Kapitel 12 - Haltlos

Judith

Helena strahlt über das ganze Gesicht und leckt sich genüsslich über die Lippen.

„Judith, die ist mega! – Gaumenorgasmus.“ Sie legt die Schokoladentafel, die ich ihr aus England mitgebracht habe, auf ihren Schreibtisch, schielt aber sofort wieder zum Papier. Ich kann ihr das Verlangen förmlich ansehen und verstehe sie nur zu gut. Die Toffee-Salted-Caramel-Sorte hat mir auch am besten geschmeckt. Aber meine beste Freundin beherrscht sich und erhebt sich von ihrem Bett.

„Fehlt eigentlich nur noch der Tee, oder? Ich hab zwar keine Scones, aber ein paar Kekse tun’s auch.“ Mit diesen Worten lässt sie mich in ihrem Zimmer zurück und ich höre sie die Treppe nach unten in die Küche laufen.

Ich lehne mich an eines der großen Kissen, das Helena auf ihrem Bett drapiert hat und esse ein Stück von der Schokolade, die sie mir aus Frankreich mitgebracht hat. Sie ist nicht ganz so gut wie die englische, aber auch ziemlich großartig, und sie vermittelt mir, verbunden mit dem vertrauten Geruch aus Helenas Kissen, Geborgenheit. 

Helena und ich lieben Schokolade

 

und bringen uns schon seit Jahren von Urlaubsreisen unsere Lieblingssorten mit. Ich bin so froh, dass diese verdammte LK-Fahrt endlich vorbei ist und ich meine Klasse für die nächsten zwei Wochen nicht sehen muss. Die Herbstferien gönnen mir immerhin eine kurze Auszeit von dem Getuschel, den abschätzenden Blicken und blöden Kommentaren.

Das Handy neben mir auf dem Bett vibriert und ich greife routiniert danach. Eingang einer neuen Nachricht. Ich schnappe mir noch ein Stück Schokolade, während ich den Chat antippe und das angeheftete Video öffne.

Schon nach einer halben Sekunde bleibt mir die Schokolade beinahe im Hals stecken. Ohne es zu merken, habe ich Helenas Handy gegriffen. Und die Nachricht inklusive Video war unter Garantie nicht für mich bestimmt. Das Video zeigt mich. Besser gesagt mein Gesicht, über dem ein Heiligenschein schwebt. Darunter erstrahlt in hellumrandeten Buchstaben das Wort Hallejudith, zur Musik von Händels Halleluja. Mir gefriert das Blut in den Adern, als die Szene wechselt und ein Bild erscheint, das mir nur zu bekannt vorkommt. Die Gruppe Nonnen, die durch den Kreuzgang der Gloucester Cathedral geht. Das Gesicht einer der Nonnen wurde mehr schlecht als recht, aber leider doch zu gut erkennbar, durch meins ersetzt. Eine verzerrte piepsige Computerstimme ertönt.

 

„Oh ist das schön. Lobt Gott für diese Herrlichkeit. Amen.“

 

Meine Hand zittert und obwohl ich nichts anderes will, als das Smartphone, das ja nicht einmal meins ist, wegzuwerfen, um dieses Video nicht mehr sehen zu müssen, starre ich auf das Display und sehe zu, wie es von vorn zu spielen beginnt.

„So, it’s teatime!“

Erschrocken lasse ich das Handy auf die Tagesdecke fallen und starre Helena an, die mit Teekanne, einem Teller Keksen und zwei Tassen im Zimmer steht. Sie stellt alles auf den Schreibtisch.

„Wir hatten keinen Earl Grey, ich hoffe, Früchtetee ist auch okay?“, fragt sie. Dann verdüstert sich ihr Blick. „Judith, alles okay?“

Ich reiche Helena ihr Handy. „Sorry, ich hab gedacht, es wäre meins und hab versehentlich eine Nachricht für dich gelesen.“

Sie zieht die Stirn in Falten, lacht aber gleichzeitig spöttisch auf, was in diesem Moment wahnsinnig schmerzt. Was gäbe ich dafür, genauso unbeschwert lachen zu können wie sie! Helena startet das Video und ich beiße die Zähne zusammen, während erneut das Halleluja und diese schreckliche verzerrte Stimme erklingen. Ich werde es nie wieder vergessen können.

