Kapitel 42 - Halbes Leid, doppelte Freude

Judith

„Oh, Entschuldigung“, sage ich erschrocken, als ich die Tür zum Badezimmer öffne und meine Schwester überrasche, die sich gerade die Schlafanzughose hochzieht.

„Schon gut, bin eh fertig“, sagt sie und betätigt die Klospülung.

Ruth und ich schämen uns nicht voreinander, dafür haben wir viel zu lang ein Zimmer, das Badewasser und überhaupt alles geteilt, trotzdem tut es mir leid, dass ich ihre Privatsphäre gestört habe. Um diese Zeit habe ich allerdings nicht damit gerechnet, jemanden aus meiner Familie im Bad anzutreffen. Es ist bereits kurz vor Mitternacht und meine Eltern und Elias sind schon in ihren Betten.

„Wo kommst du so spät noch her?“, fragt Ruth, während sie sich die Hände wäscht und ich meine Zahnbürste aus dem Schrank nehme. „Mama hat sich gewundert, dass du zum Abendessen nicht da warst.“

Mist, ich hätte Bescheid sagen sollen.

 

„Ich war bei Freddy.“

 

„Das habe ich auch einfach gesagt“, sagt meine Schwester grinsend, wird dann jedoch schlagartig ernst. „Du klingst nicht so begeistert. Ist was passiert?“

 

Ich halte die Zahnbürste, auf die ich eben einen Klecks Zahnpasta gedrückt habe, in der Hand und starre auf die blauen Streifen im Weiß. Vor einer guten halben Stunde habe ich noch überlegt, ob ich wirklich nach Hause fahren soll. Aber nachdem Freddy sich ohne ein Wort in sein Zimmer verzogen hat und nicht zurückgekommen ist, war mir die Lust vergangen, mich auf dem Sofa auszustrecken und zu warten. Soll er doch machen, was er will. Blödmann.

 

„Der ist so bescheuert“, sage ich und gebe ein Geräusch von mir, von dem ich selbst nicht weiß, ob es ein Weinen oder ein Lachen ist.

 

Ruth nimmt mir die Zahnbürste aus der Hand, zieht mich neben sich auf die Badewannenkante und legt ihren Arm um meine Schulter. Ich tu es ihr nach und muss lächeln. Das haben wir früher schon oft gemacht. Damals war es ein Spiel. Wir saßen mit unseren kleinen Pos auf der schmalen Kante und durften uns nur aneinander festhalten, während wir versuchten, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mama und Papa haben immer mit uns geschimpft, wenn sie es gesehen haben. Sie fürchteten, dass wir hintenüberfallen und uns die Köpfe aufschlagen würden, aber es ging immer gut. Und auch wenn unsere Beine längst lang genug sind, um uns auf dem Fußboden abzustützen, ist es trotzdem meine Schwester, die mir jetzt Halt gibt. Ich bin froh, dass sie da ist.

 

Leise erzähle ich ihr von Freddys Schweigen, von meinem Besuch bei seiner Mutter und dem, was Johnny und ich bei Freddy zuhause erfahren haben.

 

„Er kümmert sich einfach um gar nichts mehr und benimmt sich wie ein Arsch.“

 

„Das ist echt mies.“ Mit sanften Bewegungen streichelt Ruth meinen Oberarm. Dann streckt sie den Rücken durch und der Druck an meinem arm wird fester. „Dem werde ich morgen was erzählen nach dem Konzert.“

Ihre Miene ist finster und entschlossen, was in Kombination mit ihrem Minion-Schlafanzug trotz allem ziemlich niedlich aussieht, sodass ich mir ein Lachen verkneifen muss.

 

„Du wolltest zum Konzert?“, frage ich sie überrascht.

 

„Klar, du nicht?“

 

Ich zucke mit den Schultern. Vermutlich hätte ich mir das Konzert dick in den Kalender geschrieben und wäre hingegangen – wenn Freddy mir nicht schon längst von seinen Plänen berichtet hätte. Aber von denen weiß ja außer mir immer noch niemand.

„Freddy will aussteigen“, sage ich, weil ich es nicht mehr länger mit mir herumtragen kann. Ruth wird es nicht herumposaunen.

 

Vor Überraschung verliert sie allerdings das Gleichgewicht und fällt nun doch beinahe rücklings in die Badewanne. Ich halte sie fest.

