Kapitel 43 - Böses Erwachen

Freddy

Die Mate vor mir auf dem Tisch lacht mir höhnisch entgegen. Nur aus alter Gewohnheit habe ich nach meinem Standardgetränk gegriffen und ein paar große Schlucke getrunken. Ein Fehler, wie ich jetzt weiß, denn ich bin hellwach, obwohl ich nichts lieber würde als schlafen.

Das Konzert im Alsterkeller ist seit Stunden vorbei und ich kann nicht sagen, was ich seitdem gemacht habe. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal, was ich während des Konzerts gemacht habe. Verschwommene Bilder von der Bühne und Publikum kommen mir in den Kopf, aber ob das Erinnerungen von heute oder von irgendeinem anderen Gig sind – keine Ahnung. Ist vielleicht auch besser so. 

Ich glaube, eine musikalische Glanzleistung habe ich nicht abgeliefert. Meine Gitarren lehnen an der Wand, ich habe sie direkt nach dem Konzert eingepackt und bin nach Hause gefahren, ohne mit Johnny oder einem der anderen zu sprechen. Nicht, dass ich hätte reden können, meine Stimme ist immer noch im Arsch. Aber immerhin hat das Piepen im Ohr nachgelassen.

 

Ich strecke mich auf dem Sofa aus und vergrabe den Kopf in einem der Kissen.

 

Aber so fest ich die Augen auch zukneife, Schlaf kann ich nicht finden. Wieso habe ich mich auf das Konzert eingelassen, ich wollte doch gar nicht spielen? Ich hätte den anderen längst sagen müssen, dass ich aussteige. Jetzt werden sie mich rausschmeißen, und das tut mehr weh als mein ursprünglicher Plan. Und Judith? War sie beim Konzert? Verdammt, ich hätte ins Publikum schauen sollen. Ich hätte für sie singen müssen. Dieses letzte Mal.

 

Ich setze mich wieder auf, greife nach meinem Handy, das ich auf dem Sofatisch abgelegt habe. Vielleicht hat Judith geschrieben. Es wäre egal, was, nur eine Nachricht von ihr würde mir schon helfen, runterzukommen.

Aber der Chat von Judith und mir ist weit unten im Verlauf. Stattdessen leuchten mir Nachrichten aus dem Band-Chat und von Kris, Johnny, Ben und Joshie entgegen.

Ich öffne sie nicht, die Vorschauen sagen genug.

 

Was zur Hölle?

 

Alter, was sollte das?

 

Fuck off, Freddy, ehrlich.

 

Joshie hat nur ein paar Emojis geschickt. Einen weinenden und einen wütenden Smiley gefolgt von einer Trommel.

Die anderen scheinen ebenfalls noch wach zu sein, denn in diesem Moment zeigt die Vorschau des Band-Chats an, dass Kris irgendetwas schreibt. Ich will lieber nicht wissen, worüber sie reden, kann es mir auch so denken. Stattdessen scrolle ich runter, in der Hoffnung, doch noch eine Nachricht von Judith zu finden.

 

Nichts. Keine Nachricht seit drei Tagen, seit den hundert unbeantworteten Nachrichten, die sie mir in der letzten Woche geschrieben hat. Bleierne Schwere legt sich auf meinen Körper. Das Fiepen meldet sich leise in meinem Ohr zurück. Es klingt wie das Geräusch in Arztserien, wenn die Reanimationsversuche fehlgeschlagen sind.

 

Der leere Kühlschrank treibt mich zwei Tage später wieder aus der Wohnung.

 

So fremd sie mir ohne Finn und meine Mutter auch erscheint, ist sie doch das einzige Refugium, das ich noch habe. Ich fühle mich nicht wohl, aber ich bezweifle, dass ich das an irgendeinem anderen Ort von mir behaupten könnte. Ich fühle mich wie ein Astronaut, der im leeren Raum umherschwebt und den Anschluss zum Raumschiff verloren hat.

 

Der Briefkasten quillt über. Kein Wunder, ich habe ihn in den letzten Wochen genauso ignoriert wie mein Handy. Ich ziehe die unzähligen Werbebroschüren und Reklamezettel heraus, die trotz abweisendem Aufkleber trotzdem immer wieder den Weg in den Briefkasten finden, und will sie schon in die Papiertonne werfen, da rutscht ein Brief hervor. Ein Brief an mich adressiert.

