Kapitel 22 - Mobbing-DNA

Judith

Der Nieselregen an diesem Montagmorgen ist nicht gerade stimmungshebend und ich frage mich, warum ich nicht dem Impuls nachgegeben und mir die Decke wieder über die Ohren gezogen habe. Nach einer halb durchwachten Nacht, bin ich müde genug, um mich kränklich zu fühlen. Aber im Bett würden meine Gedanken nur pausenlos kreisen, wie schon das ganze Wochenende. Seit ich Freddy Donnerstagabend nach Hause begleitet habe, hat er sich nicht gemeldet, was ich gut verstehen kann. Seine Familie ist wichtiger als ich, seine Mutter braucht ihn. 

Was er mir im Schrebergarten anvertraut hat, lässt mich jedoch nicht los.

 

Mein Gefühl, dass er nicht nur der coole Musiker ist, hat mich nicht getrogen, und seit ich weiß, was er erlebt hat, wächst meine Sorge um ihn beinahe stündlich. Ich möchte ihn in den Arm nehmen, ihm helfen, seine Angst zu verlieren, und für ihn da sein, wenn ihm alles zu viel wird. Es schmerzt, dass ich diese Chance wohl verspielt habe, als ich ihn im Proberaum habe stehen lassen, statt mit ihm zu reden.

 

Als ich an der Schule ankomme und mich wie immer in letzter Zeit unauffällig zwischen meinen Mitschülern zu bewegen versuche, wird mir allerdings schlagartig klar, dass ich längst eigene Probleme habe, die ich nicht mehr ignorieren kann.

Obwohl ich zuhause noch mal zur Toilette war, drückt meine Blase schon wieder und ich ziehe mich in eine der Klokabinen zurück. Ich habe mich gerade wieder angezogen und will die Tür der Kabine öffne, als ich zwei mir bekannte Stimmen höre.

 

„Hast du schon das neue Video gesehen? Kam gestern Abend.“ Paula. Sie ist mit mir im gleichen Mathe- und Sportkurs und wir haben außer dem gemeinsamen Unterricht nichts miteinander zu tun. Ich kann mich nicht erinnern schon einmal mit ihr geredet zu haben, das über kurze Absprachen beim Sport hinausging. Jetzt spricht sie von einem Video. Für den Bruchteil einer Sekunde gebe ich mich der naiven Hoffnung hin, dass es um irgendein neues Video gehen könnte. Aber inzwischen bin ich allein bei dem Wort schon in Lauerstellung, und leider weiß ich instinktiv, dass es eben nicht um irgendein Reel oder YouTube-Short geht. Meine Ahnung wird sogleich bestätigt.

 

„Ne, noch nicht“, murmelt die zweite Stimme. Riccarda, seit der fünften waren wir in einer Klasse, haben uns auch gut verstanden, aber seit der Oberstufe haben wir keinen einzigen Kurs mehr zusammen, und der Kontakt hat sich verlaufen.

 

„Echt nicht? Warte, das musst du sehen“, sagt Paula und lacht unterdrückt. Ich höre sie in ihrer Tasche wühlen und kurz darauf ertönt das mir inzwischen verhasste Händel-Halleluja.

 

Die Hand an der Klinke der Klokabine bleibe ich wie angewurzelt stehen.

 

Ich will das nicht hören. Ich sollte jetzt rausgehen, in der Hoffnung, dass Paula das Video ausschalten und mich betroffen ansehen würde. Vielleicht würde sie sich sogar entschuldigen. Stattdessen verharre ich auf der Stelle und wage mich nicht zu mucksen.

Das Halleluja wird abgelöst von einer anderen vertrauten Melodie und kurz darauf singt eine Kinderstimme.

 

Sankt Judith, Sankt Judith,

Sankt Judith ging nach Panama

Zu helfen armer Kinderschar

Sankt Judith schreitet froh dahin

Hat Gottes Liebe nur im Sinn.

 

Meine Hand krampft sich um die Türklinke, sodass die Sehnen über den Knöcheln hoch hervortreten. Ist es wirklich das, was meine Stufenkameraden in mir sehen? Eine Möchtegernheilige, über die man sich getrost lustig machen kann? Es hilft nicht, dass der Reim von Panama und Kinderschar nicht besonders gelungen ist, und der Text ansonsten rein objektiv betrachtet, nichts Schlimmes aussagt. Es ist auch nur ein schwacher Trost, dass Riccarda lediglich ein weiteres Murmeln von sich gibt, das nicht so klingt, als würde sie Paulas Begeisterung über das Video uneingeschränkt teilen. Aber sie sagt auch nichts dagegen. Und während ich gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfe, wird mir klar, dass ich mich genau danach sehne. Dass nicht ich mich verteidigen muss, sondern dass mir jemand zur Seite steht, der sich für mich einsetzt. Bei Riccarda warte ich darauf vergeblich. Sie tauscht mit Paula ein paar Sätze über die bevorstehende Französischstunde und kurz darauf fällt die Tür nach draußen ins Schloss. Erst da atme ich aus, und mit der Luft fließen auch die Tränen. Scheiße, ich muss das in den Griff bekommen. So kann ich mich gleich auf keinen Fall im Unterricht zeigen.

