Kapitel 13 - Tanz am Abgrund

Freddy

Sechs Tage noch! Wie ein Mantra wiederhole ich gedanklich diese Zahl. Dabei sollte ich mich besser auf die Klausur in drei Tagen vorbereiten. Preispolitik ist nicht gerade meine Stärke, Konzentration wäre also angebracht. Aber ich kann an nichts anderes mehr denken. In weniger als einer Woche bin ich endlich wieder zuhause. Ich kann es kaum erwarten. Dabei habe ich mich hier in der WG sogar recht wohl gefühlt. So wohl, wie man sich halt fühlen kann, wenn man die ganze Zeit glaubt, woanders sein zu müssen. Diese verdammte Angst und Lauerstellung, die ich einfach nicht ablegen kann.

Auch als mein Handy jetzt vibrierend einen Anruf von Zuhause anzeigt, schnellt mein Puls augenblicklich in die Höhe.

„Hi, Mama“, sage ich und bin mehr als dankbar, dass ich nun einen guten Grund habe, meine Unterrichtsnotizen zur Seite zu schieben.

„Wie geht’s dir? Wie war dein Wochenende?“ Sie klingt außer Atem, als ob sie gerade trainiert hätte. Kurz keimt Hoffnung in mir auf. Könnte es tatsächlich sein, dass die neu eingestellte Medikation Mama hilft, ihr therapeutisches Sportprogramm wieder aufzunehmen?

„Warst du walken?“

 

Ihr Zögern dauert weniger als den Bruchteil einer Sekunde, aber ich bemerke es trotzdem.

 

„Ja, sozusagen.“

Was soll das heißen? Die Unsicherheit, die schon seit Tagen in meiner Magengegend schwelt, bekommt neue Nahrung und kriecht weiter Richtung Lunge. Krampfhaft versuche ich, die Hoffnung wieder einzufangen, die ich gerade noch hatte.

„Ein neues Sportprogramm?“, frage ich forschend.

Mama lacht heiser. „Wenn du Treppensteigen als Sport zählst, ja. Ich habe gerade den Müll rausgebracht.“

Ich will erleichtert aufatmen, ich will es wirklich. Aber diese verdammten Restzweifel bleiben. Vor allem, weil meine Mutter direkt weiterspricht und das Thema wechselt.

„Wie war dein Wochenende? Hast du etwas Schönes unternommen?“

Jetzt lache ich. „Wenn du Lernen als etwas Schönes zählst, ja“, wiederhole ich ihr Antwortmuster und erzähle von der anstehenden Prüfung am Mittwoch.

„Du schaffst das schon. Ich glaub‘ an dich. Und dann ist es ja nicht mehr lang, bis du wieder nach Hause kommst.“

Für einen Moment klingt ihre Stimme leichter, ich höre sie buchstäblich lächeln und es gelingt mir, mich der Vorstellung hinzugeben, dass wir eine ganz normale Familie sind. Dass sie eine Mutter ist wie viele andere, die sich freut, ihren Sohn wiederzusehen. Vermutlich ist sie das in diesem Augenblick auch.

„Sonntag bin ich wieder da“, verspreche ich.

„Ich freu mich. Es wird schön, wenn wir alle wieder zusammen sind“, sagt sie. Es ist der zweite Satz, genau genommen, das zusammen, bei dem ihre Stimme kippt. Mein Herz schlägt noch eine Ahnung schneller. Irgendetwas stimmt nicht.

„Mama? Was ist los?“

„Nichts, ich freu mich bloß auf dich.“

„Sicher?“

Sie atmet tief durch. „Ja, alles w… ist gut.“

 

Bilde ich es mir ein oder wollte sie tatsächlich erst etwas anderes sagen?

 

„Oh, da kommt Finn. Mach’s gut, mein Großer.“

Irritiert halte ich das Smartphone in der Hand, nachdem Mama aufgelegt hat. Ich habe mich gerade eben noch verabschieden können. Mama hat noch nie zuvor Finn als Ausrede benutzt, um ein Gespräch zu beenden und ich werde das Gefühl nicht los, dass das abrupte Ende nichts mit meinem Bruder zu tun hat. Was ist nur los zu Hause?