 

Frederick Hermann. Es muss etwas Offizielles sein, niemand nennt mich sonst bei meinem vollen Namen. Allerdings trägt der Umschlag kein Logo der Krankenversicherung oder ähnlichem. Wer sonst sollte mir schreiben? Ich reiße mit dem Zeigefinger den Umschlag auf und ziehe das Schreiben heraus. Sobald ich den Absender oben rechts in der Ecke lese, wird mir heiß und kalt zugleich. Mein Herz scheint einen Schlag auszusetzen und schlägt dann wild weiter, während mein Blick verrauscht und ich plötzlich nicht mehr weiß, wie man atmet.

 

… sehen wir uns leider gezwungen, das Ausbildungsverhältnis mit sofortiger Wirkung zu beenden.

 

Der Satz breitet sich explosionsartig in meinem Hirn aus, hämmert gegen die Schädeldecke wie mit Bässen versehen. Sven hat mir gekündigt. Fristlos.

Die Werbebroschüren fallen mir aus den Händen, werden zu einem bunten Farbklecks zu meinen Füßen. Ein stechender Schmerz rast mir durch die Schulter, als ich gegen die Briefkästen taumle und die immer noch geöffnete Tür sich in mein Schulterblatt bohrt.

 

„Fehlt dir was, min Jung?“, fragt eine ältere Nachbarin, die mit ihre Einkaufswägelchen an mir vorbeikommt.

 

Mir fehlt alles. Meine Familie, meine Freunde, Judith – und jetzt auch noch meine Arbeit. Nichts ist mehr da. Der Astronaut hat nicht nur den Kontakt zum Raumschiff verloren, jetzt ist auch noch die Verbindung zum Sauerstoff gekappt. Wie lang wird es dauern, bis das Vakuum mich erdrückt?

 

„Hallo?“

 

Irritiert sehe ich die Nachbarin an. Ihre Hand ruht auf meinem Arm, trotzdem dauert es einen Augenblick, bis ich ihre Berührung, ihre Ansprache und ihren Blick mit mir in Verbindung bringe. Ich spüre ein Papier zwischen meinen Fingern und langsam klart sich mein Sichtfeld wieder. Die Schrift auf dem Papier wird deutlicher.

… sehen wir uns leider gezwungen, das Ausbildungsverhältnis mit sofortiger Wirkung zu beenden.

 

Scheiße. Scheiße. Scheiße.

 

Es ist kein Vakuum, das mich verschluckt. Stattdessen kickt mir die Realität ihr hartes Knie in die Magengrube. Kurz schnappe ich nach Luft, aber der Schock haut mich nicht mehr so um wie beim ersten Mal.

 

Nun bin ich hellwach.

 

Ich bin meinen Job los. Finn ist ausgezogen, meine Freunde sind sauer auf mich, und Judith will vermutlich auch nichts mehr von mir wissen. Ich bin echt am Arsch.

 

„Na, na, es gibt für jeden Mist eine Lösung“, sagt die alte Frau vor mir und klopft mir zweimal auf den Arm. Erst als sie spricht, wird mir klar, dass ich das Letzte nicht nur gedacht habe.

 

„Hm.“ Ich sehe keine einzige Lösung, nur eine Menge Mist.

 

„Ich sage nicht, dass es einfach ist. Aber es regelt sich“, sagt sie, und bevor ich noch weiter widersprechen kann, nimmt sie ihren Wagen und wackelt den Flur hinunter Richtung Aufzug.

 

Ich stehe noch immer vor den Briefkästen, lese wieder und wieder die Zeilen auf dem Schreiben, in der irren Hoffnung, der Text könne sich verändern, obwohl ich längst weiß, dass er das nicht tun wird. Der Appetit ist mir vergangen, auch wenn die Bilder in den Broschüren zu meinen Füßen sich alle Mühe geben, das zu ändern. Ich bücke mich, hebe die Papiere auf und bringe sie endlich in den Container. Dann gehe ich wieder nach oben zur Wohnung.

 

Auf der Türschwelle schlägt mir dicke, abgestandene Luft entgegen und ich mache erschrocken einen Schritt zurück. Wie habe ich in diesem Mief überhaupt atmen können? Ich atme im Hausflur einmal tief ein und durchquere anschließend die Wohnung und reiße alle Fenster auf. Als die kalte Februarluft hereinweht, ist mir, als sähe ich die Wohnung zum ersten Mal. Die alten Möbel, die wir schon haben, seit ich denken kann. In der letzten Zeit hat sich Staub darauf abgelegt, auf dem Sofatisch stehen benutzte Gläser und Mateflaschen, in der Küche liegen Teller und Besteck kreuz und quer auf den Ablageflächen. Erstaunlich, dass ich für meine letzte Mahlzeit überhaupt noch sauberes Besteck gefunden habe.