 

Ich schließe die Augen, konzentriere mich aufs Atmen.

 

Ein. Aus. Ein Aus.

Langsam wird es besser, und als es zum ersten Mal klingelt, wage ich mich aus der Kabine. Ich lasse mir am Waschbecken kaltes Wasser über die Hände laufen, wische die restlichen Tränen weg und werfe einen prüfenden Blick in den Spiegel, während ich mir die Hände abtrockne. Na ja, wie das blühende Leben sehe ich nicht aus, aber die leichte Rötung um meine Augen könnte tatsächlich auch von einer Erkältung oder vom Wind kommen. Außerdem muss ich niemanden ansehen. Mit gesenktem Blick haste ich über den Flur zu den Biologieräumen, wo ich gleichzeitig mit meiner Lehrerin ankomme und mich auf meinen Platz verkrieche.

Allerdings ist meine Unsichtbarkeitstaktik heute nicht von Erfolg gekrönt. Kaum dass Frau Decker die Anwesenheit überprüft hat, dringt ihre Stimme durch den Raum, genau in meine Richtung.

 

„Judith, können Sie uns den Aufbau der DNA einmal kurz erläutern?“

 

Ich zucke zusammen und sehe Frau Decker vermutlich ziemlich verdutzt an. Die DNA, unsere Hausaufgabe. Am Samstag habe ich zwei Stunden damit verbracht, den entsprechenden Abschnitt im Buch zu lesen und Strukturformeln in meinem Heft zu skizzieren. Ich sehe die Seite im Buch genau vor mir, leider nur Aufbau und Farben. Jegliche Beschriftung ist verschwunden.

 

„Ähm, die DNA ist wie eine Doppelhelix aufgebaut“, bringe ich schließlich hervor, wissend, dass das kein geschickter Einstieg ist.

 

Frau Decker lehnt mit vor der Brust verschränkten Armen am Pult und sieht mich erwartungsvoll an. Da muss noch mehr von mir kommen.

 

„In der DNA sind die Gene enthalten“, stammle ich weiter.

 

Sankt Judith ging nach Panama / Zu helfen armer Kinderschar …

 

Ich presse die Lippen zusammen, sehe Buchstaben vor meinem inneren Auge um eine Strukturformel tanzen, kann sie aber nicht entziffern.

„Bleiben Sie noch einmal bei der Doppelhelix“, sagt Frau Decker, „wie kommt diese Form denn zustande?“

 

Sankt Judith schreitet froh dahin

Hat Gottes Liebe nur im Sinn.

 

Verdammt, wie kann es sein, dass ich mir den Text von diesem bescheuerten Lied gemerkt habe, und meine Biohausaufgaben komplett aus meinem Hirn verschwunden sind?

 

„Durch Stränge, die sich verschränken“, sage ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Mit den Händen deute ich an, wie sich die Stränge umeinanderwinden, als ob das irgendetwas erläutern würde.

 

Frau Decker lässt jedoch nicht locker. „Und wie halten diese Stränge zusammen?“

„Durch Wasserstoffbrückenbindungen?“

 

Mit einem Seufzen löst Frau Decker ihre Haltung und reckt die Arme über dem Kopf. „Ist das eine Frage oder eine Antwort?“

 

Mir ist sofort klar, dass ich mit meiner Antwort daneben liege, kann aber nur hilflos die Schultern zucken. Es ist zu spät, ich hab’s vermasselt, und das Flüstern einiger Kurskameraden lässt meine Kehle schon wieder enger werden.

 

„Tut mir leid“, flüstere ich. Dann senke ich den Blick, um nicht länger die vermutlich enttäuschte Miene meiner Lehrerin oder das schadenfrohe Grinsen der anderen sehen zu müssen. Als kurz darauf Mehrdad von Kettenmolekülen, Base und Zucker spricht, geht mir alles wieder auf und ich könnte sogar noch ausführlicher über Nukleotide sprechen als er, aber meine Chance ist vertan.

Am Ende der Doppelstunde hält Frau Decker mich zurück. Sie wartet, bis die letzten Schüler den Bioraum verlassen haben, dann sieht sie mich prüfend über den Rand ihrer Brille hinweg an.

 

„Das war ja heute wohl ein Satz mit X“, sagt sie.

