Freddy
„Na dann, schönen Feierabend, bis morgen.“ Sven tippt sich an die Stirn und schließt die Ladentür hinter uns ab.
„Danke, bis morgen.“ Ich kann nicht aufhören zu grinsen, während ich zur Bushaltestelle laufe, und obwohl ich müde von der Arbeit bin und mein Tag noch nicht zu Ende ist, habe ich gute Laune. Morgen werden wir im Fleet21 das Musikvideo zu Girl in the Crowd drehen, Sven hat versprochen als Teil des Publikums mit dabei zu sein, und ich muss mich immer wieder selbst kneifen, um mir klar zu werden, dass das alles kein Traum ist. Judith hat zugesagt, mitzuspielen. Wenn ich ihre Nachricht lese, was ich auch jetzt nach fast zwei Wochen immer wieder tu, schlägt mein Herz immer noch schneller und ein wohliges Kribbeln zieht über meine Haut. Ob es morgen genauso sein wird?
Unser letzter Kuss ist schon wieder viel zu lang her.
Also zwei Tage. Das ist eine verdammte Ewigkeit. Und so sehr ich mich darauf freue, Judith morgen zu sehen, mit ihr zu drehen – Zeit für Küsse, solche Küsse, wie ich mit ihr tauschen will, wird uns nicht bleiben. Selbst innige Umarmungen werden schwierig, weil ich auf der Bühne und sie am anderen Ende des Raums stehen wird. Hätten wir uns doch bloß ein anderes Skript überlegt! Aber für eine andere Storyline wäre Judith bestimmt nicht zu haben gewesen.
Das wohlige Kribbeln schlägt in heiße Wut um, sobald ich an das denke, was Judith mir aus der Schule erzählt hat. Ich kann mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie schrecklich sich das alles für sie anfühlen muss, aber allein ihre verzweifelten Tränen, als sie mir von den Videos berichtet hat, haben in mir den Wunsch ausgelöst, den Leuten aus ihrer Stufe die Fresse zu polieren. Meine Faust schließt sich fester um die Haltestange im Bus. Doch bevor ich meine Gewaltfantasien daran auslassen kann, erreicht der Bus meine Haltestelle. Die kalte Luft draußen zwingt mich zu einer kontrollierten Atmung, was mich jeden überflüssigen Gedanken vergessen lässt. Ich ziehe die Einkaufsliste aus der Tasche und ziehe einen Einkaufswagen aus dem Unterstand vor dem Supermarkt.
Finn sitzt mit gesenktem Blick vor seinem Teller.
Seit ich wieder zu Hause bin, hat er noch keinen Mucks von sich gegeben, sondern nur stumm den Tisch gedeckt und ansonsten vor sich hin gestarrt.
Ich brauche nicht fragen, was lost ist. So mies gelaunt ist mein Bruder nur, wenn er ein Spiel verloren hat. Egal, ob es, wie heute, nur ein Freundschaftsspiel war oder nicht, beim Basketball kann Finn es nicht ertragen, wenn andere ihn besiegen. Fehlt nur noch, dass er …
„Ich geh noch mal raus, ein paar Körbe werfen.“
Das hatte ich befürchtet. Mama auch. Sie streckt ihre Hand nach Finn aus und hält ihn fest.
„Bitte, Finn, jetzt nicht mehr. Es ist längst dunkel.“
„Na und? Gibt doch Laternen.“
„Außerdem ist es scheißeglatt draußen“, füge ich hinzu. Auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause wäre ich selbst ein paar Mal beinahe ausgerutscht. Dass Finn oder ich uns aus Leichtsinnigkeit die Knochen brechen, können wir jetzt echt nicht gebrauchen.
Mein Bruder sieht das scheinbar anders und wirft mir einen bösen Blick zu, lässt sich aber wieder auf seinen Stuhl fallen.
„Ach Finn, jetzt ärgere dich nicht so. Das nächste Spiel läuft wieder besser.“
Mamas Aufmunterungsversuche schlagen fehl. Finn verschränkt die Arme vor der Brust und starrt wütend auf die Tischkante. Mama wirft mir einen ratlosen Blick zu und ich zucke mit den Schultern. Finn wird sich schon wieder einkriegen.
Ich sammle unsere Teller zusammen, bringe sie in die Küche und mache mich ans Aufräumen. Auf meinen Bruder kann ich dabei heute wohl nicht zählen, aber das ist schon okay. Ich bin fast fertig, als mein Handy mit langem Vibrieren einen Anruf anzeigt, und mir die Küche mit einem Mal viel heller vorkommt.