Weil ich mich jetzt ohnehin nicht mehr aufs Lernen konzentrieren kann, öffne ich Instagram und schaue auf unserem Band-Account vorbei. Ben hat ein paar neue Bilder von unserem letzten Konzert hochgeladen. Eine Ewigkeit scheint seitdem vergangen. Mir wird warm, als ich in den Kommentaren unter den Bildern lese, dass es einigen Leuten ähnlich geht. Ein Kommentar lässt mich jedoch mehr als andere lächeln.

 

JuWe05: Es war so ein schönes Konzert. Wann spielt ihr das nächste Mal?

 

Das Lächeln bleibt auf meinem Gesicht, während ich mit unserem Account antworte:

 

Danke dir! Wir arbeiten an den nächsten Gigs.

 

Ich schließe Instagram und öffne stattdessen unseren Chat. Meine nächste Nachricht sollte ich nicht im Namen der Band schreiben.

 

Danke für deine Kommentare bei Insta. Freut mich wirklich, dass dir unser Konzert so gefallen hat, und wenn du nächstes Mal wieder dabei bist. 😉

 

Ich weiß nicht, wie oft ich mir in den letzten Tagen vorgenommen habe, Judith nicht mehr zu schreiben. Das still und leise auslaufen zu lassen. Ohne dass da irgendetwas richtig begonnen hätte. Aber dann schickt sie kurze Nachrichten oder Bilder aus Hamburg, und ich werde wieder schwach.

So wie jetzt.

 

Ich werde da sein 😊 Bist du am Wochenende wieder in Hamburg? Die Zeit in Bayern müsste doch bald vorbei sein, oder?

 

Dass sie das noch weiß! Hat sie etwa die Wochen genauso gezählt wie ich? Die Vorstellung ist seltsam und schön zugleich. Dass außer meiner Familie und der Band noch jemand auf mich warten könnte.

 

Sonntag bin ich wieder da. Endlich!

 

Judith antwortet mit einem feiernden Emoji. Und gleich darauf: Cool. Ich freu mich!

Ruckartig setze ich mich auf.

Echt?, tippe ich. Ich traue mich nicht zu fragen, wie sie das meint, aber in meinem Magen flattert es aufgeregt, während drei tanzende Punkte anzeigen, dass Judith die nächste Nachricht schreibt.

 

Klar. Oder soll Escape etwa ohne Frontsänger spielen?

 

Ich lache auf. Erleichtert. Amüsiert. Ach, keine Ahnung, was das für ein Gefühl ist. Aber es fühlt sich gut an.

 

Und ich dachte schon, es würde dir um mich gehen.

 

Ah, Mist, habe ich das wirklich geschrieben? Schnell will ich die Nachricht wieder löschen, aber in diesem Moment wird die Nachricht als gelesen angezeigt und Judith tippt ihre Antwort.

 

Ja, okay, das stimmt auch. Aber ich dachte, das ist komisch zu schreiben, weil wir uns ja noch gar nicht so gut kennen.

 

Puh! Für einen Moment scheint mein Herz auszusetzen. Ich muss das Handy zur Seite legen, weil meine Hand plötzlich schweißnass ist und das Smartphone mir durch die Finger rutscht. Es geht ihr um mich. Judith interessiert sich für mich. Krass. FUCK!

Ich rutsche unruhig auf dem Schreibtischstuhl hin und her, springe auf, laufe die vier Schritte bis zur Zimmertür und wieder zurück. Fahre mir mit der Hand durchs Haar und lasse mich wieder auf den Stuhl fallen. Gerne würde ich mir einreden, dass ich meine letzte Nachricht an Judith nur scherzhaft gemeint habe. Und ja, irgendwie habe ich das auch, im ersten Moment. Aber jetzt, nach ihrer Antwort, wird mir klar, dass hinter dem Scherz mehr Wahrheit steckt, als ich mir bisher eingestehen wollte. Immer noch nicht will. Denn das macht alles komplizierter als es ohnehin schon ist.

Aber, verdammt, ich will sie wiedersehen. Mit ihr zusammen Möwen zusehen, die Fischbrötchen klauen, durch den Park laufen, für sie singen. Und wenn ich mir für jedes Treffen ein Skript schreiben muss, was ich sagen kann und was nicht.