 

Es ist, als sähe ich die Wohnung eines anderen, aber ich bin es, der dieses Chaos veranstaltet hat. Schließlich hat niemand außer mir in den letzten Wochen hier gewohnt. Gehaust, sollte ich wohl besser sagen.

Ein Windstoß fährt ins Wohnzimmer und lässt die Gardine rascheln. Ich schließe die Fenster bis auf eine kleinen Spalt, drehe mich einmal um mich selbst – dann räume ich auf wie ich noch nie aufgeräumt habe. Ich spüle das Geschirr, wische den leeren Kühlschrank aus und putze über alle Ablagen, bis die Küche aussieht wie aus einem Katalog. Im Wohnzimmer staube ich sämtliche Regalflächen ab, sauge sogar die Sofaritzen aus. Ich konzentriere mich auf jede Bewegung, auf das Eintauchen des Putzlappens im Wasser, auf das Wandern der Flusen von rechts nach links, das Vor und Zurück des Staubsaugers.

 

Im Schlafzimmer meiner Mutter lege ich frische Bettwäsche bereit und ziehe die alten Laken ab. Der vertraute Geruch steigt mir in die Nase und mit der Konzentration auf die reine Arbeit ist es vorbei. Die Sehnsucht nach meiner Familie, nach Menschen, die ich liebe, zerreißt mich. Sie schnürt mir die Luft ab, brennt auf meiner Haut und lässt mich zittern, so sehr, dass ich Mamas Kissen fallen lasse. Es fällt auf den Boden vor das Bett, aber ich kann nichts anderes tun, als darauf zu schauen. Meine Mutter muss wahnsinnig enttäuscht von mir sein. Seit Jahren kämpft sie gegen immer stärkere Schmerzen, nun gegen den Krebs, und ich habe mich seit zwei Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet, die Arbeit geschwänzt, und jetzt auch die Berufsschule. Wie soll ich ihr das beibringen?

 

Ich habe nicht nur meine Ausbildung verloren, es wird auch ein nicht unerheblicher Teil unseres Einkommens wegfallen. Das Krankengeld, das die Versicherung meiner Mutter nun zahlt, wird vorne und hinten nicht reichen. Ich bücke mich nach dem Kissen, will es wütend von mir schleudern, stattdessen sinke ich damit auf die Matratze und bringe nicht mehr als ein heiseres „Scheiße“ hervor. Ich kann Mama so nicht unter die Augen treten. Nicht, ehe ich alles wieder in Ordnung gebracht habe.

Nur wie? Eine Stunde später, nachdem die Wohnung aus allen Winkeln glänzt, bin ich der Antwort noch keinen Schritt nähergekommen. Das zwischenmenschliche Chaos, das ich angerichtet habe, kann ich nicht einfach mit Seifenwasser und Staubsauger beseitigen.

 

Ich sage nicht, dass es einfach ist.

 

Ich weiß nicht einmal, wie unsere Nachbarin heißt, aber sie hat verdammt recht. Es ist fucking schwer und ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Die wütenden Chatnachrichten meiner Bandkollegen und die ausgebliebenen Nachrichten von Judith sind dabei nicht gerade ermutigend, und am liebsten würde ich das Handy gleich wieder ausschalten und weglegen.

Die Kündigung von Sven hat mir jedoch gezeigt, dass es nicht so weitergehen kann wie in den letzten zwei Wochen. Ich muss etwas tun.

 

Schließlich tippe ich den Chatverlauf von Johnny und mir an. Seine letzte Nachricht war noch die freundlichste von allen. Ich tippe eine Nachricht, lösche sie aber sofort wieder. Stattdessen schließe ich die App und rufe Johnny an.

 

Es klingelt unendlich lang. Viermal. Möglich, dass er arbeiten ist und nicht ans Handy gehen kann. Fünfmal. Vielleicht hat er auch keinen Bock mehr und ignoriert mich. Sechsmal. Es war eine Scheißidee, anzurufen, ich sollte auflegen. Siebenmal.

 

„Freddy?“ Johnny klingt als hätte er eher mit einem Anruf des Weihnachtsmanns gerechnet als von mir. Ich kann es ihm kaum verübeln.

 

„Hi, Johnny.“ Ein Zentner Steine fällt mir von der Seele, dass Johnny meinen Anruf beantwortet hat, gleichzeitig rast mein Herz wie wild, weil ich nicht weiß, wie es jetzt weitergehen soll.

