Kapitel 7 - Viel zu weit

Freddy

„Servus, ich bin Martin.“ Ein schlaksiger Typ mit kurzen verstrubbelten braunen Haaren öffnet mir die Tür und lacht mir fröhlich entgegen.

Mir fällt es schwer, das Lächeln zu erwidern. Ich bin hundemüde nach knapp 10 Stunden Zugfahrt, während der ich mich die ganze Zeit zwingen musste, nicht am nächstbesten Bahnhof wieder auszusteigen und zurückzufahren. Was soll ich hier in Bayern? Zuhause würde ich dringender gebraucht, auch wenn Mama bis heute Morgen behauptet hat, ich könne ruhigen Gewissens fahren. Einen Scheiß kann ich. Mama ist immer noch im Krankenhaus und Finn wird bei seinem Schulfreund unterkommen, bis Mama wieder nach Hause kann. Ja, ich weiß, dass meine Ausbildung wichtig ist – aber ist sie wichtiger als meine Familie? Ich habe jedenfalls alles andere als ein gutes Gewissen dabei.

 

„Bist du Frederik oder Sascha?”,

 

fragt Martin und streckt die Hand nach meiner Gitarre aus.

„Freddy, hi.“

Ich gebe Martin die Gitarre und betrete endlich die Wohnung, die in den nächsten fünf Wochen mein Zuhause sein soll. Martin geht mit meiner Gitarre voran durch einen langen Flur und bleibt schließlich vor einer Tür stehen.

„Das ist dein Zimmer, direkt nebenan ist das Bad. Sortier dich erstmal in Ruhe, wir sind in der Küche.“ Er deutet auf eine offenstehende Tür am anderen Ende des Flurs.

Ich schiebe meinen Rucksack in das kleine Zimmer und sehe mich um. Es ist nicht sehr groß, aber funktional. Bett, Schreibtisch und ein kleiner Schrank. Schnell räume ich meine Klamotten in die Fächer, schiebe den Rucksack unters Bett und lasse mich auf die Decke fallen.

Bin gut angekommen. Wie geht es euch?

Meine Mutter muss auf meine Nachricht gewartet haben, jedenfalls antwortet sie beinahe sofort auf meine Nachricht.

Gut zu hören. Uns geht’s soweit gut. Lass uns morgen telefonieren. Liebe Grüße.

Das Ende ihrer Nachricht ziert ein umarmendes Emoji, was mich das Handy halbwegs erleichtert zur Seite legen lässt. Emojis sind unser Zeichen, dass wirklich alles soweit okay ist. Hoffentlich bleibt es so.

 

Vom Ende des Flurs dringt Gelächter.

 

In der Küche scheint einiges los zu sein. Und obwohl ich lieber schlafen würde, sollte ich mich wohl mit meinen neuen Mitbewohnern vertraut machen. Es wird auf den ersten Blick klar, dass die Küche das Herzstück der WG ist. Ein großer Tisch mit passender Bank und Stühlen drumherum steht in der einen Ecke, an den gegenüberliegenden Wänden sind Herd, Spüle, Kühlschrank und ein riesiges Vorratsregal aufgebaut. Zwei meiner Mitbewohner stehen am Herd und kochen Nudeln mit Bolognese, vier andere sitzen um den Tisch herum. Wie Martin, der mir ein Bier anbietet, begrüßen auch die anderen mich freundlich. Woher Peter, Markus, Riccarda, Debbie und Lena kommen, habe ich allerdings schnell wieder vergessen. Ist beim Abendessen auch egal. Sie scheinen in Ordnung, das reicht mir für den Moment.

 

„Alles okay?“, frage ich Finn, als wir am nächsten Tag telefonieren.

„Klar, Antons Mutter hat mir das Gästebett bei ihm im Zimmer aufgebaut.“

Ich lehne mich an die Wand neben meinem Bett und schließe die Augen. Auch wenn mein Bruder nicht unglücklich klingt und die Mutter seines besten Freunds mehrmals betont hat, dass es wirklich kein Problem sei, wenn Finn ein paar Tage bei ihnen bliebe, werde ich diese verdammte Unsicherheit nicht los.

 

Nur ein kleiner Fehler, ein weiteres Unglück und unser fragiles System wird in sich zusammenstürzen.

 

„Mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut“, sagt Finn, als ob er meine Gedanken gelesen hätte. Mein tapferer kleiner Bruder. Manchmal frage ich mich, ob wirklich ich für ihn da bin oder ob es nicht eher umgekehrt ist.

