Kapitel 44 - Verunsicherung hoch 10

Judith

Die Zeilen des Gedichts vor mir erschließen sich nicht, obwohl ich sie nun schon zum fünften Mal lese. Ich lasse den Bleistift an den Wörtern entlangwandern, verbinde Verse mit Pfeilen, ohne sicher zu sein, ob das irgendeinen Sinn ergibt. Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es bereits kurz vor halb elf ist. Seufzend lasse ich den Stift sinken. Ich sollte es aufgeben, die Deutschhausaufgabe für morgen noch zu beenden, das wird ohnehin nichts mehr. Zu sehr bin ich mit den Gedanken noch bei heute Nachmittag und meinem Besuch bei Freddys Mutter. 

Ich hatte ihr nach Ende meiner Schicht endlich ihren Schlüssel zurückgeben wollen, den ich schon viel zu lange mit mir herumgetragen habe. Sandra war in besserer Verfassung als bei unserer letzten Begegnung, und ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, ihr zu erzählen, wie sehr Freddy neben sich steht. Doch auch meine knappen Worte reichten, um sie zum Weinen zu bringen.

„Er fehlt mir“, sagte sie immer wieder 

und ich musste mich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht laut meinen Frust durch die Klinik zu brüllen.

 

Die Wut lodert noch immer in mir.

 

Dass Freddy die Band hat hängen lassen, ist das eine. Sogar sein Schweigen und seine Gleichgültigkeit mir gegenüber kann ich hinnehmen, auch wenn es schmerzt. Aber für das, was er seiner Mutter antut, fehlt mir das Verständnis. Egal wie sehr er wegen Finn uneins mit ihr ist – sie ist krank und braucht ihn.

Energisch schlage ich das Deutschheft zu und greife nach meinem Handy, um Freddy eine gepfefferte Sprachnachricht zu schicken. Doch dann lege ich es wieder zurück. Er hat in der vergangenen Woche nicht auf meine Nachrichten reagiert, hat mich während des Konzerts nicht beachtet und ist anschließend ohne ein Wort an mir vorbeigegangen. Ich könnte mich genauso gut an die Parkuhr stellen, um meinen Rant loszuwerden.

 

Meine Stimmung ist am nächsten Morgen nicht wirklich besser, obwohl ich Glück habe und in Deutsch mit meinen nichtgemachten Hausaufgaben unentdeckt bleibe. Ruth schickt mir seit dem letzten Escape-Konzert jeden Tag mindestens drei lustige Minions-Memes, um mich aufzuheitern, aber egal wie sehr die kleinen gelben Dinger sich auch im Kreis drehen und über sich selbst lachen, mir fällt es mit jedem Tag schwerer, mich darüber zu amüsieren. Wieso kann es nicht wieder so sein wie an dem Wochenende, als ich Freddy in Bayern besucht habe? Als wir nicht reden brauchten und uns so nah waren. Seine Hände auf meiner Haut, mein Körper eng an seinem …

 

Hallejudith.

 

Das Lied, das durch den Klassenraum scheppert, lässt mich zusammenfahren und meinen Puls in die Höhe schießen. Mein Gesicht ist heiß und mein Magen verkrampft sich. Ich will das nicht hören, doch ich bin wie erstarrt und schaffe es nicht, die Arme zu heben und mir dir Ohren zuzuhalten. So bin ich gezwungen, alles anzuhören, was folgt.

 

Oh nein, ich habe einen Rockstar geküsst. Das durfte ich doch gar nicht. Was Gott nur dazu sagen wird?

 

Obwohl ich nichts sehe, vervollständigt mein Hirn den Ton um die Bilder, denn leider kann ich mir inzwischen zu gut vorstellen, was der oder die Videoersteller entwickeln. Tränen laufen mir heiß übers Gesicht. Ich lege den Kopf auf die Tischplatte und schließe die Arme um mich, als ob ich mich auf diese Art verstecken könnte. Die Bilder im Kopf bleiben.