 

„Was gibt’s?“ Die Überraschung in seiner Stimme ist Skepsis gewichen, und die Steine, die eben gefallen sind, rollen wieder auf mich zu.

 

„Können wir reden?“

 

„Auf einmal?“

 

Es ist, als würde seine Antwort mich noch einige Zentimeter tiefer in die frischgeputzten Sofakissen drücken. Vielleicht war es eine blöde Idee, Johnny anzurufen. Er hat jedes Recht sauer zu sein, und ich sollte mich damit abfinden, dass ich es verkackt habe. Aber verdammt, er ist mein bester Freund. Oder war es zumindest.

 

„Bitte“, sage ich deshalb.

 

„Ich hab Alex versprochen, im Materiallager aufzuräumen. Du kannst mir helfen.“

Ich fahre mir mit der Hand über Augen, Nase und Mund, verstecke so ein erleichtertes Seufzen. Dass Johnny mir anbietet, ihm zu helfen, ist ein größerer Schritt in meine Richtung als ich zu hoffen gewagt habe.

„Okay, ich bin gleich da.“

 

Zwanzig Minuten später betrete ich das Fleet21,

 

mit rasendem Puls und ohne eine genaue Vorstellung, was ich Johnny sagen soll. Mit jedem Schritt scheinen mehr Sätze aus meinem Hirn zu verschwinden und ich bin drauf und dran, doch wieder umzukehren. Da kommt Alex, der Jugendheimleiter und Johnnys Onkel, mir entgegen.

 

„Hi Freddy. Johnny ist hinten.“

 

Jetzt gibt’s kein Zurück mehr, wenn ich jetzt umdrehe und Alex Johnny später erzählt, dass ich hier war, hätte ich endgültig verschissen. Also gehe ich den Flur hinunter, bis zu der Tür neben der Kellertreppe. Die Tür ist geöffnet, eine Kiste steht als Stopper davor.

Ich trete näher. Johnny steht inmitten von Kisten in der Mitte des kleinen Raums, die rechte Hand unter dem Schirm seiner Basecap auf die Stirn gelegt und schüttelt den Kopf.

 

„Hi. Bisschen chaotisch, was?“

 

Er sieht auf und verzieht den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Vielen Dank für diese kompetente Einschätzung. Lösungsvorschlag?“

 

Auch an meinen Mundwinkeln zupft ein Grinsen, ich lasse es zu. „Alles erst einmal raus und dann systematisch wieder rein.“

 

Johnny nickt und eine Sekunde später halte ich reflexartig die Kiste fest, die er mir vor den Bauch drückt. Ich stelle sie neben der Tür an die Flurwand, Johnny stellt eine zweite Kiste dazu, ohne ein Wort zu sagen. So arbeiten wir weiter, bis der Boden im Lager freigelegt ist. Es ist vertraut, das Bewegen der Kisten geht Hand in Hand, ohne dass wir darüber sprechen müssen. Doch mit jedem Karton, den ich vor der Tür staple, wird mir klarer, dass es nicht ewig so weitergehen kann.

 

Schließlich stehen wir vor den großen und kleinen Kisten, manche davon beschriftet.

„Vielleicht sollten wir kontrollieren, ob wirklich das drin ist, was draufsteht“, schlägt Johnny vor.

 

Nickend schnappe ich mir den ersten Karton, auf die jemand Servietten geschrieben hat. Vom Gewicht her könnte es passen, der Blick unter den Pappdeckel bestätigt die Aufschrift. Ich reiche Johnny den Karton und er stellt ihn auf eines der Regalbretter.

Die nächste Kiste ist unbeschriftet, ich schaue hinein und seufze, als ich lauter verhedderte Lichterketten erblicke.

 

„Ich liebe Kabelsalat“, sagt Johnny, als ich eine der Ketten anhebe.

 

„Liegen lassen oder direkt auflösen?“, frage ich.

 

Johnny seufzt. „Hat ja keinen Zweck.“ Er nimmt mir die Kiste ab, zieht das Knäuel an Lichterketten heraus und verteilt es auf dem Boden. Wir setzen uns gegenüber und ziehen vorsichtig an den einzelnen Kabeln.

 

„Es tut mir leid“, sage ich, als wir beide an der gleichen Kette ziehen.

 

„Du hast die Dinger vermutlich nicht verknotet“, erwidert Johnny und lässt sein Ende des Kabels sinken.

 

„Du weißt genau, was ich meine.“

 

Johnnys Augen funkeln dunkel unter dem Schirm seiner Mütze. „Ne, weiß ich nicht.“

So leicht lässt er mich nicht davonkommen.