 

„Tut mir leid“, wiederhole ich meinen Satz vom Anfang der Stunde.

 

„Was ist denn los mit Ihnen?“

 

Ich weiche ihrem Blick aus und zucke mit den Schultern. „Ich hatte einen Blackout.“

 

An ihrem Seufzen kann ich erkennen, dass sie mir nicht glaubt. Sie verschränkt wieder die Arme vor der Brust. „Das kann passieren. Aber Sie sind so still in letzter Zeit, das kenne ich von Ihnen nicht.“

 

Ich auch nicht, würde ich am liebsten sagen, bleibe aber stumm. Was wäre auch die Alternative? Ihr von den Videos erzählen? Das kommt nicht in Frage. Damit muss ich schon selbst klarkommen.

 

„Die Mutter von einem Freund von mir ist sehr krank“, höre ich mich sagen.

 

Als ich Frau Deckers betroffene Miene sehe, würde ich am liebsten vor Scham im Boden versinken. Wie kann ich es wagen, Freddys Mutter als Entschuldigung für mein Versagen bei der Hausaufgabenkontrolle vorzuschieben?

Frau Decker klingt aufrichtig, als sie mir sagt, wie leid ihr das tut, was meine Scham noch stärker auflodern lässt. Aber jetzt kann ich nicht mehr zurückrudern. Zum Glück geht Frau Decker nicht weiter darauf ein.

 

„Ich glaube Ihnen, dass das in dieser Situation nicht leichtfällt, Judith, aber versuchen Sie sich zu konzentrieren. Es wäre schade, wenn Ihre bisherigen guten Leistungen auf den letzten Metern einreißen.“

 

Ich nicke, weiche ihrem Blick aber weiterhin aus. Ja, es ist wirklich nicht leicht, damit hat Frau Decker recht. Aber sie meint eine andere Situation, die die ich ihr vorgespielt habe. Wenn es nur um Freddys Mutter ginge, hätte ich mich an diesen verdammten DNA-Aufbau erinnern können. Mit dem mittlerweile dritten Video über Hallejudith ist das etwas ganz anderes. Trotzdem verspreche ich meiner Biolehrerin, mich zusammenzureißen.

 

 

Als ich am Nachmittag über meinen Hausaufgaben am Schreibtisch sitze, ploppt eine Erinnerung in meinem Kalender auf dem Laptop auf.

 

In 5 Tagen Bewerbungsschluss Panama.

 

Der Schmerz sticht unbarmherzig und mit voller Wucht in meine Brust. Dass diese Erinnerung ausgerechnet heute kommen muss. Andererseits wäre es morgen oder übermorgen auch nicht besser gewesen. Seit Melanies abfälliger Bemerkung über meine Pläne nach dem Abi nagen die Zweifel darüber, ob ich die Bewerbung wirklich abschicken soll, mal mehr mal weniger stark an mir. Die Begeisterung, die ich sonst immer verspürt habe, wenn mein Blick auf das Moodboard fiel, ist schon vor Wochen erloschen. Aber jetzt gilt es. In spätestens fünf Tagen müssen meine Unterlagen bei der Austauschorganisation sein, wenn ich überhaupt die Chance haben will, nach Panama zu kommen.

 

Ich krame meine Notizen hervor, öffne die Dokumente und den Instagramkanal der Organisation. Seit dem Takeover von dem Jungen, der gerade in Panama ist, sind viele Bilder und Reels hinzugekommen und ich muss eine Weile scrollen, bis ich die Bilder von Dario entdecke. Unter einem der Einträge finde ich die Verlinkung zu Darios eigenem Account. Ich folge dem Link und schaue mir die Bilder an, lese ein paar der Captions.

Ein Reel mit wunderschönen Aufnahmen fängt meine Aufmerksamkeit und ich schalte den Ton ein, um den hinterlegten Originaltrack zu hören.

 

Viele sagen: Mach doch erstmal was Gescheites. Reisen kannst du später noch.

Ich sag euch ehrlich: Später ist zu spät. Leben ist jetzt. Und ich bin hier genau am richtigen Ort.

 

Ich schaue mir das Reel wieder und wieder an. Sehe Aufnahmen von Stränden und Regenwald, Dario, wie er mit Kindern Fußball spielt und mit Frauen kocht. Er sieht glücklich aus, als ob er wirklich am richtigen Ort wäre. Ob irgendjemand ihn auch für einen Pseudoheiligen oder Wohltäter hält, weil er sein FSJ in Panama macht? Ob er gezweifelt hat? Kurzentschlossen schreibe ich ihm eine Nachricht als Antwort auf sein Reel. In Panama ist es Morgen, bestimmt ist Dario schon wach. 

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