Kapitel 36 - Klicks mit Folgen

Judith

Das kann nicht wahr sein, denke ich immer wieder.

Ich lege das Smartphone auf den Schreibtisch, ziehe mich um, gehe Zähne putzen, und schaue, sobald ich zurück in meinem Zimmer bin, wieder aufs Handy. Nur um sicher zu gehen.

Aber wie schon gestern und vorgestern sind die Klickzahlen für Girl in the Crowd gestiegen. 27.000 Klicks. 4000 mehr innerhalb eines Tages. Das. Ist. Krass. Ich habe mit ein paar Hundert Klicks gerechnet und mich damit noch für optimistisch gehalten. Die Zahlen, die da jetzt unter dem Video stehen, kann ich einfach nicht fassen, egal wie oft ich sie sehe, und wenn Helena mir nicht täglich eine OMG-Nachricht schicken würde, würde ich glauben, dass ich träume.

„Hast du gesehen? Schon wieder mehr Klicks“, sagt Ruth beim Frühstück.

 

„Ja“, murmle ich über den Rand meiner Teetasse hinweg. „Gruselig, irgendwie.“

 

„Echt? Du kannst voll stolz sein.“

 

Ich zucke mit den Schultern. Bin ich stolz? Ich habe doch nicht im Video mitgespielt, um berühmt zu werden oder so, sondern weil ich Freddy und den anderen einen Gefallen tun wollte. Wenn nur 300 Leute das Video gesehen hätten, wäre es für mich auch okay gewesen. Allerdings kann ich das Kribbeln in meinem Innern nicht ignorieren, genauso wenig wie das beinahe schon zwanghafte Kontrollieren der Klickzahlen. Ich weiß nur noch nicht richtig, wie ich das einordnen soll.

Was ich weiß, ist, dass das Tuscheln in der Schule nicht aufhört. Im Gegenteil, es ist lauter als sonst. Oder achte ich wieder mehr darauf?

 

Als ich neben meinen Geschwistern und Helena die Schule betrete, stecken einige Schülerinnen links und rechts von uns die Köpfe zusammen.

 

„Girl in the Crowd.“

 

„Mega Song.“

 

„Ist sie das?“

 

Ich versuche, mich zwischen Ruth und Helena zu verstecken, um den neugierigen Blicken zu entkommen, denn obwohl diese leisen Kommentare freundlich klingen, macht sich Anspannung in mir breit. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis wieder andere Kommentare fallen. Meine Beklemmung wird stärker, als meine Schwester sich von uns verabschiedet und ich mit Helena allein zurückbleibe und wir auf den Oberstufentrakt zusteuern.

 

„Hey, entspann dich, die sind alle voll begeistert“, sagt Helena und legt ihren Arm um meine Schulter.

 

„Meinst du?“

 

„Ich meine nicht nur, ich sehe und höre.“ Wenige Meter von der Tür zum Matheraum bleibt sie stehen, lehnt sich an die Wand und vergräbt mit zufriedenem Gesicht die Hände in ihren Jackentaschen.

Ich bin noch skeptisch und lasse unsere Stufenkameradinnen und Kameraden nicht aus den Augen. Sind das wirklich freundliche Blicke?

 

Paula kommt den Flur entlang und ist schon halb an mir vorbei, als sie noch einmal stehen bleibt und sich mit einem breiten Lächeln mir zuwendet.

 

„Hi, Judith. Voll cooles Video.“

 

Kurz liegt mir die sarkastische Frage auf der Zunge, welches Video sie meint. Das letzte Mal, dass ich sie von einem Video mit mir habe reden hören, ging es nicht um einen Musikclip, und ihre Worte waren auch nicht gerade wertschätzend. Ich weiß, ich sollte nicht nachtragend sein, aber wieso sollte Paula plötzlich ehrliches Interesse an mir haben? Sie einfach zu ignorieren, kommt mir allerdings auch falsch vor.

 

„Danke“, sage ich schließlich. Ob mir ein dazu passendes Lächeln gelingt, weiß ich nicht, es fühlt sich etwas schief an, aber Paula macht es mit ihrem Lächeln, von dem ich inzwischen sicher bin, dass es aufgesetzt ist, wieder wett.

 

„Wie hast du die Rolle bekommen?“, fragt sie.

 

„Sie hat sich beim Casting gegen 237 andere durchgesetzt“, sagt Helena trocken und zieht mich mit sich in den Klassenraum, noch ehe mir eine Erwiderung auf Paulas Frage einfällt.

 

„Hohle Nuss“, murmelt Helena, während wir uns auf unsere Plätze setzen.

Paula betritt mit hocherhobenem Kopf den Raum und der Blick, den sie in unsere Richtung wirft, ist eindeutig nicht mehr freundlich. Trotzdem kann ich nicht anders als zu grinsen. Helena ist Beste.

 

Auch Freddy lacht, als ich ihm am Abend davon erzähle. „Genau die richtige Antwort. Lass dich von denen nicht dumm anmachen. Du warst super.“

 

„Ihr aber auch. Die sollten mehr über den Song als über mich reden.“

 

„Hm, vielleicht.“ Freddy klingt plötzlich nicht mehr so überzeugt wie noch vor einer Minute.