 

„Ich war ein Arsch. Ich hätte euch nicht hängen lassen dürfen, bei den Proben, beim Konzert. Es war absolut scheiße.“

 

„Ja.“

 

„Ich war durch den Wind, weil Finn ausgezogen ist“, sage ich und merke im gleichen Moment, was für eine schlechte Entschuldigung es ist. „Fuck, das klingt lächerlich. Ich weiß auch nicht, warum das so reingehauen hat.“

 

Johnny zieht schulterzuckend an einem weiteren Kabel. „Du hättest was sagen können“, sagt er. „Wir haben alle gesagt, dass wir dir helfen. Und du hast einfach drauf geschissen und dich eingeigelt.“

 

Er wird immer leiser und fast habe ich den Eindruck, als würde seine Stimme zittern. Seine ehrliche Enttäuschung sticht mir in die Brust.

 

„Ich weiß. Es tut mir leid.“ Ich wiederhole mich, aber ob es reicht, mich zu entschuldigen? „Vielleicht könnt ihr das nicht verzeihen“, sehe ich ein, „aber ich meine es wirklich ehrlich.“

 

Johnny nickt. „Das glaube ich dir sogar. Aber ob die anderen deine Entschuldigung akzeptieren …“ Er hält einen Kabelstrang in die Höhe und löst ein Kabel von den anderen. 

 

„Sie sind echt sauer.“

 

Johnny lacht auf. „So kann man es ausdrücken. Das, was du im Alsterkeller abgeliefert hast, war wirklich das letzte. Du kannst von Glück sagen, dass die Leute keine Eier oder Tomaten dabeihatten, oder dass sie dir ihre Flaschen nicht an den Kopf geworfen haben.“

 

Ich kneife die Lippen zusammen und lasse den Kopf hängen, tue so, als ob ich mit dem Kabelwirrwarr in meinen Händen beschäftigt wäre.

 

„Und dann hast du dich hinterher auch noch einfach so verpisst“, sagt Johnny gepresst. „Wobei, vielleicht auch dein Glück, sonst hätte Ben dir längst den Hals umgedreht.“

 

Ja, so klang das zwischen den Zeilen seiner Nachrichten. Aber auch ohne Nachricht könnte ich es mir denken. Wenn Ben und sein Tatendrang nicht wäre, wäre Escape nicht da, wo wir jetzt sind. Ich lasse das Kabelknäuel in meinen Schoß sinken. Ich sollte mich fragen, ob ich überhaupt noch ein Teil von Escape bin. Ich wollte aussteigen, hatte mich gegen die Musik entschieden. Aber jetzt, wo es so aussieht, als würde die Band mir die Entscheidung abnehmen, merke ich, dass es die falsche Entscheidung ist.

 

„Und du?“, frage ich und suche Johnnys Blick über die Lichterketten hinweg. Dass Ben eine harte Nuss ist, weiß ich, aber Johnny ist mein bester Freund. Hoffe ich. Wenn die Band mich nicht mehr will, werde ich das überleben, solang Johnny bleibt. Nach allem, was ich mir geleistet habe, ist das viel verlangt.

 

Johnny hat einen Teil einer Lichterkette befreit und hält die Kabelschlaufe zwischen uns in die Höhe. „Wenn ich dich erwürgen wollte, hätte ich das längst getan. Aber hier liegen noch gefühlt dreißig Meter gute Gründe, damit noch zu warten.“

 

Er grinst. Ich grinse zurück.

 

„Danke.“

 

Johnny schiebt sein Käppi hin und her. „Ist okay. Aber tauch nicht wieder einfach so ab.“

 

„Versprochen.“

 

„Für die anderen garantiere ich aber nicht, die sind ziemlich angepisst“, fügt Johnny hinzu. „Das Festival im Sommer können wir vergessen.“

 

Der Wettbewerb, das Festival. Das habe ich total vergessen. Die Option, mich mit den Lichterketten zu erwürgen, scheint plötzlich gar nicht mehr so abwegig. Doch ehe ich den Gedanken ernsthaft verfolgen könnte, hebt Johnny noch einmal die Stimme.

 

„Vergiss Ben für einen Moment. Ich glaube, du solltest dich zuerst um Judith kümmern.“

 

Eiskalt läuft es mir den Rücken hinunter. Judith. Die Wärme, die mich sonst bei dem Gedanken an sie erfüllt hat, ist nur noch ein hoffnungsloses Glimmen. Dass mein Herz schneller klopft, hat gerade nur einen Grund. Ich habe eine Scheißangst.   

 

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