Kristina

Tag zwei ohne Noah. Tag zwei mit dem Schmerz. Die Watte um mich herum hat sich etwas gelichtet, dafür hat sich das brennende Stechen in mir festgesetzt. Es bleibt, egal, was ich tue. Es begleitet sogar die Musik.
„Wie hast du geschlafen?“, fragt Joshie leise, obwohl von den anderen niemand in der Nähe ist. Sie führt die Kaffeetasse zum Mund, trinkt aber nicht, sondern schaut mich über den Rand besorgt an.
„Geht so.“
Das fasst es nicht einmal ansatzmäßig.
Obwohl die Promo-Termine anstrengend und ich hundemüde war, habe ich mich in meiner Koje ewig hin und her gewälzt. In den wenigen Stunden, die ich geschlafen habe, verfolgten mich Bilder, die ich seit zehn Jahren zu verdrängen versuche. Bis vor kurzem ist es mir meistens gelungen, nicht zu oft daran zu denken. Jetzt ist alles wieder da. Aufgewühlt durch ein Lied. Noahs Lied.
Joshie schließt für einen Moment die Augen und seufzt. „Kris, so kann es doch nicht weitergehen. Du gehst kaputt.“
Ich starre auf die dampfende Oberfläche meines Tees, bis die Hitze mir Tränen in die Augen treibt. Oder waren die vorher schon da? „Was soll ich denn machen?“
„Du könntest darüber reden.“
„Habe ich doch. Aber du weißt ja schon alles.“
Ein zweiter Seufzer, diesmal eindeutig genervt. „Nicht mit mir. Mit einem Therapeuten.“
Ich ziehe die Beine an, drücke mich in die Ecke des Sitzes. „Der kann auch nichts an dem ändern, was passiert ist.“
„Aber er kann dir helfen, damit zurecht zu kommen.“
„Ich komme zurecht“, erwidere ich und glaube mir selbst nicht.
„Das kannst du vielleicht den Fans weißmachen, aber wenn du so weitermachst, werden auch die dir das früher oder später nicht mehr abnehmen.“ Joshie knallt die Kaffeetasse auf den schmalen Tisch und legt ihre Fingerspitzen auf mein Knie. „Was hält dich ab?“
Ihre Stimme ist so sanft, die Berührung so zart wie damals. Und doch so präsent. Sie wird nicht gehen. Obwohl die Hitze auf der Haut schmerzt, presse ich meine Finger enger um die Teetasse und schaue auf den Wasserspiegel.
„Sie werden Fragen stellen. Wie damals. Dann kommt alles wieder hoch“, flüstere ich in den Tee.
„Tut es das nicht sowieso?“
Ich hasse es, dass sie recht hat. Dass die Bilder da sind. Der Raum, das Bett, die Tür. Die Stille. Ja, seit damals hat Stille für mich ein Gesicht. Eine Fratze aus Panik, Fragen und Ungläubigkeit. Dazwischen immer wieder dieses leise Geräusch. Klick.
„Es ist okay, Angst zu haben, aber danach wird es besser.“
„Wer garantiert mir das?“
„Niemand“, gibt Joshie zu. „Aber wenn du der Angst kampflos das Feld überlässt, hat sie auf jeden Fall gewonnen.“
Sie hat schon wieder recht. Aber ich kann die Erkenntnis nicht lang halten. Der Schmerz ist noch zu stark. Ich trinke endlich einen Schluck Tee und lege meinen Kopf auf Joshies Schulter. Wenigstens für den Moment bin ich sicher.
Dreimal hintereinander steigen wir auf dem Parkplatz vor dem Fernsehstudio aus dem Tourbus.
Nur zur Sicherheit, wie der Kameramann betont. Vielleicht hat er auch insgeheim darauf gewartet, dass der Hauch von Wolke am knallblauen Himmel sich ein winziges Stück über die Sonne schiebt, damit das Licht irgendwie besser wirkt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet die Einstellung, wie wir aus dem Bus steigen, Extrapunkte bei den Fans sammelt. Aber sei es drum. Das Kamerateam werden wir in den nächsten Tagen ohnehin nicht los. Eine Woche mit Escape soll die Doku heißen, die ein Privatsender ausstrahlen will.
Tourleben, Promo, Proben und als krönender Abschluss der Album-Release, das wird großartig. Ich setze ein Lächeln auf, tue ansonsten aber so, als sei die Kamera überhaupt nicht da. Trotzdem bin ich froh, dass der Kameramann eher Freddy in den Fokus nimmt, der lässig seinen Gitarrenkoffer in der Hand hält und auf den Eingang des Studios zusteuert.
In der Maske läuft eine Playlist, deren Lieder die beiden Visagistinnen ausgelassen mitsingen. Die Intonation stimmt nicht immer, ihre Begeisterung ist umso größer. Sogar Johnny, der neben mir geschminkt wird, stimmt in den Song von Pierrot ein, der sich schon seit Wochen in den Charts hält.
Frag mich nicht,
wohin es geht,
wie es um uns beide steht.