Meine Mutter versichert mir ebenfalls, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Sie klingt noch immer müde, aber immerhin hat sie nicht mehr so starke Schmerzen.

„Die Ärzte stellen mich noch einmal neu ein, dann wird es bestimmt besser.“

Bis zum nächsten Schub, schießt es mir durch den Kopf. Es geht immer eine Weile gut, bis der nächste Stress kommt, und der ist bei uns leider vorprogrammiert. Aber das sage ich nicht. Hoffnung ist alles, was wir in diesem Moment haben.

„Wahrscheinlich kann ich am Freitag schon nach Hause“, sagt Mama.

„Dann komme ich.“

„Freddy, ich bitte dich, du bist gerade erst gefahren. Komm erstmal an und lern die anderen Leute kennen.“ Trotz der Müdigkeit schafft sie es, streng zu klingen, und ich gebe für den Moment nach.

Als ich schließlich auflege, sehe ich, dass ich eine neue Nachricht erhalten habe.

Hi Freddy, hoffe, du bist gut angekommen in Bayern. Wünsche dir einen guten Start morgen. Liebe Grüße, Judith.

Wärme durchflutet mich. Nach dem seltsamen Treffen im ProTone, bei dem ich viel zu müde war, um anständig mit ihr zu reden, hätte ich nicht gedacht, dass sie sich noch einmal melden würde.

Moin, Judith. Das erste Wort, was ich hier gehört habe, war Servus. Bin ganz offensichtlich in Bayern. Wünsche dir auch eine schöne Woche.

Sie ist online, während ich antworte und schreibt direkt zurück. Als erstes Englisch-LK. Augenrollendes Emoji.

Wird schon, antworte ich und begreife erst, als ich die Nachricht abgeschickt habe, dass ich damit nicht nur ihr versuche Mut zu machen.

 

„Wow“, entfährt es mir, als ich am nächsten Morgen hinter Debbie und Peter die Schule betrete. Zuhause sind die Räumlichkeiten der Berufsschule funktional, und ich habe mir nie weiter Gedanken darüber gemacht. Aber hier fällt mir direkt auf, dass selbst Schulgebäude schön sein können.

 

„Herzlich Willkommen im zweiten Schuljahr Ihrer Ausbildung“,

 

begrüßt uns ein Mann mittleren Alters, der sich kurz darauf als Herr Sattler vorstellt. „Besonders unsere neuen Schülerinnen und Schüler möchte ich begrüßen. Ich hoffe, dass Sie Ihre Zeit hier in Mittenwald nicht nur als Lernzeit begreifen, sondern auch als Möglichkeit, Freundschaften zu schließen.“

Er sieht freundlich in die Runde, trotzdem sind seine Worte wie ein Schlag in die Magengrube. Meine WG ist nett, und sicher sind auch unter den anderen aus der Klasse coole Leute. Aber es wäre ihnen gegenüber nicht fair, ihnen Hoffnungen auf langanhaltende Freundschaften zu machen, wenn ich sie nicht erfüllen kann. In den kommenden fünf Wochen mag es klappen, aber wenn ich wieder in Hamburg bin, wird keine Zeit mehr übrig bleiben, um Leute zu besuchen. Eigentlich habe ich die Zeit nicht einmal jetzt.

„Genug der Vorrede, nun lassen Sie uns mit dem Unterricht beginnen.“

Ich fahre zusammen. Verdammt, durch meine Grübelei habe ich nicht mitbekommen, was Herr Sattler gesagt hat. Hoffentlich war es nicht allzu wichtig.

„Sollen wir nachher zum See und baden?“, fragt Martin in der Pause. Debbie, Peter und Sascha und einige anderen stimmen begeistert zu. Mein Mitbewohner sieht auch mich fragend an und ich senke beschämt den Blick.

„Ich hab gar keine Badesachen dabei“, sage ich. Keine Minute habe ich beim Packen daran verschwendet, dass man hier baden könnte. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal schwimmen war.

Peter klopft mir auf die Schulter. „Du kannst was von mir leihen.“

Verunsichert sehe ich auf. Ob die anderen es komisch finden? Erwarten sie eine Erklärung?

 

Muss ich wieder aufpassen, was ich sage, ohne zu viel preiszugeben?

 

Aber außer Peter scheint niemand eine Antwort von mir zu erwarten.