„O“, sagt Helena dumpf. Dann zuckt sie die Schultern und steckt das Smartphone in die Hosentasche. „Doofer Scherz. Wer auch immer das Video gemacht hat, hat doch selbst Probleme. Ärger dich nicht.“

Einen Moment starre ich sie an. Ich kann nicht fassen, was sie gerade gesagt hat. In meinem Inneren rumort es und schließlich bricht sich die Wut Bahn und ich springe vom Bett auf.

 

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“, rufe ich.

 

„Das Video ist doch nur die Spitze des Eisbergs. Die Sprüche gehen doch schon seit Wochen durch die Stufe.“

„Ignorier es, dann verlieren sie das Interesse.“

Das ist ihr Tipp? Ernsthaft? Wenn Ignoranz helfen würde, hätte ich schon längst wieder meine Ruhe. Oder habe ich mich unwissentlich gewehrt? Habe ich etwas falsch gemacht? Verzweiflung mischt sich in meine Wut und gewinnt kurz darauf die Überhand. Ich will mich nicht unterkriegen lassen. Aber jetzt nimmt nicht einmal Helena mich ernst.

„Ich dachte, du würdest zu mir halten“, sage ich leise, schnappe mir meine Tasche und verlasse fluchtartig das Zimmer. Ich weiß nicht, was mehr wehtut. Die Tatsache, dass sie sich nicht über das Video empört, oder dass sie mir nicht hinterherkommt.

 

„Judith, ist alles in Ordnung? Du bist so schweigsam.“

Mein Vater hält mich zurück, als ich nach dem Abendessen die Treppe zu meinem Zimmer betrete. Seine Augen sehen mich dunkel und ruhig an, liebevoll, vertraut. Ich konnte meinen Eltern immer alles erzählen, sie hatten für meine Geschwister und mich immer offene Ohren, zu jeder Tages- und Nachtzeit. In meiner Brust sticht die Sehnsucht, ihm auch jetzt wieder mein Herz auszuschütten.

 

Ignorier es, dann verlieren sie das Interesse, echot es in meinem Kopf.

 

Vielleicht hat Helena doch recht. Papa hat seinen Kalender in der Hand. Es ist Dienstagabend, gleich ist Gemeinderatssitzung. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und schüttle den Kopf.

„Alles okay. Ich habe nur schon über meine Panama-Bewerbung nachgedacht. Die wollte ich gleich fertig machen.“

Mein Vater lächelt. „Panama. Gedanklich bist du wohl schon da? Na dann, viel Erfolg.“

Er wendet sich zur Garderobe um und nimmt seine Jacke vom Haken, während ich mit einem furchtbaren Gefühl in der Magengegend in mein Zimmer gehe. Noch nie habe ich Papa so eine Lüge aufgetischt. Aber er musste schließlich weg und ich wollte ihn nicht aufhalten. Klar, ich könnte auch mit Mama reden, die im Wohnzimmer bügelt. Aber obwohl mir Helenas Kommentare nicht gefallen, haben sie sich in meinem Kopf festgesetzt, und irgendwo in mir schwelt noch die leise Hoffnung, dass sie vielleicht doch recht haben könnte. Dass Kilian – denn wer sonst sollte dieses Video gemacht haben – aufhört, wenn ich nicht darauf eingehe.

 

Ich setzt mich an meinen Schreibtisch, öffne mein Panama-Moodboard und nehme Zettel und Stift zur Hand, um mein Motivationsschreiben für den Freiwilligendienst vorzubereiten. Doch schon nach vier Worten wandern meine Gedanken wieder ab. Melanies Kommentar zu Panama klingt noch in mir nach. Was mir wichtig ist, steht auf meinem Blatt. Eigentlich wollte ich so etwas wie Aufgeschlossenheit und Ehrlichkeit schreiben. Aber das ein bringt offensichtlich nur Probleme mit sich, und das andere wäre geheuchelt, so wie Melanie gesagt hat. Schließlich habe ich meinen Vater gerade angelogen. Nichts ist okay. Meine Kehle schnürt sich zu und ehe ich mich versehe, tropfen Tränen auf das karierte Papier. Die anderen haben recht. Ich sollte keine Energie auf diese Bewerbung verschwenden. Auf jemanden wie mich werden die in Panama gerade gewartet haben. Ich schalte den PC wieder aus und krieche ins Bett. Über Kopfhörer höre ich das Lied, das Freddy mir geschickt hat, wieder und wieder an, und irgendwann versiegen meine Tränen.

