Kapitel 31 - Erwischt

Kristina

Noah und ich fahren auseinander. Einen Moment lang starren Ben und wir uns an, bis Ben sich als erster wieder fängt.

„Hab mein Ladekabel vergessen“, sagt er und steuert auf seinen Platz zu, hinter dem tatsächlich ein Ladekabel aus der Steckdose hängt. Er zieht es heraus, wickelt es auf, steckt es in die Hosentasche. Noah und ich sehen ihm stumm zu. Mein Herz schlägt noch wie verrückt.

Ben dreht sich um, sieht mich entschuldigend an und will wohl wieder gehen, als sein Blick eine Sekunde länger an Noah hängenbleibt und er große Augen macht.

„Holy …“, entfährt es ihm.

 

„Ben, das ist Noah. Noah, Ben“, sage ich hastig, ins Englische wechselnd.

 

Ein Ruck geht durch Noahs Körper und lächelnd geht er mit ausgestreckter Hand auf Ben zu. „Hi, schön dich zu treffen.“

 

„Ebenso.“ Ben nimmt Noahs Hand und schüttelt sie kurz, sieht dabei aber hauptsächlich mich an. In seinem Gesicht spiegeln sich Überraschung, Fassungslosigkeit, vielleicht ein Hauch von Amüsiertheit, aber dieser Teil ist verschwindend gering. „Na ja, ich muss dann auch wieder. Wir sehen uns morgen.“ Er deutet ein Winken an.

 

„Ja, bis dann“, bringe ich hervor.

 

Kopfschüttelnd dreht Ben sich um. „Ihr müsst verrückt sein“, murmelt er im Rausgehen. Auf Englisch und laut genug, dass Noah und ich es hören müssen.

 

Als die Tür hinter Ben ins Schloss fällt, atmen wir beide auf. Doch die Ruhe, die anfangs zwischen uns geherrscht hat, ist verflogen. Noch immer stehen wir ungefähr zwei Meter voneinander entfernt.

 

„Verdammt, es tut mir so leid. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand kommen würde“, sprudelt es aus mir heraus, weil ich irgendwie der Anspannung in mir Luft machen muss.

 

Noah zuckt mit den Schultern. „Das ist doch nicht deine Schuld, dass Ben sein Ladekabel vergessen hat.“ Er grinst, wird aber gleich wieder ernst. „Glaubst du …“ Er zögert und ich sehe ihn abwartend an, bis er sich entschließt, weiterzureden. „Glaubst du, er wird etwas sagen?“

 

„Du meinst der Presse?“

 

Noah nickt langsam und senkt dabei den Blick. Die Frage ist ihm peinlich, das ist nicht zu übersehen.

 

„Auf keinen Fall“, sage ich entschieden. Ich bin mir dessen absolut sicher. Ben ist vielleicht nicht die emphatischste Person unter der Sonne, aber er ist kein Arsch, und schon gar nicht leichtsinnig, was die Medien betrifft. Das macht mir viel mehr Sorgen. Er wird mich darauf ansprechen, aber das behalte ich vorerst für mich. Noah und ich haben nur ein paar Stunden gemeinsam, und die will ich nicht mit Gedanken an Ben verschwenden.

 

Viel habe ich nicht geschlafen und es kommt mir vor, als hätte ich den Proberaum gar nicht verlassen, als ich am nächsten Morgen zurückkomme. Immerhin sind außer Ben auch Johnny und Freddy schon da, sodass mir ein peinliches Verhör von Ben erspart bleibt. Sein forschender Blick entgeht mir jedoch nicht. Eilig stelle ich mich hinters E-Piano und schalte es an, wobei ich allerdings beste Sicht auf den Sitzsack in der Ecke habe.

 

Ob die Kuhle in der Mitte Rückschlüsse darauf zulässt, dass Noah und ich gestern Abend dort gelegen haben?

 

„Moin!“ Joshie kommt schwungvoll herein, sie hat offenbar fantastisch geschlafen.

Fairerweise muss ich zugeben, dass ich aktuell jeden Schlaf, der länger als fünf Stunden geht, als fantastisch bezeichnen würde.