 

„Hat der einen Knall?“, ruft sie, senkt aber gleich wieder ihre Stimme. „Heißt das, er spielt morgen nicht?“

 

Wieder zucke ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Johnny hat gesagt, er würde ihn morgen abholen und Freddy hat nur genickt und okay geantwortet.“

 

„Hm.“ Ruth legt die Stirn in Falten und zieht eine Schnute, ein Zeichen dafür, dass sie unzufrieden ist.

 

„Ich weiß nicht mehr, was in ihm vorgeht und was ich noch tun soll.“

 

„Soll ich heute Nacht bei dir schlafen?“

 

Ruths Frage versetzt mir kurz einen Stich, sind es doch die gleichen Worte, die ich eben an Freddy gerichtet habe. Aber dann nicke ich dankbar.

 

„Das wäre schön.“

 

Und so liege ich zehn Minuten später in meinem Bett in den Armen meiner Schwester, froh darüber, nicht allein zu sein. Dennoch schleicht sich eine Spur schlechten Gewissens in mein Denken, dass Freddy sich vielleicht nach genau dieser Nähe sehnt, obwohl er es nicht ausdrücken konnte.

 

Den ganzen Samstagvormittag über höre ich nichts von Freddy. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber offenbar hatte ich noch die Hoffnung, dass er über Nacht einsehen würde, wie dämlich er sich verhalten hat. Ob es in seinen Ohren immer noch pfeift? Wie konnte er nur so bescheuert sein, sich vor dem eigenen Auftritt ein Metal-Konzert zu geben?

 

Zum tausendsten Mal nehme ich mein Handy und beginne, eine Nachricht an Freddy zu schreiben, lösche den Text dann aber Buchstabe für Buchstabe und stecke das Gerät mit einem Seufzen zurück in die Tasche. Warum soll ich mich melden?

 

Ich bin ihm wirklich lang genug hinterhergelaufen.

 

„Eben! Und deshalb vergisst du Freddy mit seinen Rockstar-Allüren für einen Moment und hilfst mir beim Backen“, bestimmt Ruth und schleift mich in die Küche.

 

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist? Am Ende ist der Kuchen versalzen.“

 

„Das Risiko gehe ich ein“, erwidert meine Schwester, stellt den Salztopf aber trotzdem außer Reichweite. Ruth hat ein neues Rezept für Zimtschnecken herausgesucht und kümmert sich mit Hingabe um den Hefeteig, während ich Butter, Zucker und Zimt zu einer geschmeidigen Creme verrühre.

 

„Hast du eigentlich schon etwas vom Auswahl-Wochenende gehört?“

 

Die Gabel fällt mir aus der Hand und landet scheppernd auf dem Küchenboden, wobei sie ein paar Spritzer Zimtzuckercreme auf den Fließen verteilt. Die Mail. Ich habe sie komplett verdrängt. Ich habe gestern eine Zusage für Panama bekommen! Mit einem Mal schlägt mein Herz einen Purzelbaum und hüpft wie verrückt in meiner Brust. Vorsichtig bücke ich mich nach der Gabel und lege sie in die Spüle. Dann drehe ich mich zu meiner Schwester um.

 

„Ich hab einen Platz für Panama“, sage ich leise, weil ich es in diesem Moment nicht fassen kann. In weniger als einem halben Jahr darf ich ein FSJ in Südamerika beginnen. Das ist …

 

„Wow, Judith, wie geil!“ Ruth lässt die Teigschüssel stehen und fällt mir um den Hals, um gleich darauf auf und ab zu hüpfen, so wie mein Herz. Weil sie sich noch immer an mir festhält, bleibt mir nichts anders übrig als mitzuhüpfen. Und als würde ich damit einen Damm einreißen, ist sie plötzlich da; übersprudelnde Freude. Es kribbelt im ganzen Körper, Schmetterlinge flattern wild in meinem Magen durcheinander und mein Herz schlägt so schnell, dass es mir jeden Moment aus dem Mund springen müsste.

 

„Seit wann weißt du es?“, fragt Ruth atemlos.

 

„Gestern Nachmittag kam die Mail.“

 

Sie bleibt abrupt stehen. „Und du hast nichts gesagt?“

 

„Ich hab’s über den Stress gestern vergessen.“

 

Ruth rollt mit den Augen. „Oh Mann, du bist echt voll von der Rolle. Dabei ist das doch ein Grund zu feiern!“ Sie schnappt sich ihr Handy und tippt wie wild drauflos.

Kurz darauf vibriert es in meiner Tasche und ich schaue auf mein Smartphone. Eine neue Nachricht in unserer Familiengruppe von Ruth.