 

Es ist mir schleierhaft, woher ich die Motivation nehme,

 

am nächsten Tag zur Klinik zu fahren, um das Seelsorgeteam zu unterstützen. Die Erinnerungen an gestern waren da, sobald ich heute Morgen die Augen aufschlug. Irgendwie hatte ich gehofft, Helena würde sich melden und entschuldigen. Aber unser Chat ist stumm. Kurz habe ich überlegt, selbst zu schreiben. Vielleicht habe ich überreagiert und sollte mich entschuldigen? Aber der Schmerz über ihre Reaktion sitzt tief. Es fühlt sich falsch an, es zu ignorieren und sie einfach zu fragen, wie es auf ihrer LK-Fahrt in der Bretagne war, und nicht darüber sprechen zu können, was ich in England erlebt habe.

Schon wieder spüre ich die Tränen in mir aufsteigen, aber diesmal gelingt es mir sie hinunterzuschlucken, und ich betrete mit einem Lächeln das Büro des Seelsorgeteams. Doch es ist leer, nur die Thermoskanne auf dem Tisch und eine Kaffeetasse daneben zeigen, dass jemand hier gewesen sein muss. Da ich keine Lust habe, hier zu warten, mache ich mich auf den Weg zum Raum der Stille. Gut möglich, dass jemand aus dem Team dort ist, um neue Kerzen aufzustellen oder ein Altartuch zu wechseln. Aber auf der dunklen Bank vor der weißen Wand sitzt nur eine Frau, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen vergraben.

 

Kein ungewöhnliches Bild an diesem Ort.

 

Viele kommen hierher, um zur Ruhe zu kommen, ihre Gedanken zu ordnen oder vielleicht auch zum Beten. Der Respekt gebietet es, sie dabei nicht zu stören. Ich will mich schon umdrehen und zurück zum Büro gehen, vielleicht ist ja inzwischen jemand dort, als die Frau plötzlich aufschluchzt. Auch das passiert hier häufig. Aber etwas lässt mich doch stehenbleiben. Die Hände der Frau sind nun zu Fäusten geballt, drücken gegen ihre Stirn, ihr Rücken ist gekrümmt und erzittert immer wieder. Ihre Verzweiflung lässt mich nicht kalt und vorsichtig mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein. Leise gehe ich auf sie zu, bleibe in gebührendem Abstand stehen, sodass sie meine ausgestreckte Hand mit dem Taschentuch aber noch erreichen kann. Es dauert einen Moment, bis sie danach greift und sich schnäuzt. Das Schluchzen lässt ein wenig nach, aber die Tränen fließen noch immer. Ich reiche ihr ein weiteres Taschentuch. Es war ungefähr eine der ersten Regeln, die ich hier gelernt habe. Niemals ohne Taschentuch irgendwo hingehen.

„Danke“, flüstert sie und sieht zu mir auf. Offenbar bemüht sie sich um ein Lächeln, das reichlich schief wirkt. Aber das spielt keine Rolle. Sie muss nicht lächeln. Es gibt vermutlich viele gute Gründe für sie, es nicht zu tun.

Fragend deute ich auf die Bank neben sie und sie nickt leicht. Ich setze mich neben sie. Sage nichts, halte nur lose die Packung Taschentücher in der Hand. Die Frau weint weiter. Irgendwann streckt sie zögerlich die Hand nach den Taschentüchern aus.

„Darf ich noch eins?“

Ich reiche ihr die Packung. „Aber natürlich“, antworte ich leise. „Kann ich sonst etwas für Sie tun?“

Sie lacht kurz und leise auf.

 

„Können Sie Wunder wirken?“

 

Ich seufze. Die Frage habe ich so oder so ähnlich schon häufiger gehört und jedes Mal würde ich sie so gerne mit ja beantworten. Aber ich kann nicht mal behandeln. Das Einzige, was ich zu bieten habe, ist Zeit und ein offenes Ohr. Und eine Packung Taschentücher. Die Frau neben mir scheint keine ernsthafte Antwort zu erwarten.