 

Schon irgendwie, aber das können wir ja ändern.

 

Abgeschickt. Ich schließe die Augen und lasse den Kopf in den Nacken fallen. Das ist absolut verrückt, was du da gerade machst, schreit mein Verstand.

Scheiß drauf, es fühlt sich gut an, sagt mein Bauch.

 

Menschen. So viele, dass ich sie nicht zählen kann.

 

Und dahinter das Meer, bis zum Horizont. Ich lasse den Akkord verklingen, nehme die Hand vom Gitarrenhals und hebe die Arme überm Kopf zusammen. Zu Joshies Beat an der Basedrum klatsche ich in die Hände. Die Leute vor der Bühne tun es mir gleich. Ein Lächeln legt sich auf mein Gesicht und ich schaue nach rechts, wo Judith am Rand vor der Bühne steht. Sie hebt einen Daumen und wirft mir eine Kusshand zu. Neben Judith entdecke ich meine Mutter. Stolz sieht sie mich an, lacht und wiegt ihren Körper leicht im Takt.

Aber plötzlich erstarrt ihr Blick, ihre Hand krallt sich um das Gitter, das das Publikum vom Bühnengraben trennt. Mamas Gesicht ist kalkweiß. Ich will zu ihr, sie festhalten. Doch der Graben vor der Bühne ist mit einem Mal breiter als zuvor. Keine Treppe weit und breit. Ich müsste springen. Über tosendes Wasser, das grau und wild zwischen meiner Mutter und mir wogt. Ich sehe mich um. Wo ist der Rest der Band? Ich bin allein auf der Bühne, die Gitarre vor meinem Bauch. Auch die Menschenmassen und Judith sind nicht mehr da, wo sie vor wenigen Sekunden noch gestanden haben. Mamas Beine zittern, sie schwankt. Scheiße, ich muss zu ihr. Aber ich bin wie festgenagelt. Das Wasser schwappt höher, die Gischt sprüht mir ins Gesicht. Durch die Tropfen, die mir über die Augen laufen, sehe ich, wie Mama das Gitter loslässt und im Wasser verschwindet.

 

Die Klausur ist eine halbe Katastrophe.

 

Nach dem Alptraum in der ersten Nacht, konnte ich mich erst beruhigen, als ich meine Mutter kurz nach dem Frühstück erreicht habe und sie mir versichert das, dass alles okay ist. Trotzdem verfolgen mich die Bilder den ganzen Tag, und der Traum hat sich in den letzten Nächten, in leicht abgewandelter Form wiederholt. Was will mir dieser Traum sagen? Hat er überhaupt etwas zu bedeuten? Oder überdrehe ich einfach nur? Ist es Zeit, dass ich in meinen Alltag zurückkehre, auch wenn er noch so stressig ist?

Für das Endergebnis der Klausur spielt es wohl keine Rolle. Mit zusammengekniffenen Lippen versuche ich, die Aufgabe zu Ende zu bringen, als unser Lehrer die letzten fünf Minuten ankündigt. Aber ein richtiges Ergebnis kann maximal Glück oder Zufall sein, ich habe keine Ahnung, was ich hier tue. Kopfschüttelnd lege ich den Stift zur Seite und gebe den Klausurbogen ab. Was soll’s. Das Ding ist gelaufen.

„Mann, ich hab’s voll verkackt“, sagt Riccarda, die kurz nach mir aus dem Klassenzimmer kommt, und sich mit einem Stöhnen an die Wand lehnt.

Markus gesellt sich zu uns und klopft unserer Mitbewohnerin auf die Schulter. „Mach dir nichts draus. Nachher geht’s auf den Hohen Kranzberg, da bekommst du den Kopf wieder frei.“

Die Wanderung! Die habe ich über meinen Alptraum und das Lernen total vergessen. Dabei hat Markus mir am Wochenende extra ein Paar Wanderschuhe mitgebracht. Offenbar besitzen die Bayern mehrere Paar. Ich habe noch nie im Leben Wanderschuhe besessen. Wozu auch? Ich bin nicht einmal bis in die Harburger Berge gekommen und für das regnerische Hamburger Wetter sind wenn überhaupt Gummistiefel das beste Schuhwerk.

