Kapitel 3 - Wie lang noch?

Freddy

Der kräftige Geruch von Salzkartoffeln schlägt mir entgegen, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe und sogleich meldet sich mein Magen. Die Mittagspause ist schon viel zu lang her und im Laden bin ich heute die ganze Zeit hin und her gerannt. Es hat Spaß gemacht, die neue Instrumentenlieferung entgegenzunehmen, einzupflegen und zu verräumen. Aber ich bin trotzdem ganz schön geschafft, und umso dankbarer, dass Finn schon gekocht hat.

Mein kleiner Bruder steckt den Kopf aus der Küchentür und winkt mir kurz zu, einen grün verfärbten Holzlöffel in der Hand. Aha, es gibt also Spinat zu den Kartoffeln. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, während ich meinen Rucksack abstelle und drei Teller aus dem Küchenschrank nehme.

 

„Wo ist Mama?“

„Hier“, ruft sie aus dem Badezimmer und steht kurz darauf mit einem Wäschekorb im Türrahmen. „Hallo Freddy, wie war dein Tag?“

„Anstrengend, aber gut. Und deiner?“

Mama nickt kurz. „Okay, nichts Besonderes.“

Sie geht mit der Wäsche ins Wohnzimmer, ich schaue Finn fragend an, der gekonnt ein paar Eier in die Pfanne schlägt.

„Und wie lief’s in der Schule?“

„Ganz gut, ich glaub, ich hab sogar Physik gecheckt.“

„Cool, was …“

Ein Aufschrei dringt aus dem Wohnzimmer und ich schaffe es gerade noch, die Teller über die Küchenarbeitsfläche zu halten, ehe sie mir aus der Hand gleiten. Mit wenigen Schritten bin ich im Wohnzimmer, wo Mama sich auf den Wäscheständer stützt. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Ich nehme sie vorsichtig am Arm, spüre die Spannung ihrer Muskeln durch ihre Strickjacke. Sie zieht scharf die Luft ein, als ich ihre Hände vom Wäscheständer löse und sie zum Sofa führe, wo sie sich mit einem Stöhnen in die Kissen fallen lässt. Ihre Augen schwimmen in Tränen.

Ich schlucke.

 

Nach all den Jahren sollte ich mich an diesen Anblick gewöhnt haben.

 

Aber er macht mich noch immer fertig. Wenn es helfen würde, würde ich zusammen mit Mama heulen.

„Soll ich dir deine Tabletten bringen?“, frage ich stattdessen. Purer Aktionismus, in der Hoffnung, dass die Schmerzmittel ihr wenigstens für den Moment Linderung verschaffen.

Mama schließt die Augen und kneift die Lippen zusammen. „Noch nicht. Es geht bestimmt gleich wieder.“

Wie kann sie immer noch daran glauben? Oder will sie stark sein? Für Finn und für mich? Sie weiß doch, dass sie das nicht muss. Ich sehe sie zweifelnd an, beobachte, wie sich ihr Brustkorb erst noch ruckartig, schließlich langsamer hebt und senkt, ihre Gesichtszüge sich langsam wieder etwas entspannen. Ich breite die Wolldecke über ihren Beinen aus und widme mich dann der Wäsche. Zwei T-Shirts hat Mama aufzuhängen geschafft, ehe die Schmerzattacke sie überrollt hat. Den Rest hänge ich rasch, und zugegebenermaßen nicht unbedingt ordentlich auf.

Finn kommt mit dem Geschirr und Besteck ins Wohnzimmer und deckt den Tisch. Auf seinem Gesicht liegt der gleiche Schatten, den ich auch auf mir spüre, und seine Augen blicken mich dunkel an.

 

Er braucht es nicht aussprechen, wir verstehen uns so.

 

Scheiße, warum können wir nicht einfach rumblödeln und uns darüber streiten, wer den Abwasch macht? Oder über Lehrer ablästern, die nerven. Stattdessen schwebt über allem die Frage, wie lang das noch gut geht. Wie lang hält Mama noch aus? Wann geht es nicht mehr? Und wenn es soweit ist …

Sobald mein Gedankenkarussell an dieser Frage angelangt, zwinge ich es regelmäßig zum Anhalten. Darin bin ich inzwischen Profi. Diese Frage darf nicht zur Debatte stehen. Mama schafft das. Ich schaffe das! Ich muss.

Finn stellt Kartoffeln, Spinat und Rührei auf den Tisch, füllt einen Teller und bringt ihn Mama zum Sofa.

„Hast du deine Hausaufgaben fertig?“, frage ich ein paar Minuten später, weil mir die bedrückende Stille zwischen uns mit jeder Sekunde unerträglicher wird.