Joshie umarmt mich im Vorbeigehen und lässt sich hinter ihren Drums auf den Hocker fallen. Innerhalb von Sekunden hat sie die Sticks in der Hand und lässt einen Trommelwirbel auf der Snare erklingen. „Sind wir soweit?“

 

Sofort nicke ich. Solang wir proben, kann Ben mich nicht über Noah ausfragen. Johnny, der bis eben noch mit unserem Toningenieur Georg gesprochen hat, kommt zu uns, hängt sich seinen Bass um und steckt die Inears in die Ohren. Wir tauschen ein paar schnelle Blicke mit Georg und untereinander, dann gibt Joshie das Tempo vor und wir legen los.

 

Die Probenarbeit und die Auftritte in den letzten Wochen zahlen sich aus, wir sind gut eingespielt. Nun gilt es, die eher gemütlichen Sets von der Clubtour für die anstehenden Festivals aufzupeppen. Platztechnisch kann unser Proberaum mit einer großen Festivalbühne natürlich nicht mithalten. Für den Ausblick hat Johnny grinsend das Bild eines Festivalpublikums an die Wand gebeamt, und irgendwie hilft es, mich in Stimmung zu versetzen. Als Ben im Refrain von Run die Hände über den Kopf hebt, erwarte ich fast, dass es das Publikum auf dem Bild ihm nachtut und im Takt klatscht.

 

Unsere alten Songs laufen super, wir spielen sie, um warm zu werden. An den neuen müssen wir noch etwas arbeiten. Bei Bens neuem Song And Action verlieren wir uns in der zweiten Strophe.

 

Joshie bricht aus dem Beat abrupt ab, was uns ebenfalls irritiert abbrechen lässt.

„Ach Leute, das Tempo mache ich“, mault Joshie und zeigt mit den Sticks auf sich.

 

„Dann mach aber auch ein Tempo, bei dem andere noch die Chance haben mitzukommen“, kontert Ben.

 

„Hey, das Lied heißt And Action. Dann lass uns auch Action liefern.“

 

„Aber weder wir noch das Publikum sollen dabei hyperventilieren“, gibt Ben auf Joshies Einwand zurück.

 

„Hört auf, euch zu streiten“, ruft Georg uns vom Mischpult zu. „Macht den Song nochmal. Bisschen langsamer als eben.“

 

Joshie schlägt die Sticks gegeneinander und verzieht dabei so gequält das Gesicht, als würde es ihr physische Schmerzen bereiten, langsamer spielen zu müssen. Dabei ist dieses Tempo immer noch zügiger als die Studioversion.

 

Als wir die ersten sechs Songs geprobt haben, steht uns allen der Schweiß auf der Stirn.

 

„Kurze Pause“, bestimmt Freddy, und um der aufgeheizten Luft des Proberaums zu entkommen, verziehen wir uns alle nach draußen.

 

Ich schnappe mir im Rausgehen meine Thermoskanne mit Tee, einen Schokoriegel und eine Flasche Wasser und setze mich wie so oft schon neben Joshie auf die Bank.

 

„Magst du?“, frage ich und halte ihr ein Stück der Schokolade hin.

 

Sie verzieht das Gesicht.

 

„Es sind nur 75 Prozent Kakaoanteil, das ist fast Vollmilch“, sage ich. „Und es ist Orangenschale mit drin, das erfrischt total.“

 

Joshie wirkt wenig überzeugt und zieht stattdessen eine Tüte mit getrockneter Mango hervor. „Ich bleibe lieber hierbei. Aber erzähl, wie war es gestern?“

 

Sie spricht leise, trotzdem sehe ich mich vorsichtshalber um.

 

Nach dem Foto von Freddy und mir, von dem wir immer noch nicht wissen, wer es aufgenommen hat, bin ich unsicher geworden. Aber Johnny steht rauchend abseits von uns, Ben neben ihm, mit seinem Smartphone beschäftigt, und auch Freddy tippt auf seinem Handy. So wie er lächelt, schreibt er vermutlich gerade mit Judith. Auch Kamera oder Mikro kann ich nicht entdecken – wobei das wahrscheinlich der Witz der Sache ist, dass ich versteckte Mikros nicht sehen kann. Ich beuge mich ein Stück vor.

 

„Es tat gut, ihn wiederzusehen“, flüstere ich. „Leider ist Ben dazwischen geplatzt.“

 

Joshie fällt vor Schreck die Tüte mit der Mango aus der Hand. „Oh fuck. Was wollte der denn so spät?“

 

„Er hatte sein Ladekabel vergessen.“

 

Joshie vergräbt stöhnend das Gesicht in der Hand. „Aber ihr wart hoffentlich noch angezogen?

