Kapitel 27 - Wer bin ich wirklich?

Kristina

 

Challenge für heute: Detailaufnahme, die schwer zu erraten ist. (Maximal drei Versuche)

Lächelnd lege ich das Handy zur Seite, sobald ich Noahs Nachricht gelesen habe, und widme mich wieder meinem Tee.

„Was ist los?“

 

„Nichts, was soll sein?“ Ich lasse das Lächeln fallen und schenke Joshie einen, so hoffe ich, neutralen kurzen Blick. Aber meine beste Freundin lässt sich nicht beirren.

 

„Tu nicht so. Seit Tagen grinst du immer, sobald du dein Handy in der Hand hast, und du singst in einer Tour vor dich hin.“

„Ich habe nicht gegrinst, höchstens gelächelt.“ Joshie hebt fragend die Augenbrauen und ich beiße mir ertappt auf die Zunge. Verdammt. „Und ich bin Musikerin, ist es da nicht völlig normal, zu singen?“

 

Joshie lacht spöttisch auf. „Hey, ich bin auch Musikerin, aber ich singe nicht ununterbrochen.“

 

„Dafür trommelst du auf jede Tisch- oder Stuhlkante, die nicht bei drei auf den Bäumen ist“, erwidere ich. Ein schwaches Argument, weil Joshie ausgerechnet jetzt keine Drumsticks in Reichweite liegen hat und auch ihre Finger verdächtig ruhighält.

Ihr forschender Blick ruht auf mir. Ob ich ein Zoombild ihrer Pupille machen sollte, um es Noah als Detailaufnahmen zu schicken?

 

„Könnte es sein, dass deine gute Laune mit einem gewissen Klavierschüler zu tun hat?“

 

Sie spitzt provozierend die Lippen und ich verschlucke mich an meinem Tee. Den Kopf abgewandt huste ich in meine Armbeuge und hoffe, dass Joshie ihre Frage vergessen hat, bis ich wieder normal atmen kann. Naive Hoffnung. Wenn sie sich einmal in etwas verbissen hat, gibt sie so schnell nicht auf.

 

Die Tatsache, dass ich ihrem Blick ausweiche und schweige, ist für sie allerdings Antwort genug.

 

„Wusste ich’s doch. Wie macht Noah sich?“

 

„Joshie, bitte!“, zische ich und versuche mit einem Augenrollen die Lounge unseres Tourbusses zu umschreiben. Jeden Moment könnte einer von den anderen reinkommen, und ich bin nicht heiß darauf mit der ganzen Band über Noah zu reden. Eigentlich würde ich das, was da gerade zwischen uns ist, auch noch ganz gern vor Joshie geheimhalten. Aber der Zug ist wohl abgefahren.

 

Joshie nickt zwar lenkend ein, aber an ihrem vorgeschobenen Kiefer erkenne ich, dass sie das Thema nur für den Moment fallen gelassen hat. Immerhin verschafft mir das genug Aufschub, um die Detailaufnahme anzusehen, die Noah mir gerade eben geschickt hat. Ein grünes Lämpchen und dahinter ein silbergrauer Schatten. Das ist leicht.

 

Ein Mischpult.

 

Mann, wie bist du so schnell darauf gekommen?

 

Ich muss mir auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen.

 

Vielleicht hätte ich dir erzählen sollen, dass ich unsere Songs coproduziere, schreibe ich.

 

Noah schickt ein Schmollgesicht und wieder kann ich mich nicht gegen das Lächeln wehren, das unbarmherzig an meinen Mundwinkeln zupft. Wahrscheinlich ist das Manöver viel zu offensichtlich, trotzdem greife ich nach einer Gitarrenzeitschrift, die vermutlich einer der Jungs hier liegengelassen hat, und blättere durch die Seiten. Von dem, was ich lese, behalte ich zwar nichts, aber dafür kommt mir eine Idee für ein Foto, als ich über den Rand der Zeitschrift auf die Tür der Lounge sehe. Cremeweiß und grün leuchtet dort ein Notausgangschild. Ich schnappe mir mein Handy, öffne die Kamera und zoome an den weißleuchtenden Bereich heran, bis nur noch ein kleiner Zipfel grün in der oberen Ecke des Bildes zu sehen ist. Dann betätige ich den Auslöser und schicke das Bild an Noah.

 

Seine Antwort lässt nicht lang auf sich warten. Dein Scheißernst?

 

Du wolltest eine Detailaufnahme, antworte ich erbarmungslos.