Was weiß ich,
was morgen ist,
ob du dann noch der gleiche bist.
Frag mich nicht.
Ich beiße mir auf die Lippen, unterdrücke einen Aufschrei, zucke aber zusammen. Die Maskenbildnerin, die hinter mir steht und mein Haar bürstet, bezieht es offenbar auf sich und ihre Arbeit.
„Tut mir leid, hat es zu sehr geziept?“
„Ein bisschen, aber schon okay.“ Der leichte Ruck an meinem Haar ist lächerlich im Vergleich zu dem Ziehen in meiner Brust.
„Du hast so schönes Haar, willst du es nicht offen tragen?“
„Auf gar keinen Fall.“
Im Spiegel sehe ich das erschrockene Gesicht der Frau. Vermutlich habe ich mich im Ton vergriffen. Ich lächle entschuldigend. „Tut mir leid“, sage ich ruhiger. „Mein Haar verknotet immer so schnell, wenn ich es offen trage, deshalb würde ich es lieber wie immer hochstecken.“
Dreist gelogen, aber die Maskenbildnerin nimmt es hin und dreht mein Haar zu den üblichen Buns auf, bis mein professionelles Ich mir im Spiegel gegenübersitzt. Kristina von Escape. Die Indie-Musikerin. Das lange, offene Haar, hinter dem ich mich gerade gern verstecken würde, gehört nicht zu dieser Rolle.
Du läufst davon, mahnt Irenas Stimme in meinem Hinterkopf.
Mach ich gar nicht, widerspreche ich stumm. Das ist halt mein Look. So wie Johnny überall nur mit Basecap rumläuft, das er sich auch jetzt wieder aufsetzt.
Das nächste Lied der Playlist läuft an und ich verkrampfe mich auf dem Stuhl. Das Klavier in Moll tropft Ton für Ton aus der Bluetooth-Box.
The evening I saw you sitting there
A silent spark lit up the air
Die Funken, die Noah besingt, zünden in mir. Entfachen tausend neue Brandherde. Der Schmerz schnürt mir die Luft ab. Ich kralle meine Hände in die Stuhllehne. Atmen. Ich muss atmen. Ich weiß, wie das geht. Ein. Aus. Ich kann das. Ein. Aus.
I don’t know how
I don’t know why
„Sorry, könnt ihr die Musik kurz ausmachen?“ Es kostet mich Überwindung, diese Frage zu stellen. Aber ich ertrage die Melodie und Noahs Stimme keine Sekunde länger.
„Klar, kein Problem.“ Die Visagistin, die sich eben noch um Johnny gekümmert hat, klingt pikiert, schaltet den Ton aber aus. Wahrscheinlich hält sie mich für arrogant oder für verrückt, oder beides. Möglicherweise hat sie sogar recht, aber mir fehlt die Kraft, mich zu erklären.
In der aufkommenden Stille schließe ich die Augen, während die Visagistin mich ein letztes Mal abpudert. Von der müden Kristina dürfte gleich im Scheinwerferlicht nichts mehr zu sehen sein.
Leider gibt es nichts, was den Schmerz übertüncht. Gern würde ich nach Joshies beruhigender Hand greifen, als ich kurz darauf neben ihr und Johnny auf dem Studiosofa sitze. Aber wenn eine der Kameras das festhält, wird irgendeine Klatschpresse eine bescheuerte Headline dazu schreiben.
„Wie geht es euch jetzt, eine Woche vor dem Release eures zweiten Albums?“, fragt Carsten, der Moderator. Ein Mann um die fünfzig, der in seinem modischen Jackett nicht aussieht wie jemand, der typischerweise Indie-Rock hört. Aber wahrscheinlich muss er auch Vorgaben vom Sender erfüllen und trägt privat eher Shorts und Hoodie.
„Aktuell noch sehr gut“, sagt Freddy, „es ist so viel zu tun, dass wir das noch gar nicht so richtig fassen können, dass es nächste Woche schon so weit ist. Aber frag uns nochmal nächsten Sonntag.“
Carsten lacht. „Da steigt die Release-Party in Hamburg. Das ist auch neu, oder gab es zu The Crowd and the Quiet auch schon eine Release-Party?“
Johnny lacht auf. „Ja, aber die war sehr klein. Wir haben unsere Familien und engsten Freunde ins Studio eingeladen, zusammen das Album gehört und dann darauf angestoßen, das war’s.“
„Ist euch der Erfolg, den ihr seitdem erlebt, manchmal zu groß? Gerade Indie-Bands wird ja in der Regel unterstellt, lieber klein und eben ganz anders sein zu wollen als der Mainstream.“
„Na ja, ganz ohne Action geht es auch im Indie-Bereich nicht. Wir testen aus, was geht, worauf wir Bock haben, und momentan haben wir das Glück, dass es gut funktioniert“, antwortet Ben. Die eigentliche Frage von Carsten lässt er unbeantwortet.