„Fast. Muss nur noch Englisch machen.“

„Kommst du klar?“

„Save“, erwidert er und grinst schief.

Für einen kurzen Moment bringt er mich zum Grinsen. Wie schafft er das nur? Dass da trotz allem immer noch eine Spur Unbeschwertheit in ihm ist? Etwas, das das Kind durchblitzen lässt, das er eigentlich noch sein sollte.

 

Der kleine Bruder, für den ich alles tun würde.

 

„Hast du morgen wieder Bandprobe?“, fragt er und reißt mich aus meinen Gedanken.

Die Band. Unsere Musik. Das alles scheint so wahnsinnig weit weg, wenn ich mich hier in unserer kleinen Wohnung umsehe. Es scheint nicht wichtig. Aber es ist verdammt wichtig. Die Musik ist mein Lebenselixier, das mich all den Scheiß durchstehen lässt.

„Klar, wie jeden Donnerstag. Willst du mitkommen?“

Finn war schon ein paar Mal bei den Proben dabei und hat uns zugehört, obwohl er sonst ganz andere Musik in seiner Playlist hat. Seine Kritik bedeutet mir viel. Jetzt stimmt er jedoch nicht sofort zu wie sonst, wenn ich ihn frage. Er wirft einen bedeutungsschwangeren Blick Richtung Sofa. Die Atempause, die mir die Gedanken an die Band verschafft haben, ist mit einem Schlag wieder vorbei. Wenn es Mama morgen nicht besser geht, kann ich die Probe knicken.

„Mal gucken, was geht“, sage ich, mehr zu mir als zu Finn.

Ich schicke ihn an den Schreibtisch, damit er seine Hausaufgaben fertig macht, und kümmere mich selbst um den Abwasch. Anschließend schnipple ich das Gemüse für das Abendessen morgen, lege die Wäsche zusammen, die seit zwei Tagen auf dem Stuhl liegt und putze durch unser winziges Bad.

 

Mama hat nichts dazu gesagt, ein Zeichen dafür, wie beschissen es ihr wirklich geht.

 

Aber wenn sogar mir schon die Staubflusen auf der Ablageflächen und in den Ecken auffallen, ist diese Putzaktion dringend überfällig.

Als ich mit der Hausarbeit endlich fertig bin, ist es schon wieder kurz vor zehn. Mit meinem Rucksack setze ich mich noch einmal an den Tisch und kritzle ein paar Notizen in mein Ausbildungsnachweisheft. Das, was mir auf die Schnelle noch einfällt. Schön geht echt anders, und ich kann Sven schon mit den Augen rollen sehen. Aber mir fehlt die Energie, die Arbeitsabläufe, die ich heute absolviert habe, in Schönschrift zu Papier zu bringen. Hauptsache ist doch, dass ich mich später noch daran erinnern kann. Ich schlage das Heft zu, stopfe es zurück in den Rucksack und setze mich neben Mama auf die Sofakante.

„Möchtest du noch einen Tee trinken?“

Sie schüttelt den Kopf und nimmt meine Hand. „Danke, Freddy. Du machst so viel, ihr beide. Ich bin so stolz auf euch.“

Ihre Stimme ist nur ein Flüstern und zittert merklich. Ich hasse diese Gespräche. Natürlich tut es gut zu hören, dass sie stolz auf Finn und mich ist. Welches Kind hört das nicht gern? Aber ich wünschte, sie wäre stolz auf Finns Erfolge beim Basketball, auf meine Songs. Ist sie auch, das weiß ich.

 

Warum können wir nicht darüber sprechen?

 

Wieso sind es immer Mamas Schmerzen, die jedes normale Gespräch im Keim erstickt?

Ich antworte nicht, was soll ich auch großartig sagen, helfe ihr beim Aufstehen und Umziehen. Für mich ist es inzwischen so normal wie selbstverständlich. Mama braucht nicht jeden Tag meine Hilfe bei diesen Dingen, aber sie schämt sich jedes Mal. Sie sieht mir nicht in die Augen, als ich ihr die Strickjacke abnehme, das T-Shirt über den Kopf ziehe und den BH für sie öffne. Ich schiebe die Gedanken weg, dass mancher meiner Klassenkameraden in der Berufsschule darüber wohl obszöne Witze reißen würde. Doch einen Gedanken kann ich nicht vertreiben. Er setzt sich fest, während ich im Spiegel des Kleiderschranks Mamas Mundwinkel zucken sehe. Ich hasse es, dass sie sich schämt. Meine Hilfe sollte ihr nicht peinlich sein. Trotzdem beeile ich mich, um meine Mutter nicht unnötig lange der für sie unangenehmen Situation auszusetzen.