 

„Hört doch endlich auf damit! Das ist absolut nicht lustig.“

 

Helena! Ich hebe den Kopf wieder und sehe verschwommen, wie sie mit in die Hüften gestemmten Händen neben meinem Platz steht und sich wütend im Klassenraum umsieht. Ein paar der Leute in meinem Blickfeld wenden ihren Blick ab, aus einer anderen Ecke höre ich hingegen genervtes Stöhnen. Helena schnappt sich einen Stapel Blätter, auf denen Tarek zwei Plätze rechts von mir gerade schreibt, und reißt ihm obendrein seinen Kuli aus der Hand.

 

„Hey, was soll das?“, beschwert unser Klassenkamerad sich.

 

Helena blättert, noch immer stehend, zwischen den Seiten herum, malt schließlich ein paar energische Striche auf eines der Blätter und reicht alles an Tarek zurück, ehe sie sich neben mich auf den Stuhl fallen lässt. Dann nimmt sie mich in den Arm, was meine Tränen erneut zum Fließen bringt.

 

„Was waren das für Zettel?“, frage ich leise.

 

„Die Anmeldeliste für den Abiball, ich hab mich wieder ausgetragen“, erklärt Helena.

 

Ich schlucke. Diese Liste ist an mir bislang vorüber gegangen. Das kann natürlich Zufall gewesen sein, vielleicht hätte ich sie gleich von Tarek bekommen. Trotzdem fühle ich mich noch mehr ausgeschlossen als ohnehin schon, gleichzeitig meldet sich mein schlechtes Gewissen, dass Helena offenbar meinetwegen ihren Namen wieder aus der Liste gestrichen hat.

 

„Du hättest das nicht machen müssen“, sage ich.

 

Helena zieht mich noch enger in ihre Umarmung. „Doch. Ich habe keinen Bock mit Leuten zu feiern, die sich über dich lustig machen.“

 

Ich hätte nicht gedacht, dass noch mehr Tränen übrig sind, doch mein Körper belehrt mich eines Besseren, was auch unserer Mathelehrerin nicht entgeht, als sie mit ein paar Minuten Verspätung den Raum betritt.

 

„Judith, geht es dir nicht gut?“, fragt sie.

 

Ich schüttle den Kopf, während ich mir gleichzeitig mit dem Ärmel über die Augen wische, in dem hilflosen Versuch, mich etwas präsentabler zu zeigen. Völlig bescheuert, schließlich haben bereits alle mein verheultes Gesicht gesehen.

 

„Kann ich Judith kurz nach draußen begleiten? Ein bisschen frische Luft würde sicher helfen.“

 

Helena nimmt mich bei der Hand und zieht mich hoch, und ich folge ihr mit gesenktem Blick aus dem Klassenraum bis auf den verwaisten Schulhof. Dort lehne ich mich an die Schulmauer, lege den Kopf in den Nacken und atme tief durch.

 

„Geht’s besser?“, fragt Helena nach einer Weile. Sie schiebt mit dem Fingerknöchel ihre Brille ein Stück höher auf der Nasenwurzel und sieht mich besorgt an.

Meine Augen brennen noch etwas, aber die Tränen sind versiegt, in der Hinsicht ist es also besser als vor ein paar Minuten. Nur die Gefühle lassen sich nicht so leicht abschalten. Der Abiball ist mir fast egal. Helena hat recht, mit Leuten, die nicht mehr als Spott für mich übrighaben, will ich auch nicht feiern. Aber dass irgendjemand ein neues Video gemacht und auch noch Freddy mit reingezogen hat, tut unfassbar weh. Meine Angst vor dem Videodreh hat sich bestätigt.