 

Ich hoffe sehr, dass es dir gut geht, und das nicht die Lampe bei einem Zahnarzt oder so ist. Wobei, ein bisschen verdient hättest du es, bei so einem fiesen Rätsel.

 

Danke, tippe ich und füge ein grimmig schauendes Emoji hinzu. Zahnarztlampe stimmt aber nicht. Du hast noch zwei Versuche.

 

Statt eines weiteren Vorschlags schickt er nur ein Emoji mit herausgestreckter Zunge.

Ehe ich mich noch weiter per Chat mit Noah kabbeln kann, reißt Ben die Tür zur Lounge auf und klatscht zweimal energisch in die Hände.

 

„Auf, Mädels. Wir sind gleich da“, ruft er in der Manier eines Footballcoaches aus einer amerikanischen Teenieserie.

 

Ich lasse mein Smartphone in der Hosentasche verschwinden und folge Ben aus der Lounge, während Joshie mit Zeige- und Mittelfinger erst auf ihre Augen, dann auf meine Augen und wieder zurück deutet. Ich seufze. Wäre ja auch zu einfach gewesen.

 

Vor dem Einkaufszentrum, in dem wir heute ein kurzes Set spielen werden, warten bereits einige Fans.

 

Sie stehen und sitzen in kleinen Gruppen zusammen, doch sobald wir aus dem Bus steigen, kommt Bewegung in die Leute. Die meisten zücken ihre Handykameras und streben auf uns zu, werden allerdings von Sicherheitspersonal zurückgehalten, die besänftigend auf die Leute einreden.

 

„Ihr habt gleich beim Meet&Greet alle Zeit der Welt“, höre ich einen Mann von der Security sagen.

 

Das stimmt nicht ganz. Wir werden nach unserem Auftritt nur ungefähr zwei Stunden Zeit für Autogramm- und Fotowünsche der Fans Zeit haben, ehe wir zu der Halle weiterfahren, wo wir heute Abend im Rahmen einer Fernsehshow unsere neue Single vorstellen. Ein paar der Fans weichen nur widerstrebend zurück, der Großteil aber lächelt und winkt uns zwischen den ausgebreiteten Armen der Sicherheitsleute zu.

 

Hinter Freddy und Johnny, die ihre Instrumente geschultert haben, betrete ich das Einkaufszentrum, wo wir von weiterer Security zu einer kleinen Bühne geführt werden. Dass uns auf unserem Weg Fans ansprechen, fotografieren und uns ansprechen, stört mich nicht. Längst habe ich mich an so etwas gewöhnt.

 

Trotzdem fühle ich mich eingeengt. Der Weg, der zwischen Kundschaft, Fans, Sicherheitspersonal und Verkaufsaufstellern der verschiedenen Geschäfte bleibt, ist schmal, weshalb wir immer wieder ins Stocken geraten. Es ist warm, der schwere Duft einer Parfümerie, vermischt mit dem Geruch nach überbackenem Käse kriecht mir in die Nase. Stimmengewirr um uns herum, aus dem oberen Stockwerk, wo sich mehrere Restaurants befinden, dröhnt Geklapper von Besteck und Geschirr, aus den Läden, die wir passieren, dringt Musik. Der House-Beat aus einem Klamottenladen kämpft gegen Chillout-Musik des angrenzenden Geschäfts. Wieso habe ich meine Noisecancelling Kopfhörer bloß im Bus liegenlassen? Wie sollen wir in dieser Geräuschkulisse gleich ein Akustikset spielen?

Ich fixiere meinen Blick auf den kleinen Reißverschlussanhänger an Freddys Gitarrencase, der bei jedem seiner Schritte leicht hin und her schaukelt. Links, rechts, links, rechts. Es hilft ein bisschen, mich von dem Drumherum abzulenken.

 

Um die Bühne herum stehen Absperrgitter, sodass wir endlich etwas mehr Platz haben. Mikros und Verstärker stehen schon bereit, ebenso ein Klavier, sodass wir fast nur noch die Instrumente anschließen müssen. Johnny macht in Windeseile die Person aus, die gleich unseren Ton mischen wird, auf Ben steuert ein Mann zu, der ihn gleich in ein Gespräch verwickelt. Vermutlich der Manager oder Marketingchef des Einkaufszentrums. Während Freddy das für ihn aufgebaute Mikrostativ in die richtige Höhe bringt und Joshie ihre Cajón im hinteren Bühnenbereich aufstellt, löse ich die Bremsen der Rollen am Klavier und verschiebe es ein Stück. Noch steht es parallel zur Bühnenkante, was unpraktisch ist, da ich so durch den hohen Aufbau gleich keinen guten Blick auf die anderen haben werde.