„Gute Nacht“, sage ich leise, als ich die Zimmertür hinter mir schließe.

„Gute Nacht“, sage ich auch einige Minuten später zu Finn, der in unserem gemeinsamen Zimmer schon im Hochbett liegt und liest.

„Nacht“, antwortet er und knipst kurz darauf das Licht aus.

Ich starre im Dunklen an die Unterseite von Finns Bett und schaffe es nicht, das Gedankenkarussell zu stoppen.

 

Wie soll es weitergehen?

 

Mama war die letzten Tage schon nicht gut drauf, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Schub kommt. Was, wenn sie gar nicht mehr arbeiten kann? Mit ihrem Gehalt und der Rente, die sie bekommt, ist es jetzt schon immer eng. Und das, obwohl ich beinahe mein gesamtes Ausbildungsgehalt beisteuere. Ich verschränke die Arme hinterm Kopf und kneife die Augen fest zu. Ich darf diese Fragen nicht zulassen, nicht, wenn ich keine Antworten darauf habe. Aber wir stecken schon zu lang in dieser Situation. Die Fragen lassen sich in der Dunkelheit, wo es keine Ablenkung mehr gibt, nicht mehr abschütteln.

Denk an was Schönes! Meine Musik, die Band, Konzerte. Mein Traum. Ohne ihn wäre ich längst vor die Hunde gegangen. Ohne die Musik wäre mir schon längst die Kraft ausgegangen. Doch ob ich diesen Traum jemals verwirklichen kann? Ich könnte Mama und Finn niemals im Stich lassen – und die Alternative … Nein, es gibt keine Alternative!

Ich werfe mich herum, presse mein Gesicht ins Kissen und warte, dass mein panisch schlagendes Herz sich wieder beruhigt. Mein Kopf wird schwerer, die Gedanken lassen sich nur noch schwer fassen, gleich bin ich eingeschlafen …

Ein Stöhnen dringt an mein Ohr und ich bin sofort wieder hellwach.

 

Ich fluche leise, setze mich auf, lausche in die Dunkelheit.

 

Das Stöhnen erklingt erneut. Unterdrückt, aber doch deutlich. Leise stehe ich auf, um Finn nicht zu wecken, und schleiche aus dem Zimmer.

Ich muss das Licht im Schlafzimmer meiner Mutter nicht anknipsen. Zu oft bin ich den Weg von der Tür zum Bett in den letzten Jahren gelaufen, als dass ich ihn nicht blind und im Schlaf könnte. Erst als ich auf der Bettkante sitze, taste ich dennoch nach der Nachttischlampe.

Mamas Gesicht ist zu einer schmerzhaften Grimasse verzerrt, ihre Augen flackern und auf ihrer Stirn glitzern Schweißperlen.

Ohne ein weiters Wort springe ich auf und hole das Notfallmedikament aus dem Küchenschrank. Nachdem ich ihr die Tropfen auf einem Löffel gegeben habe, dauert es noch einige Minuten, ehe die Wirkung einsetzt. Aber schließlich entspannen sich ihre Züge und Mama atmet wieder ruhiger. Ich streiche ihr eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn.

„Geht’s besser?“

Sie nickt erschöpft, ihre Lippen formen ein unhörbares „Danke“.

Wie immer warte ich, bis sie eingeschlafen ist und sehe dabei der Digitalanzeige auf ihrem Wecker zu. 00:57 Uhr. 01:12 Uhr.  14. September.

 

Das Datum leuchtet klein und rot in der oberen linken Ecke.

 

Heiße Panik steigt in mir auf. In weniger als zwei Wochen muss ich nach Bayern zur Berufsschule. Von Hamburg aus gesehen ist es am Arsch der Welt und definitiv zu weit weg, um in den fünf Wochen fürs Wochenende nach Hause zu kommen. Kann ich überhaupt fahren, wenn es Mama so beschissen geht? Ich kann Finn unmöglich mit ihr allein lassen. Aber wenn ich nicht fahre, riskiere ich meine Stelle. Fuck! Es muss Mama morgen wieder besser gehen. Es muss. Die Uhr springt auf 01:27. Mamas Atemzüge gehen ruhig und gleichmäßig, während mein Puls noch immer rast.

Ich lösche das Licht und kehre in mein Bett zurück, kann aber selbst keinen Schlaf finden. Stattdessen zähle ich die Minuten, die mir noch bleiben, bis mein Wecker klingelt.

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