 

„Ist alles okay?“

 

Er seufzt. „Nee. Ich wäre gern wieder zu Hause.“

 

„Das kann ich verstehen“, sage ich, werde aber das Gefühl nicht los, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. „Hast du mit deiner Mutter schon gesprochen?“

 

„Nur kurz, sie war ziemlich k.o. nach der Chemo heute.“ Freddys Stimme zittert und einmal mehr wünsche ich mir, aus völlig unegoistischen Gründen, ich könnte ihn herbeamen. Wieso war ich so bescheuert, seiner Mutter recht zu geben, als sie ihn überredet hat, zur Berufsschule zu fahren? Es hätte mir doch klar sein müssen, dass es für ihn die reine Folter sein muss, dort unten in Bayern festzusitzen, während seine Mutter im Krankenhaus liegt.

 

„Ich fahre morgen vorm Training in der Klinik vorbei und schau bei deiner Mutter vorbei, wenn’s für dich okay ist.“

 

„Klar, sie freut sich bestimmt“, antwortet Freddy erstickt und mir geht zu spät auf, dass ich mit meinem Angebot zusätzlich Salz in seine Wunde gestreut habe. Und noch etwas wird mir in diesem Moment klar. Seine Mutter wird sich freuen, wenn ich komme, aber Freddy braucht mich noch mehr. Ich stelle unser Gespräch auf laut und suche im Browser nach Zugverbindungen.

 

„Habt ihr am Wochenende wieder etwas geplant?“, frage ich gleichzeitig.

 

„Keine Ahnung, wir haben noch nicht so viel gesprochen.“

 

Auf dem Bildschirm öffnen sich die Verbindungen nach Mittenwald für morgen. Wenn ich direkt nach der Schule losfahre, könnte ich um halb elf in Bayern sein, das würde gehen. Ich schlucke, als mir der Preis angezeigt wird. 160€, Einzelfahrt. Trotzdem klicke ich auf Rückfahrt hinzufügen. Hin- und Rückfahrt 312€. Für weniger als zwei Tage, schließlich müsste ich Sonntagmittag auch wieder zurück. Verdammt viel Geld für verdammt wenig Zeit. Doch obwohl meine Vernunft irgendwo in meinem Hinterkopf wild mit den Armen rudert und sich die Seele aus dem Leib schreit, wie verrückt ich eigentlich bin, sagt mein Herz mir, dass ich mich längst entschieden habe.

 

Ich werde am Wochenende zu Freddy fahren.

 

„Liegt noch Schnee bei euch?“

 

„Hier unten im Tal nicht, aber weiter oben schon. Wieso?“

 

„Machst du am Samstag mit mir eine Schneewanderung?“ Mein Daumen schwebt über dem Kaufen-Button.

 

Es raschelt und quietscht in der Leitung und ich vermute, dass Freddy sich ruckartig auf seinem Bett aufsetzt. „Was? Wie soll das gehen?“

 

„Ich komme dich besuchen.“

 

Freddy keucht. „Bist du verrückt? Das ist scheißeteuer!“

 

„Passt schon, ich habe noch etwas von dem Geld, was ich für England gespart hatte. Außerdem will ich mit dir eine Schneewanderung machen.“ Und ich will dich sehen, setze ich in Gedanken hinzu. Ich will bei dir sein, dich küssen und nie wieder loslassen. Noch immer halte ich den Finger ein paar Millimeter über dem Kaufen-Button, während es einige Sekunden still bleibt in der Leitung.

 

„Du kommst meinetwegen, oder?“, fragt Freddy schließlich leise. Es klingt nicht vorwurfsvoll, sondern vielmehr unsicher. Als ob er es nicht glauben könnte, dass ich seinetwegen den weiten Weg auf mich nehmen will.

 

„Ja“, gebe ich daher unumwunden zu.

 

„Bitte, Judith, das ist verrückt“, sagt er noch einmal. „Verschleudere nicht meinetwegen so viel Geld für ein Wochenende.“

 

„Es ist nicht verschleudert“, sage ich

 

und drücke auf Kaufen. Freddy hat recht, es ist verrückt, aber ich habe genauso recht. Wenn ich für dieses Geld Zeit mit Freddy verbringen kann, ist es jeden Cent wert. „Holst du mich morgen um halb elf am Bahnhof ab?“

 

Ich kann Freddy lächeln hören, dieses geräuschvolle Ausatmen, bei dem er, wie ich weiß, die Nase kraus und die Mundwinkel ein Stück nach oben zieht. „Natürlich. Ich freu mich auf dich.“

 

„Echt?“ Für einen Moment gewinnt die Stimme der Vernunft in meinem Hinterkopf und will mir ein schlechtes Gewissen einreden, aber Freddys Antwort erstickt die Zweifel sofort.

 

„Ich kann’s kaum erwarten.“

 

Grinsend und mit einem Schwarm wild flatternder Schmetterlinge lasse ich mich auf mein Bett fallen. „Ich auch nicht.“

 

Erst als ich Minuten später aufgelegt habe und eine Nachricht von Helena lese, ahne ich, dass meine spontanen Pläne fürs Wochenende nicht uneingeschränkt klug sind.

 

Was hältst du von Pizza morgen nach dem Planungstreffen?

 

Verdammt, wir wollten uns morgen mit der Handball-Mannschaft zusammensetzen und brainstormen, was wir unserer Trainerin zum 50. Geburtstag schenken wollen. Kurz flammen noch einmal Gewissensbisse in mir auf, doch dann zucke ich mit den Schultern und drehe mich auf die Seite. Die werden auch ohne mich auskommen. 

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