon viel zu lang her und im Laden bin ich heute die ganze Zeit hin und her gerannt. Es hat Spaß gemacht, die neue Instrumentenlieferung entgegenzunehmen, einzupflegen und zu verräumen. Aber ich bin trotzdem ganz schön geschafft, und umso dankbarer, dass Finn schon gekocht hat.
Mein kleiner Bruder steckt den Kopf aus der Küchentür und winkt mir kurz zu, einen grün verfärbten Holzlöffel in der Hand. Aha, es gibt also Spinat zu den Kartoffeln. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, während ich meinen Rucksack abstelle und drei Teller aus dem Küchenschrank nehme.
„Wo ist Mama?“
„Sollen wir uns gleich noch zur Planung in der Cafeteria treffen?“
Meine Frage wird vom Pausengong und Melanies Augenrollen begleitet. Auch Oksana und Kilian machen sich nicht die Mühe mir zu antworten, sondern stopfen ihre Hefter in ihre Taschen. Lediglich Lili nickt kurz, wirkt aber ebenfalls desinteressiert.
„Okay, nach der sechsten.“ Sagt es und verlässt hinter Melanie den Klassenraum.
Ich schaue ihnen nach, ehe ich meine eigenen Sachen zusammenpacke. War das jetzt eine konkrete Zusage von Lili? Sind die anderen auch dabei? Warum hat sich niemand bemüht, mir eine Antwort zu geben?