 

„Das Schlimme ist, dass es sich anfühlt, als hätten sie recht“, gestehe ich Helena. „Ich habe gedacht, bei Freddy wäre ich sicher. Aber ich bin ihm genauso egal, wie den anderen aus der Stufe.“

 

Helena schlingt ihre Arme um mich und zieht mich fest an sich. „Mir bist du nicht egal.“

 

„Danke.“ Ich bin mir nicht sicher, ob sie es versteht, weil ich halb in ihre Jacke gesprochen habe, deshalb hebe ich den Kopf, als ich weiterrede. „Magst du nachher mit zu mir kommen?“

 

Helena grinst. „Ich muss. Denn wenn wir gleich zurück im Raum sind, werde ich keine Ahnung haben, worum es geht. Du musst mir das nachher erklären.“

Lachend boxe ich Helena in die Seite. Als ob ich die große Leuchte in Mathe wäre!

 

Gerade habe ich für Helena und mich einen Tee aufgegossen,

 

um die Geister bei den Mathehausaufgaben zu beleben, als es klingelt. Helena schultert ihre Tasche und schnappt sich die beiden Teetassen.

 

„Ich geh schon mal hoch“, sagt sie und steuert auf die Treppe zu, während ich zur Tür gehe und öffne.

 

Zum Glück trägt Helena die Tassen, mir wären sie jetzt aus der Hand gefallen, da ich sehe, wer da mit hängenden Schultern und Händen in den Hosentaschen auf der Schwelle steht.

 

„Freddy?“

 

Er zuckt beinahe zusammen und sieht so plötzlich auf, als ob er nicht damit gerechnet hätte, dass ich ihm öffnen könnte.

 

„Hi“, sagt er heiser und weicht einen Schritt zurück. Will er wieder gehen?

 

Ich sehe zu Helena, die auf der dritten Treppenstufe stehengeblieben ist und fragend die Augenbrauen hebt. Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung, was das hier werden soll. In meinem Magen kribbelt es. Freddy ist hier, und mein verdammtes Herz freut sich darüber ihn zu sehen, während meine Vernunft mich zur Vorsicht warnt.

 

Helena kommt die Treppe wieder hinunter und tritt neben mich. In Freddys Mundwinkeln zuckt es und er schüttelt kurz den Kopf.

 

„Oh, sorry, ich wollte nicht stören“, sagt er leise und wendet sich zum Gehen.

 

„Quatsch, du störst nicht“, ruft Helena, ehe ich begreife, was passiert. „Hier, der Tee ist schon fertig.“ Sie drückt Freddy die eine und mir die andere Tasse in die Hand, und wir greifen beide instinktiv zu.

 

Meine Freundin schlüpft in ihre Schuhe und greift ihre Jacke vom Garderobenhaken. Will sie jetzt ernsthaft gehen? Sie kann mich doch nicht hier allein lassen.

 

„Was ist mit Mathe?“

 

Helena macht eine wegwerfende Handbewegung. „Läuft. Ich habe gerade noch mal reingeschaut. Das sind nur einfache Ableitungen und Nullstellenberechnung, das kriege ich hin.“

 

Als ob! Aber bevor ich protestieren kann, schiebt sie sich an Freddy vorbei und zwinkert mir hinter seinem Rücken zu. Ich sehe ihr nach, wie sie Straße Richtung Bushaltestelle hinuntereilt, während die Hitze des Tees langsam in meinen Fingern brennt. Prima, und jetzt?

 

„Sorry, ich wollte nicht …“ Freddy hält mir die Teetasse entgegen.

 

„Schon okay“, murmle ich, ohne die Tasse anzunehmen. „Willst du reinkommen?“

 

Wir weichen den Blicken des anderen aus, als er über die Schwelle tritt und mir in die Küche folgt. Wie beim ersten Mal, als er hier war, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll, und jetzt kann ich nicht einmal mehr einen Tee kochen, um mich abzulenken und Zeit zu schinden. Ich starre auf das Gebräu in meiner Tasse, das zunehmend dunkler wird, und durchforste mein Inneres nach Gefühlen. War ich gestern nicht wütend auf Freddy? Heute Mittag verzweifelt und enttäuscht? Nichts davon finde ich wieder. Vielleicht Freude, dass er hier ist? Das zeigt doch, dass ich ihm nicht egal bin, oder? Aber auch das fühle ich nicht.