„Hi Judith.“
„Hey, Freddy. Wie geht’s? Alles fit für morgen?“ Ich höre das Lachen in ihrer Stimme, stelle mir vor, wie sie auf ihrem Bett liegt, den Blick an die Lichterkette über der Dachschräge gerichtet.
„Alles bestens. Und bei dir?“
„Etwas nervös, ehrlich gesagt.“
Vier Worte, und sofort schlägt mein Herz wieder schneller.
Ich habe das dringende Bedürfnis, sie in meine Arme zu ziehen. Die Sorge um Judith überlagert jedoch die Sorge, dass sie es sich anders überlegt haben könnte. Ich will, dass es ihr gut geht.
„Ich auch“, gebe ich zu.
„Echt? Wieso?“ Judith klingt ernsthaft überrascht.
„Das geht jetzt alles so schnell. Bislang war es immer ein Wunsch oder eine Spinnerei, dass wir mal ein Musikvideo drehen. Und jetzt machen wir das, und das zu meinem Song. Das ist schon abgefahren.“
Judith lacht. „Stimmt, aber auch ziemlich cool. Freddy, das ist dein großer Schritt ins Rockstarleben.“
Wir lachen gemeinsam über ihren Witz, lachen unsere Nervosität weg. Das morgen, das wird cool. Es geht gar nicht anders.
„Ich freue mich auf morgen“, sagt Judith schließlich. Und als ob sie Zweifel hätte, dass ich ihr glauben könnte, setzt sie noch ein „Wirklich“ hinzu.
„Ich mich auch. Bis morgen.“
Noch bevor ich aufgelegt habe, schiebt Finn sich an mir vorbei, öffnet die Kühlschranktür und nimmt sich einen Joghurt. Ausgerechnet den Becher, den ich für mein Frühstück morgen eingeplant habe.
„Den wollte ich morgen zum Frühstück essen.“
„Sorry“, erwidert Finn in einem Tonfall, der nicht danach klingt, als würde es ihm ernsthaft leidtun.
Er klappt den Aludeckel, den er schon halb abgerissen hat, wieder auf den Becher und will ihn wohl zurück in den Kühlschrank stellen, aber ich winke ab.
„Egal, iss. Ich bin morgen schon um neun weg. Wir wollen vor dem Dreh noch einmal proben.“
Finn stupst die Küchenschublade mit einem kräftigen Hüftschwung zu und schnaubt verächtlich. Was ist heute nur los mit ihm?
„Bist du um zwei wieder da?“
Irritiert sehe ich ihn an. „Ich denke nicht. Johnny meint, dass wir einige Stunden brauchen werden.“
Finn schiebt sich schulterzuckend einen Löffel Joghurt in den Mund. „Ich bin um spätestens kurz nach zwei weg“, sagt er und wendet sich zum Gehen, doch ich halte ihn am Arm zurück.
„Was soll das heißen, du bist weg?“
„Anton hat morgen Geburtstag und uns zum Bowlen eingeladen.“
„Und das sagst du mir jetzt?“ Ich kann es nicht glauben. Ausgerechnet jetzt, wo alles geplant ist und wir nicht mehr zurückkönnen.
Mein Bruder verdreht die Augen und schüttelt den Kopf. „Anton hatte schon immer am 16. Dezember Geburtstag. Das könntest du mittlerweile wissen. Aber du kriegst ja nichts mehr mit.“
„Was? Natürlich, ich …“
„Ach ja?“, unterbricht Finn mich. „Was hatte ich denn heute für ein Spiel?“
Mit vorgestrecktem Kinn sieht er mich an und für einen Moment bin ich unsicher. Was ist nur in ihn gefahren?
„Ein Freundschaftsspiel gegen …“
Wieder schüttelt Finn den Kopf, eine Mischung aus Bitterkeit und Spott liegt in seinen Zügen. „Eben nicht. Das war vor zwei Wochen. Heute ging es um was.“
Verdammt, das habe ich tatsächlich nicht gewusst. Aber noch bevor ich mich entschuldigen könnte, versenkt Finn den Löffel im Joghurtbecher und funkelt mich aus dunklen Augen an.