 

„Habt ihr so noch genug Platz?“, frage ich an Freddy gewandt, der schon dazu übergegangen ist, seine Gitarre zu stimmen.

 

Er nickt nur kurz. „Passt.“

 

Nach ein paar Minuten sind wir installiert, machen einen kurzen Soundcheck, während dessen die Menge sich vor und um die Bühne herum verdichtet. Dann tritt der Mann, mit dem Ben sich eben unterhalten hat, neben Freddy, kündigt uns unnötigerweise noch einmal an und wünscht allen viel Spaß.

 

Applaus brandet auf, Handykameras laufen und Freddy tritt ans Mikro.

 

„Vielen Dank. Wir freuen uns, heute hier sein zu dürfen. Unseren ersten Song kennt ihr bestimmt, also singt gern mit.“

 

Sobald die ersten Töne von Trust erklingen, rasten die Fans, die sich um die Bühne drängen, aus. Eine ältere Frau, die versucht, mit ihrem Rollator zum Reformhaus vorzudringen, schüttelt verständnislos den Kopf.

 

Look how far we‘ve come

Can we forever be one?

I pray that it was not in vain

For with you by my side

I can walk through the tides

Shake off my memories’ dust

Because of you I can trust!

 

Die Fans singen ab der ersten Zeile mit, beim zweiten Refrain hält Freddy kurzerhand das Mikro in die Menge, anstatt selbst zu singen. Der Song ist inzwischen ein Selbstläufer, sodass wohl auch kaum auffallen würde, wenn wir nicht spielen würden. Auch bei den nächsten Songs können wir uns auf stimmkräftige Unterstützung aus dem Publikum verlassen.

 

Bei Run veranstaltet Freddy mit den Leuten wie üblich ein kleines Spiel, während wir anderen Rhythmus und Grundakkord ständig wiederholen.

 

Du kannst doch mehr als immer nur die gleichen vier Akkorde zu spielen.

 

Der Satz, den Irena mir vor ein paar Wochen an den Kopf geworfen hat, durchzuckt mich so plötzlich, dass ich mich verspiele. Aber da das Publikum gerade damit beschäftigt ist, Freddys Terzen nachzusingen, fällt es wohl niemandem auf.

 

Irena. Wenn sie wüsste, dass ich gerade nicht einmal vier, sondern nur einen Akkord spiele … Wahrscheinlich würde sie mich musikalisch enterben.

Wenn ich auf sie gehört hätte, wäre ich heute nicht hier. Ich würde nicht diese Musik spielen. Vermutlich müsste ich mich auch nicht von Security durch ein Einkaufzentrum eskortieren lassen und dabei trotzdem lächeln, als ob ich mir nichts Schöneres vorstellen könnte.

 

Hatte Irena doch recht? Gehöre ich nicht hierher?

 

„Ja, nice, ihr habt es richtig drauf, dann jetzt noch mal alle zusammen!“, ruft Freddy in diesem Moment und gibt uns das Zeichen, den Song fortzusetzen.

 

Ich leite zum nächsten Akkord über, wir singen noch zweimal den Refrain von Run und Freddy kündigt in den Applaus Girl in the Crowd, den letzten Song unseres Sets, an.

 

„Ah, ich liebe das Lied!“

 

Die Stimme ertönt dicht hinter mir und ich drehe mich um. Ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, steht neben einer Frau an der Absperrung und klatscht begeistert, während ihre Augen strahlen wie die Scheinwerfer, die auf uns gerichtet sind.

 

Während wir spielen, sehe ich immer wieder zu ihr hin. Sie sing jede Zeile mit, wippt im Takt mit und klopft mit den Fingern auf das Gitter, als ob sie Klavier spielen würde. Ich lächle ihr zu, treffe ihren Blick, sie lächelt zurück.

 

Egal, was Irena neulich gesagt hat, ich bin hier richtig.

 

Ein paar Stunden später sitze ich in der Künstlergarderobe, die ich mit Joshie teile, vor dem Spiegel und richte meine Frisur.

 

Auf dem Display meines Smartphones erscheint eine neue Nachricht von Noah.

 

Eine alte Straßenlaterne?