 

„Sorry, können wir raus gehen?“ Hier in der Küche halte ich es keine zwei Minuten mehr aus.

 

Freddy nickt, offenbar erleichtert, stellt seine Teetasse neben die Spüle und ist noch vor mir wieder im Flur. Ohne ein Wort zu sagen, wartet er, bis ich mir Schuhe und Jacke angezogen habe. Ohne ein Wort zu sagen, gehen wir nebeneinander die Treppe hinunter, laufen die Straße entlang. Wie zwei Wanderer, deren Wege sich zufällig gekreuzt haben, die aber beide zu unsicher sind, um den anderen zu fragen, woher er kommt und wohin er geht.

 

Ich zucke zusammen, als wir an einem Garten vorbeikommen und ein Hund laut bellend hinter dem Tor auf und ab springt. Freddy greift nach meiner Hand, lässt sie aber gleich wieder los.

 

„Sorry, ich …“

 

„Schon okay.“ Wie oft haben wir diese Phrase heute schon ausgetauscht? Gefühlt haben wir noch nichts anderes gesagt.

 

„Nein, ich meinte …“ Freddy bleibt stehen, schließt die Augen und atmet tief durch. „Judith, es tut mir leid. Die letzten zwei Wochen … Es ist alles so verdammt schiefgelaufen.“

 

Mir entfährt ein Schnauben. Schiefgelaufen, so könnte man das nennen. Das versaute Konzert, meine Zweifel, die Sorgen seiner Mutter. Hitze steigt in mir auf, bringt meine Ohren zum Glühen, und meine Muskeln spannen sich. Da ist sie wieder, die Wut. Ausgerechnet sie.

 

„Schiefgelaufen, ja? Du hast uns alle hängen lassen. Du hättest längst aus der Band aussteigen wollen, stattdessen hast du sie beim Konzert voll reingeritten. Und ich …“

Ich schlucke, weil mir schon wieder die Tränen kommen. „Ich habe gedacht, ich könnte dir vertrauen.“

 

Die Vorwürfe bezüglich der Band hat Freddy mit unbewegter Miene hingenommen, jetzt beißt er sich auf die Lippen und seine Augenpartie zieht sich zusammen. Ein Zucken geht durch seinen Körper, als ob er einen Schritt auf mich zumachen wollte, doch er bleibt auf der Stelle stehen.

 

„Ich weiß“, sagt er. „Ich wollte dir nicht wehtun.“

 

„Hast du aber.“ Es ist unfair, dass die Wut über das neue Video sich nun in meinen Ärger auf Freddy mischt und er alles abbekommt, aber ich kann es nicht mehr zurückhalten. „Weißt du, wir machen uns Sorgen um dich, und du tust so, als hättest du mit nichts einen Vertrag. Als wäre dir alles egal.“

 

Freddy steht mit hängenden Schultern und gesenktem Blick mitten auf dem Gehweg und lässt meine Schimpftirade über sich ergehen. Meine Wut verraucht mit jedem Wort, erschöpft, als hätte ich einen Sprint hinter mir, stehe ich vor ihm und warte auf seine Reaktion.

 

„Das war es auch, zuerst“, gibt er schließlich leise zu, den Blick noch immer auf seine Schuhe gerichtet. Seine Schultern heben und senken sich, während er laut ein- und ausatmet. Dann sieht er auf und ich weiche einen Schritt zurück. Sein Gesichtsausdruck ähnelt auf erschreckende Weise dem seiner Mutter. Schatten liegen unter seinen Augen, eine Falte spaltet seine Stirn und sein Mund ist zu einer traurigen Linie verformt.

 

„Ich kann einfach nicht mehr.“ 

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