„Siehst du? Bei dir gibt’s nur noch Judith hier, Tonstudio und Musikvideo da, was drumherum passiert ist dir scheißegal.“
„Jungs, was ist denn los?“
Mama steht im Türrahmen und sieht uns besorgt an. Ich presse die Lippen aufeinander und werfe Finn einen bösen Blick zu. Musste er diese Diskussion unbedingt jetzt vom Zaun brechen? In den letzten Jahren haben wir gelernt, Meinungsverschiedenheiten vor ihr zu verbergen. Sie sollte merken, dass wir an einem Strang ziehen. Für sie. Für uns. Wieso ändert Finn jetzt diesen Kurs? Er versucht nicht einmal, Mama zu beschwichtigen, sondern hält meinem Blick trotzig stand.
„Freddy hat nur noch seine Musik im Kopf“, ruft er aufgebracht.
Bis jetzt war ich noch zu überrascht von Finns Ausbruch, aber jetzt werde ich auch sauer. Mein Blut rauscht schneller durch die Adern und ich spüre es in meinen Schläfen verdächtig zucken.
„Du meinst, abgesehen davon, dass ich mir ansonsten den Arsch aufreiße und versuche, alles zusammenzuhalten?“
Finn verzieht das Gesicht zu einer spöttischen Grimasse. „Ja ja, Superheld.“
Heiße Wut schießt mir durch den Körper und ich mache einen Schritt auf meinen Bruder zu. Doch ehe ich meine Faust in seiner Magengrube versenken oder ihn in den Schwitzkasten nehmen kann, schiebt Mama sich mit ausgestreckten Armen zwischen uns. Nicht, dass sie stark genug wäre, mich wegzuschieben, aber sie ist zumindest ein Hindernis, das mich kurz aufhält.
„Freddy, Finn, es reicht“, ruft sie energisch.
Für einen Moment stehen wir stumm da, er links, ich rechts von Mama, und funkeln uns an. Finn bricht zuerst das Schweigen.
„Ich sag nur, wie es ist“, sagt er schulterzuckend. „Check halt mal, dass ich auch ein Leben habe.“
„Auch? Du hast doch …“
„Schluss jetzt!“
Überrascht von dem plötzlichen Druck, den meine Mutter gegen meinen Oberkörper ausübt, weiche ich einen Schritt zurück. Doch die Kraft, die sie aufgewendet hat, um mich davon abzuhalten, auf Finn loszugehen, hat sie überfordert. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presst sie sich die Hand auf die Brust, dorthin, wo die Narbe von der OP noch nicht völlig verheilt ist, und lehnt sich schweratmend gegen den Türrahmen.
Und zum ersten Mal seit all den Jahren wendet Finn sich ab und lässt mich mit Mama allein.
Ich habe kaum Zeit, ihm fassungslos hinterherzuschauen. Stattdessen greife ich meiner Mutter unter die Arme und führe sie zum Küchenstuhl, wo sie sich stöhnend auf das alte, durchgesessene Kissen fallen lässt.
„Was sollte das denn eben?“, fragt sie, sobald sie wieder etwas zu Atem gekommen ist. Ihre Stimme ist schwach, Mama ist deutlich erschöpft, trotzdem höre ich den Vorwurf, der in ihren Worten mitschwingt.
„Keine Ahnung, Finn hat angefangen.“ Noch während ich es ausspreche, ist mir klar, wie kindisch das klingt, trotzdem ist es wahr.
„Er kann morgen nicht weggehen.“
Mama blinzelt müde. „Wieso nicht?“
„Weil du nicht allein bleiben sollst.“
Meine Mutter umschließt meine Hände mit ihren und zwingt mich so, ich neben ihr hinzuknien. „Freddy, Anton ist Finns bester Freund, natürlich wird er zu seiner Geburtstagsfeier gehen. Und du wirst dein Musikvideo drehen.“
„Aber …“
„Kein Aber. Ich komme schon klar. Vielleicht ist es auch mal schön, einen Nachmittag nur für mich zu haben.“
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, ahne aber, dass mir das nicht besonders gut gelingt. Ohne ein Wort befreie ich meine Hände und räume endlich den Rest der Küche auf. Die ganze Zeit spüre ich Mamas Blicke im Rücken, aber sie geht nicht mehr auf Finns und meinen Streit ein, während mir eine immer deutlichere Stimme zuflüstert, dass mein Bruder womöglich nicht ganz Unrecht hat. Ich habe der Musik zu viel Platz eingeräumt. Es war albern, zu glauben, ich könnte diesen Traum verfolgen.
Morgen noch, denke ich und lege das nasse Handtuch auf die Heizung. Morgen ist das letzte Mal.
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