„Das wär cool, danke.“

 

Der Badeausflug zum See war ziemlich cool und hat mich für zwei Stunden tatsächlich von all meinen Gedanken abgelenkt. Und auch die gemeinsame Jam-Session am Abend in der WG hat Spaß gemacht.

 

Nicht, dass du uns in Bayern bleibst, schreibt Kris, als ich einen Tag später ein Foto in unseren Band-Chat poste.

 

Keine Sorge. So schnell werdet ihr mich nicht los, tippe ich als Antwort, fühle mich aber längst nicht so locker wie ich mit meinem lachenden Emoji vorgebe. Die anderen aus der Klasse planen eine Party fürs Wochenende und Sascha, der genau wie ich aus einem anderen Bundesland angereist ist, hat sich mit Feuereifer in die Vorbereitung gestürzt. Ich halte mich zurück, weil ich gar nicht weiß, ob ich am Wochenende hier sein werde. Auf dem Weg zum Supermarkt wähle ich Mamas Nummer.

„Freddy, wie geht’s dir? Läuft es gut in der Schule?“

Eine Frage, wie sie jede Mutter wohl stellen würde. Als wäre es das Normalste der Welt. Als würde sie mit dem Mittagessen auf mich warten und gleich meine Klamotten waschen. Eine völlig normale Frage, wenn nicht alles andere umgekehrt wäre.

„Wie geht es dir?“, frage ich, nachdem ich mich mit meiner Antwort recht kurz gehalten habe.

„Es wird jeden Tag etwas besser. Sie wollen noch zwei letzte Untersuchungen machen, aber am Freitag kann ich wieder nach Hause.“ Die Erleichterung und Vorfreude in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Ebenso wenig wie die Müdigkeit. Sie ist beinahe der Grundton und keine Behandlung konnte bislang etwas daran ändern.

 

„Dann komme ich nach Hamburg.“

 

Mama seufzt. „Freddy, das ist doch Quatsch. Der Weg ist viel zu weit für zwei Tage.“

„Aber du sollst dich nicht direkt wieder anstrengen“, entgegne ich und denke daran, in welchem Zustand die Wohnung war, als ich abgereist bin. Ich hab es nicht mehr geschafft, alles aufzuräumen. Da Finn bei seinem Schulfreund ist, wird auch der Kühlschrank nicht viel hergeben.

„Mir geht es gut, und ich werde nicht direkt renovieren.“ Mama lacht als hätte sie einen besonders guten Witz gemacht. Mir gelingt nicht einmal ein müdes Lächeln.

„Holt Finn dich ab?“

„Freddy, mir geht es gut“, wiederholt Mama. „Ich fahre mit der Bahn.“

Ich beiße die Zähne zusammen und zwinge mich, dass Kopfkino loszuwerden, das automatisch zu laufen beginnt. Es sind nicht viele Stationen zwischen der Klinik und unserer Wohnung und sie hat sonst all ihre Wege auch allein gemacht. Aber normalerweise fährt sie mit dem Auto, eben weil die Kraft für viel mehr oft nicht reicht.

Ich schieße einen Kiesel, der auf dem Weg liegt, in den Grünstreifen am Straßenrand.

„Genieß das Wochenende. Ihr habt doch bestimmt was gemeinsam vor, oder?“

„Hmm“, sage ich ausweichend. Kaum hat Mama aufgelegt, schaue ich nach einer Zugverbindung nach Hamburg am Freitagnachmittag. Das Ergebnis ist ernüchternd. Es gibt einen Zug, den ich nach dem Unterricht nehmen könnte. Aber das Ticket kostet 150 Euro. Nur für die Hinfahrt. Fuck. Das übersteigt mein Budget bei Weitem. Den Teil meines Ausbildungsgehalts, den ich nicht zum Haushalt beisteuere, brauche ich in diesem Monat für die Miete des WG-Zimmers.

Frustriert trete ich gegen einen Laternenpfahl. Wie zu erwarten war, ändert sich dadurch nichts an dem absurd hohen Ticketpreis und obendrein pocht es heiß in meinen Zehen. Tränen schießen mir in die Augen, und ich bin nicht sicher, ob ich sie allein auf die Schmerzen schieben kann. Ich lehne mich an die Laterne, lege den Kopf in den Nacken und starre in den leicht bewölkten Himmel.

Es passt mir nicht, aber für dieses Mal kann ich nichts anderes tun, als zu hoffen und zu beten, dass alles gut ausgeht.

 

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