 

Mit verschmitztem Lächeln lege ich eine Haarnadel zur Seite und teile Noah bedauernd mit, dass er auch mit seinem dritten Versuch leider danebenliegt.

 

Keine Zahnarztlampe, keine Leuchtreklame, keine Laterne. Der Punkt geht wohl an mich.

 

Okay, ich gebe mich geschlagen. Aber was ist es denn nun?

 

Ich schicke ihm die Auflösung und Noah antwortet mit augenrollendem Emoji.

 

Kaum habe ich das Handy zur Seite gelegt, lehnt Joshie sich mit vor der Brust gekreuzten Armen an den Tisch vor dem Spiegel.

 

„So, jetzt mal ehrlich. Was ist das mit deinem Klavierschüler?“ So wie sie es sagt, fehlt nur noch, dass sie das Wort Klavierschüler mit Fingern in Anführungszeichen setzt.

 

„Wozu fragst du eigentlich, wenn du die Antwort sowieso schon zu kennen glaubst?“

 

Joshies Gesichtszüge, eben noch hart und unbarmherzig, werden weich. „Weil ich es gern von dir hören würde. Ich bin deine beste Freundin, schon vergessen?“

 

„Natürlich nicht“, versichere ich und lege meine Hand auf ihre. „Es ist nur …“

 

„Jetzt sag nicht kompliziert.“

 

Ich seufze. „Nein, … doch. Also eigentlich wollte er wirklich nur Klavierunterricht von mir. Aber wir haben beide gemerkt, dass da mehr ist. Das ist so seltsam, Joshie. Obwohl ich ihn erst ein paarmal gesehen habe, habe ich das Gefühl, dass er mich versteht.“

 

Joshie verzieht skeptisch den Mund. „Ist das nicht das, was Boygroup-Sänger vermitteln sollen?“

 

„Klar, nach außen hin. Aber wenn wir uns treffen, ist er nicht einer von Five2Seven. Er ist …“ Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was Noah mir bedeutet, aber Joshie errät es auch so und schlägt sich die gefalteten Hände vor die Brust.

 

„… einfach wunderbar?“

 

Ich muss lachen, aber dann nicke ich. Es ist nicht das Wort, das ich gewählt hätte, aber es trifft es schon.

 

„Was ist daran dann kompliziert? Wenn ihr euch einig seid, ist doch alles tutti.“

 

Mit einer kreisenden Kopfbewegung umschreibe ich den Raum und deute auf meinen Backstagepass, der neben mir auf dem Tisch liegt.

 

„Das Ding ist, dass wir für alle anderen eben nicht einfach Noah und Kristina sind.“

 

Joshie nickt langsam, schaut dabei gedankenverloren auf die gegenüberliegende Wand, und wendet sich mir dann wieder zu. „Aber da ist noch etwas anderes, das dich bedrückt.“

 

Gerade habe ich einen meiner Zöpfe aufgedreht, jetzt lasse ich ihn los und er entrollt sich über meinem Arm. „Wie kommst du darauf?“

 

„Du bist seit Usedom irgendwie seltsam drauf. Mal total engagiert bei der Musik, dann wieder geistesabwesend. So wie heute bei Run.“  

 

Wie auf Knopfdruck breitet sich ein Brennen in meiner Kehle aus und mein Magen scheint sich zu verknoten. Natürlich hat Joshie trotz Tourstress wahrgenommen, dass etwas anders ist. Sie hat diesen siebten Sinn. Hat sie mich in Bezug auf Noah ungeduldig und herausfordernd angesehen, ruht ihr Blick jetzt ruhig auf mir. Sie gibt mir Zeit. Dieses Vertrauen gibt mir die Kraft und den Mut, mich ihr zu öffnen, und ich erzähle ihr von der Begegnung mit Irena und ihrem Angebot. Joshie muss ich nichts erklären, sie hat meine ehemalige Klavierlehrerin mehr als einmal in Aktion erlebt.

 

„Shit“, murmelt sie, sobald ich geendet habe. Dann huscht ein Grinsen über ihr Gesicht. „Wenn du wieder bei ihr anfängst, könnte das vielleicht die Beziehung zu Noah erleichtern.“

 

Ich zucke zusammen. Mir ist klar, dass Joshie das nur im Scherz gemeint hat, aber mir ist nicht zum Lachen. Ich werde nie wieder einfach nur Kristina sein. Die Frage ist nur, ob ich zu der Kristina von Escape auch noch in diese alte Rolle schlüpfen will. 

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