 

„Ja, er hat nur unseren Begrüßungskuss gestört.“ Ich fasse kurz zusammen, was passiert ist und wie Ben reagiert hat, was Joshie zu einer mitleidigen Miene veranlasst.

 

„Echt schade, dass ihr nur so wenig Zeit hattet. Ich hoffe, ihr hattet trotzdem einen schönen Abend.“

 

Ich lächle geheimnisvoll. Joshie reicht das als Antwort. Da ich von Noah heute Morgen noch nichts gehört habe, platziere ich mein Handy auf der Setlist neben dem Keyboard. Vielleicht ist es albern, aber ich möchte es sofort sehen, wenn er schreibt, und ihm antworten. Besonders nachdem er mir verraten hat, wie eng sein Zeitplan, eigentlich die ganzen nächsten Wochen, gestrickt ist.

 

Als wir einen von Freddys neuen Songs zweimal gespielt haben, leuchtet das Display vor mir auf. Noah schickt ein Bild von drei ineinander gestapelten Pappbechern.

 

Promo-Dreisatz: Radio x Kaffee : immer die gleichen Fragen = müde

 

Mich überkommt der Wunsch, Noah nicht nur zu schreiben, sondern ihn irgendwo einzuschließen, wo er sich die nächsten drei Wochen ausschlafen kann. Ja, auch ich bin müde und habe viel zu tun. Aber das, was Noah und die anderen Jungs von Five2Seven mitmachen, grenzt fast schon an Folter.

 

Ich strecke die Hand nach dem Smartphone aus.

 

„Kristina?“

 

„Hm?“ Überrascht sehe ich auf, wobei ich eine Sekunde brauche, um Freddy als Urheber der Stimme auszumachen. Er sieht mich fragend an. „Was denn?“

 

Ehe Freddy seine Frage, die ich offenbar verpasst habe, wiederholen kann, schüttelt Ben genervt den Kopf und wirft sein Plek auf den Verstärker.

 

„Hör auf mit Noah zu chatten und konzentrier dich lieber.“

 

Langsam nehme ich die Hände von den Tasten, starre Ben fassungslos an. „Was soll das?“

 

Unabhängig davon, dass ich mich ertappt fühle, empfinde ich sein Verhalten als übergriffig. Es hat ihn nichts anzugehen, mit wem ich schreibe, und er hat schon gar nicht das Recht, das alles vor der Band und Georg anzusprechen. Wieso tut er das?

 

Ben scheint sich jedoch keiner Schuld bewusst. „Wir wollen hier doch vorankommen, oder? Da brauchst du nicht nebenher schreiben.“

 

„Gewagte Behauptung von demjenigen, der jeden dritten Takt für Instagram festhält“, sage ich. Das war übertrieben und auch nicht fair, wenn ich ehrlich bin, aber in mir brodelt es. Wenn Bens Handy nicht auch die ganze Zeit griffbereit neben ihm liegen würde, hätte ich mich jetzt vielleicht entschuldigt, aber dass er mir ausgerechnet mit diesem Argument kommt, nervt mich.

 

„Das ist Teil meiner Arbeit“, erwidert er. „Während du es scheinbar darauf anlegst, dass ich demnächst noch mehr zu tun habe.“

 

Das reicht! Hitze schießt mir in die Wangen und in meinen Fingerspitzen kribbelt es. „Okay, Ben, was ist dein Problem?“, frage ich kalt.

 

Bens Miene ist jedoch ähnlich hart wie meine. „Du bringst uns mit deinem Verhalten in Teufels Küche. Hat dir das Gerücht über Freddy und dich nicht gereicht? Legst du es wirklich auf einen Skandal an?“

 

Ben ist mit jeder Frage lauter geworden, seine Wangen sind gerötet und für einen Moment sieht es aus, als würde er aufspringen und mir an die Kehle springen wollen.

 

Johnny weicht ein Stück hinter ihm zurück und umklammert beinahe krampfhaft den Hals seines Bass. Freddy schaut sichtlich verwirrt zwischen Ben und mir hin und her.

 

„Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?“

 

Ben kneift die Lippen zusammen, aber sein Blick ist eindeutig. Sag’s ihnen.