 

15 Uhr Zimtschnecken für alle. Gibt was zu feiern.

 

In den nächsten zwanzig Minuten trudeln Nachrichten von unseren Brüdern und unserem Vater ein, die neugierig fragen, was es denn zu feiern gäbe. Unsere Mutter kommt in die Küche und sieht auf die Zimtschnecken im Ofen.

 

„Mmh, die sehen und riechen jetzt schon richtig gut“, sagt sie. „Was feiern wir?“

 

Ruth grinst mich verschwörerisch an und schenkt unserer Mutter einen mitleidigen Blick. „Nice try.“

 

Mama zieht eine Schnute und verlässt die Küche wieder.

 

Kurz vor 15 Uhr ist unsere gesamte Familie um den Küchentisch versammelt,

 

wobei ich mich frage, ob das an dem geheimnisvollen Feiergrund liegt, den Ruth angekündigt hat, oder eher an den versprochenen Zimtschnecken, die verführerisch duften. Ruth und ich haben auf jedem Teller eine Zimtschnecke drapiert, die übrigen liegen auf einem Tablett in der Tischmitte. Elias stürzt sofort auf seinen Platz zu und greift nach dem Gebäck.

 

„Halt!“, ruft meine Schwester. „Dazu gibt es eine spezielle Choreografie.“

 

Samuel stöhnt. „Also, wenn ich tanzen muss, dann verzichte ich lieber auf den Kuchen.“

 

„Du musst nicht tanzen“, versichere ich ihm, und mein Bruder setzt sich auf seinen Stuhl.

 

Sobald wir alle sitzen erklärt Ruth, was sie sich ausgedacht hat, denn natürlich war das, was nun folgen wird, ihre Idee. Nacheinander sollen meine Eltern und Geschwister die Zimtschnecke auf ihren Tellern hochheben. Samuel muss den Anfang machen.

Die gerunzelte Stirn meines Bruders verrät deutlich, dass er das Spiel für albern hält, aber er macht mit. Er hebt die Zimtschnecke hoch und blick verwundert auf den Zettel, der darunter auf dem Teller klebt.

 

„Oh“, liest er vor.

 

Ruth ist als nächste dran. Unter ihrer Zimtschnecke verbirgt sich das Wort wie.

Verdutzt schauen meine Familienmitglieder sich an. Als Mama unter ihrem Gebäck allerdings das Wort schön aufdeckt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Papa liest gleich im Anschluss „ist“ von seinem Zettel vor, und in das „Panama“, das Elias herausruft, fallen alle mit ein.

 

„Du hast eine Zusage?“, fragt Mama mit Freudentränen in den Augen.

 

Ich nicke, und als meine Familie in Jubel ausbricht, wild durcheinanderredet, und meine Mutter mich über Elias hinweg in den Arm nimmt, sprudelt das Glück wieder in mir hoch. Meine Geschwister und Eltern freuen sich, umarmen mich, lachen, weinen ein bisschen, und ich bin mittendrin. Der Grund für ihre Freude, die nun sechsfach potenziert durch unsere Küche schwebt.

 

Die Euphorie rauscht noch immer durch meinen Körper,

 

als ich am Abend mit Ruth vor dem Alsterkeller ankomme, wo schon einige Escape-Fans in der Schlange stehen und auf Einlass warten. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich kein Ticket habe. Für die letzten Auftritte von Escape brauchte ich keins, deshalb habe ich mir im Vorfeld keine Gedanken darüber gemacht. Auch jetzt schiebe ich sie weg. Es sind noch fünf Meter bis zum Eingang, entweder gibt es noch Tickets an der Abendkasse – oder halt nicht. Die Freude über den Nachmittag mit meiner Familie stellt alle Sorgen in den Schatten. Nichts wird mir heute mehr die Laune verderben, bin ich sicher und singe mit, als ein paar Leute vor uns Run anstimmen.

 

Ruth zahlt unsere Tickets und wir betreten den Club. Musik in angenehmer Lautstärke dringt aus den Lautsprechern und die Leute um uns herum sind guter Stimmung. Ich gehe zur Bar, um Getränke für meine Schwester und mich zu besorgen und erwische mich dabei, wie ich unwillkürlich Ausschau nach Freddy halte, aber niemand aus der Band ist zu sehen. Geht es Freddy gut? Ist er wieder fit?

 

Vorn am Bühnenrand stehen zwei Mikros, es sieht also so aus, als würde Freddy gleich singen. Sollte ich ihm noch einmal schreiben und viel Erfolg wünschen?