„Entschuldigung, das war nicht so gemeint.“

Vorsichtig lege ich ihr meine Hand auf die Schulter. „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Es ist bestimmt gerade alles etwas zu viel.“

Ihre Unterlippe zittert und ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen. Sie nickt. Und obwohl ich es nicht von ihr erwarte, fängt sie leise an zu erzählen.

„Ich habe gerade die Biopsie hinter mir“, sagt sie und deutet vage auf ihre Brust.

 

Scheiße. Das klingt nicht gut.

 

„Sie wollen sicher gehen, aber …“

Am liebsten würde ich ihr sagen, dass diese Untersuchung ja noch nichts heißen muss, dass der Befund ja auch gut sein könnte. Aber ich hüte mich davor. Ich stecke nicht in ihr drin und weiß nicht, was die Ärzte schon gesehen haben. Falsche Hoffnungen können fatal sein. Daher drücke ich nur sanft ihre Schulter.

„Das Ergebnis kommt erst in ein paar Tagen. Ich habe so eine verdammte Angst“, gesteht sie nach einer Weile.

„Das glaube ich. Das Warten ist furchtbar“, sage ich.

 

„Haben Sie jemanden, der Ihnen zur Seite steht?“

 

Sie wischt sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Augen, schlägt die Hand vor den Mund und schüttelt schließlich den Kopf.

„Ich habe nur meine Jungs, aber ich will sie nicht unnötig beunruhigen.“

Etwas hilflos starre ich auf das goldgelbe Wachs der Kerze vor mir. Wie kann ich dieser Frau helfen? Ich weiß nicht, wie alt ihre Kinder sind, und es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, was sie ihnen wann erzählt oder nicht. Aber sie in ihrer Verzweiflung allein zu lassen, kommt mir falsch vor, auch wenn ich schon vielfach lernen musste, dass wir im Seelsorgeteam nicht jede Welt retten können.

„Und dieses Befundgespräch … Ich weiß nicht, ob ich das packe.“

„Ich kann Ihnen die Angst nicht nehmen“, gebe ich zu. „Aber wenn Sie möchten, bin ich oder jemand anders aus dem Seelsorgeteam gern für Sie da. Vor oder nach dem Gespräch.“

Sie schluckt und wischt sich wieder die Tränen weg, diesmal mit dem Handrücken. „Das wäre nett. Danke.“

„Nicht dafür“, erwidere ich.

Die Frau erhebt sich langsam, verzieht dabei das Gesicht als habe sie Schmerzen. Kurz stützt sie sich an der Rückenlehne der Bank ab und reicht mir die Packung mit den restlichen zwei Taschentüchern.

„Behalten Sie sie ruhig“, sage ich lächelnd.

Sie lächelt zurück. „Danke, Frau …“ Sie sieht mich fragend an und ich merke erst jetzt, dass ich vergessen habe, mein Namensschild anzustecken.

„Judith“, stelle ich mich vor. Bei den anderen aus dem Team steht der vollständige Name auf dem Schild, das sie als Seelsorgerin oder Seelsorger ausweist. Ich habe es bei meinem Vornamen belassen.

„Danke, Judith.“

 

„Gern. Kann ich Ihnen noch etwas Gutes tun? Einen Tee oder Kaffee vielleicht?“

 

Sie schüttelt den Kopf. „Das ist lieb, aber ich muss wieder nach Hause. Mein Sohn kommt gleich von der Schule zurück.“ Ihre Stimme ist noch leise. Die Anstrengung, die sie aufbringen muss, um die Worte nicht zittern zu lassen, ist ihr ins Gesicht geschrieben. Ich kann nicht anders, als sie dafür zu bewundern. Gleichzeitig zerreißt es mir das Herz. Ganz gleich, wie der Befund aussehen wird, sie sollte in dieser Situation nicht allein sein.

„Kommen Sie gut nach Hause“, sage ich und versichere ihr noch einmal, dass sie sich jederzeit bei uns melden darf.

Sie nickt dankbar, dann geht sie langsam, als ob jeder Schritt ihr schwerfallen würde, den Flur hinunter, in der Hand die Packung mit Taschentüchern. Ich wünschte, sie hätte mehr, woran sie sich festhalten kann.

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