 

Alle Muskeln in mir spannen sich, Hitze jagt durch meinen Körper. Er hat kein Recht, mich vor den anderen unter Druck zu setzen und zu zwingen, meine Beziehung offenzulegen. Noah und ich wissen ja selbst nicht einmal, was das zwischen uns genau ist und wie es weitergehen soll. Müssten wir selbst uns nicht zuerst darüber klarwerden dürfen? Aber bevor Ben gleich irgendetwas von sich gibt, was ich nicht beeinflussen kann, erkläre ich es lieber selbst, so zuwider es mir auch ist.

 

„Ich habe mich gestern Abend mit Noah Hammond getroffen.“ Jetzt ist es raus.

 

Ben schnaubt verächtlich, Freddy und Johnny sehen überrascht aus. Nur Joshies und Georgs Mienen bleiben entspannt. Für einen Moment breitet sich Schweigen im Proberaum aus. Zeit und trügerische Stille, in der ich mir meinen nächsten Satz zurechtlegen kann.

 

„Okay“, sagt Freddy schließlich gedehnt. Es klingt nach einer Frage.

 

„Er hat mich vor einiger Zeit gebeten, ihm Klavierunterricht zu geben“, erzähle ich. Am besten ist es, wenn ich so dicht wie möglich an der Wahrheit bleibe. „Aber da ist mehr zwischen uns.“

 

Das muss den anderen als Info reichen. Freddy und Johnny erzählen mir schließlich auch keine Details über ihre Beziehungen. Ob Ben gerade irgendwen datet, weiß ich nicht einmal, und es geht mich auch nichts an.

 

„Wow“, entfährt es Johnny. Mehr sagt er nicht dazu, und ich bin ihm dankbar dafür. Auch Freddy enthält sich eines Kommentars, er sieht lediglich etwas besorgt aus. Aber er wird mir keinen Vorwurf machen, das weiß ich.

 

„So, dann wisst ihr es jetzt. Vielleicht sollten wir den Rest Kris und Noah selbst überlassen“, sagt Joshie ruhig. Jede Ironie, die sonst in beinahe jedem ihrer Sätze mitschwingt, ist verschwunden, und zeigt zumindest mir, wie wichtig es ihr ist.

 

Ben massiert sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und schüttelt den Kopf.

„Wollt ihr es nicht verstehen oder habt ihr tatsächlich keine Ahnung?“, ruft er, leiser als eben, aber noch immer deutlich aufgebracht. „Wenn das rauskommt, ist die Hölle los. Die Medien werden sich auf euch stürzen und in jedem verdammten Interview wird es nur um eure Beziehung gehen. Alle Five2Seven-Fans, die für Noah schwärmen, werden unser Profil mit einem Shitstorm überhäufen und ich kann 24/7 nur noch Kommentare löschen. Der Troll, der es gerade auf Johnny abgesehen hat, reicht mir schon.“

 

Ich sehe zu Johnny rüber. Von Hasskommentaren gegen Johnny habe ich nichts mitbekommen. Offenbar hat Ben, was das angeht, einen guten Job gemacht. Ehe ich nachfragen kann, redet Ben jedoch weiter.

 

„Und ist dir mal eingefallen, dass Noah ein dickes Problem bekommen könnte, wenn er erwischt wird? In seinem Vertrag steht doch garantiert, dass er keine Freundin haben darf.“

 

Der Satz ist wie ein Tritt in die Magengrube. Verdammt. Daran habe ich tatsächlich nicht gedacht.

 

„Und seit wann halten Gefühle sich an Verträge?“ Freddy zuckt mit den Schultern, auch wenn die Sorge aus seinen Augen nicht ganz verschwinden will.

 

Meine Lippen formen ein Stummes Danke in seine Richtung, bevor ich mich wieder Ben zuwende. „Das war nicht geplant, das kannst du uns glauben. Aber wir sind vorsichtig, versprochen. Außerdem haben wir in den nächsten Wochen sowieso keine Zeit uns zu sehen.“

 

Beim letzten Satz bildet sich ein dicker Kloß in meinem Hals, der mir das Sprechen beinahe unmöglich macht. Dazu kommt der beißende Schmerz in meiner Brust, weil mir, während ich es ausspreche, wieder deutlich bewusst wird, dass es lang dauern wird, bis ich Noah wieder umarmen darf. 

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