 

Trotzdem gelingt es mir nach der Schule ohne weiteres, die knöchelhohen Boots zu schnüren, und ich mache mich mit meiner WG auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Ich bin wohl nicht der Einzige, der keine eigenen Wanderschuhe besitzt, einer meiner Klassenkameraden trägt nur seine Turnschuhe.

„René, bist du sicher, dass du so wandern gehen willst?“, fragt Markus. „Der Wanderweg ist nicht asphaltiert.“

René winkt ab. „Ach, das passt schon.“

Markus will wohl noch etwas einwenden, aber unser Klassenkamerad hat sich schon abgewendet und macht ein Selfie vor dem Schild, das auf den Wanderweg hinweist. Ich bin jedenfalls schon nach einer halben Stunde froh, dass ich den Weg nicht in meinen ausgetretenen Sneakern laufen muss. Die Wanderschuhe sind bequem und geben mir auf dem unebenen Untergrund guten Halt.

Die Wiesen und die Bäume werden von der Nachmittagssonne malerisch angestrahlt, ein Licht, wie ich es von zu Hause nicht kenne, und ich beginne, die Wanderung zu genießen. Markus behält recht; mein Kopf ist frei.

„Die hellen Gipfel dort sind das Wettersteingebirge“, erklärt Peter, der neben mir läuft, und deutet auf eine Bergformation, die sich majestätisch zu unserer Linken erstreckt. Ich kann nicht abschätzen, wie hoch die Berge sind, geschweige denn, wie weit weg, aber sie kommen mir riesig vor.

Peter lacht, als ich ihm meine Überlegungen mitteile. „Dort liegt die Zugspitze, du weißt schon, der größte Berg Deutschlands.“

Ich schaue ihn grimmig an. Nur weil ich aus Hamburg komme, heißt es noch lange nicht, dass ich das nicht weiß, auch wenn mir bis eben nicht klar war, dass ich der Zugspitze hier so nah bin.

 

„Warst du schon mal oben?“

 

Peter nickt. „Schon dreimal. Ich hoffe, dass ich es nächsten Sommer nach den Prüfungen wieder schaffe.“

„Krass. Ist das nicht mega anstrengend?“

„Mal eben läuft man den Weg nicht hoch“, gibt er zu.

„Nicht so wie René?“, frage ich und nicke zu unserem Klassenkameraden rüber, der, noch immer mit Smartphone in der Hand, leichtfüßig über den Pfad hüpft.

„Definitiv nicht. Aber Deppen gibt es immer.“

Damit ist für Peter das Thema vom Tisch, mein Blick geht jedoch immer häufiger zu René, der mit seinem Handy verwachsen scheint und mehr auf den Bildschirm als auf den Weg achtet.

Als wir den Gipfel erreichen, lassen wir uns auf den Bänken nieder. Obwohl diejenigen von uns, die hier oder im Umfeld aufgewachsen sind, nicht müde werden, zu betonen, dass das hier ja überhaupt nicht hoch sei, wird mir ein bisschen schwindelig, als ich auf die Baumwipfel unter uns, die winzig erscheinenden Häuser von Mittenwald und das dahinterliegende Bergmassiv sehe. Kann man eigentlich auch in den Bergen seekrank werden? Irgendwie schwankt es unter meinen Füßen. Ich rutsche auf der Bank ein Stück weiter nach hinten.

„Gruppenfoto!“, ruft René und bedeutet uns mit hektischem Winken, dass wir etwas näher zusammenrücken sollen. Suchend sieht er sich um, wohl nach anderen Wanderern, die das Bild machen könnten. Aber gerade sind wir tatsächlich die einzigen hier auf dem Gipfel. Schulterzuckend geht René auf das Holzgeländer zu, das den Weg zum abfallenden Berg abgrenzt. Er versucht, das Handy darauf auszubalancieren, aber auf dem runden Handlauf hält es natürlich nicht. René tritt hinter das Geländer, das Smartphone mit der Linken festhaltend. Er sieht auf den Bildschirm und winkt mit der rechten Hand.

„Riccarda, noch ein Stück näher an Sascha, dann seid ihr alle drauf. Ja, so ist gut.“

Er nickt, tritt einen Schritt zurück – und ist plötzlich verschwunden.

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