Ich habe mein Handy schon in der Hand, da reicht mir das Mädchen hinter dem Tresen die Getränke und ich stecke es wieder weg. Freddy packt das auch ohne eine Nachricht von mir.

 

Um kurz nach acht, gehen die Hauptlichter aus und die Scheinwerfer auf der Bühne an. Applaus brandet auf und mir fällt ein Stein vom Herzen, als ich Freddy hinter Ben auf die Bühne kommen sehe, gemeinsam mit Johnny, Kris und Joshie. Er ist dabei.

 

„Toll, dass ihr heute Abend hier seid! Wir sind Escape. Lasst uns gemeinsam ausbrechen.“

 

Die Leute um mich herum klatschen begeistert, während Joshie den Takt für den ersten Song vorgibt. Ich jedoch sehe skeptisch von Ben zu Freddy und wieder zurück.

Die meisten hier wird es vielleicht nicht verwundern, dass Ben das Publikum begrüßt hat, mich schon. Das war sonst immer Freddys Ding. Statt Freddy singt Kristina die zweite Stimme beim ersten Song. Sie macht das toll, es klingt wunderschön, aber ich sehe Bens gezwungenes Lächeln, und meine Euphorie bekommt nun doch einen Riss.

 

Freddy … Er steht auf der Bühne wie ein Roboter.

 

Keine Emotion, nichts von der Freude, die er normalerweise ausstrahlt, wenn er singt. Vielleicht ist es das: Er singt gar nicht. Er bewegt seine Lippen vor dem Mikro, aber als ich genauer hinsehe, bemerke ich, dass die Bewegungen nicht zu dem Text passen. Weder beim ersten, noch beim zweiten oder dritten Song.

 

„Danke schön“, ruft Ben in den Applaus nach dem dritten Lied. Ein paar Reihen hinter Ruth und mir singt jemand Girl in the Crowd und Ben lacht, wenn auch immer noch gezwungen. Ich weiß, dass sein ehrliches Lachen anders klingt.

 

„Cool, woher habt ihr gewusst, was als nächstes kommt?“, fragt Ben.

 

Immer wieder Ben. Als ob Freddy nur Statist auf der Bühne wäre. Allerdings tut er auch nichts, um diesen Eindruck zu widerlegen. Die Leute klatschen trotzdem und jubeln, als Ben den Song ankündigt.

 

„Freddy hat heute einen Frosch im Hals“, erzählt Ben, wohl bemüht um einen lustigen Tonfall. Ein paar Leute lachen, andere geben ein bedauerndes Ooohh von sich. „Aber für euren Lieblingssong gibt er alles, oder Freddy?“

 

„Klar.“

 

Scheiße. Es braucht nur dieses eine Wort, das Freddy ins Mikro murmelt, und mir ist klar, dass das nicht gut wird. Er klingt wie ein Reibeisen. Das ganze Ausmaß der Katastrophe erahne ich ein paar Sekunden später. Man muss kein großes Musikgenie sein, um zu merken, dass Freddy völlig neben der Spur ist. Im wahrsten Sinne des Wortes. Er verhaspelt sich bei den Akkorden, singt mit kratziger Stimme, nur leider neben dem Takt. Ich schlucke und möchte am liebsten im Boden versinken. Nicht vor Scham oder Angst, jemand könnte mich erkennen und auf Grund von Freddys grottiger Darbietung Rückschlüsse auf unsere Beziehung anstellen. Nein, ich wünschte, der Boden würde sich auftun und meine Verzweiflung verschlucken. Verzweiflung darüber, dass Freddy so schlecht spielt und es ihn noch nicht einmal zu stören scheint. Ruth neben mir vergräbt ihr Gesicht in der Hand, es fällt also nicht nur mir auf.

 

Nach der ersten Strophe schüttelt Freddy den Kopf, zieht das Mikro aus dem Stativ und hält es ins Publikum. Die meisten Menschen um mich herum verstehen den Wink und singen den Refrain im Chor.

 

A smile beyond all borders

Shy like the sun behind a cloud

I find my peace when I see

The girl in the crowd

 

Unter normalen Umständen wäre ich vielleicht gerührt, weil es eigentlich wunderschön klingt, diesen Song von so vielen Leuten gesungen zu hören. Aber ich stehe wie erstarrt, während mir kalte, unangenehme Schauer über den Rücken laufen. Ich wünschte, ich könnte lächeln. Aber es wäre egal. Denn Freddy steht da und sieht mich nicht. 

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