„Manchmal ist es schon krass, wenn da vor einer Bühne nicht mehr fünfzig oder hundert Leute stehen, sondern auf einmal mehrere tausend. Aber es ist auch total schön zu sehen, dass unsere Musik offenbar so vielen Menschen so viel bedeutet.“
Carsten nickt, lächelt mich an. Habe ich das eben gesagt? Ich habe eine Stimme gehört, habe die Worte verstanden, aber ich kann mich nicht erinnern, sie gesagt zu haben.
„Kommen wir genauer auf eure Musik zu sprechen. Was erwartet uns auf dem kommenden Album?“
Ich imaginiere schwarze und weiße Tasten auf die Kante des geschwungenen Couchtischs, auf dem ein paar Exemplare unseres neuen Albums stehen.
Gedanklich drücke ich die Tasten für den ersten Akkord des ersten Songs des Albums, während Freddy Carstens Frage beantwortet. G-Dur, Wechsel zu a-Moll.
Du kannst doch mehr.
Schon wieder Irenas Stimme. Auch sie hat, verflucht noch mal, recht. Ich stelle mir den ersten Akkord des Klavierkonzerts vor. Ironischerweise auch G-Dur. Aber diesmal schmerzt er. Die Klaviatur verschwimmt vor meinen Augen.
Reiß dich zusammen, du kannst nicht vor laufender Kamera heulen.
„Ihr habt euer zweites Album Everything is fine (we think) genannt. Was hat es mit dem Titel auf sich?“
Ich schlucke, konzentriere mich auf die Umgebung des Studios. Kein Klavier, keine Irena. Keine Vorwürfe. Nur wir, das Fernsehteam und Carsten mit seinen Fragen.
„Wir wurden in den letzten zwei Jahren oft gefragt, wie es uns geht“, sagt Joshie. „Uns geht es gut. Wir sind total happy über den Erfolg, wir sind dankbar, dass wir all das erleben dürfen. Fernsehshows, Tourleben, Festivals. Aber es gibt ja keine Garantie, dass das immer so bleibt. Und bei allem Erfolg gibt es auch bei jedem etwas, das anstrengend ist oder nervt.“
„Was nervt euch? Was ist not fine?“
Solche Fragen. Die Annahme, auf Grund eines Album- oder Songtitels in unser Privatleben eindringen zu dürfen. Ich schlucke und bleibe stumm, während Freddy irgendetwas von zerbrechenden Freundschaften und wenig Zeit für Familie sagt.
Alles, was bei mir not fine ist, presst mich tiefer in das Polster der Couch als der Druck beim Flugzeugstart. Das Feuer tobt in mir, die Hitze der Scheinwerfer tun das Übrige. Das Studio dreht sich. Ich halte mich an der Sofakante fest. Durchhalten. Atmen. Ein. Aus. Es dreht sich schneller. Ich schließe die Augen.
Du kannst mehr. You’re eyes are like a mirror. Ich kann das nicht. Du musst nur etwas sagen.
„Kris!“
Ich öffne die Augen. Erkenne Joshie. Sie hält mich am Arm. Das Studio dreht sich nicht mehr. Dafür wuseln Leute überall herum. Was ist los? Was habe ich verpasst? Bin ich umgekippt?
Nein, ich sitze noch immer auf dem Sofa.
„Was ist los?“
„Schwindelig.“
„Ach Mensch, dafür steht doch das Wasser hier“, tadelt Joshie und greift nach einem der Wassergläser. Ich leere es in schnellen Zügen und finde mit jedem Schluck mehr in die Realität zurück. Eine Realität, die sich zwar nicht mehr dreht, aber immer noch wehtut.
„Alles in Ordnung?“, fragt einer aus dem Fernsehteam, der die anderen Gläser vom Tisch sammelt.
„Ja, alles klar“, behaupte ich.
„Okay. Dann wäre ich euch dankbar, wenn ihr rausgehen würdet. Der nächste Dreh ist in einer halben Stunde.“
„Ja, sorry. Wir sind schon weg.“ Ich bemühe mich um ein unbeschwertes Lächeln, hoffe, dass es mir gelingt. Aber der Typ schaut schon gar nicht mehr hin.
Joshie bleibt dicht neben mir, als ob sie fürchtet, ich könnte doch noch umfallen. Vielleicht ist das nicht unbegründet. Richtig sicher fühle ich mich auf meinen Beinen nicht. Aber ich bleibe aufrecht. So wie die letzten Jahre.
Die anderen sind schon im Tourbus, bis auf Ben, der auf dem Parkplatz auf und ab läuft und in hektischen Zügen an einer Zigarette zieht. Seit wann raucht er? Bislang war Johnny der Einzige von uns, der …
„Wo wart ihr denn so lang?“
„Reg dich ab, Kris musste noch was trinken.“
„Das hättest du doch auch hier im Bus machen können.“
„Nein. Kris ging es nicht gut. Es steckt nicht jeder den Stress so leicht weg wie du.“
Ben schnaubt. „Ich dachte, mit Freund lässt sich das besser aushalten.“
Der Asphalt unter mir scheint sich in ein Laufband zu verwandeln. Schnell halte ich mich an der Bustür fest.
„Mit Noah ist es aus“, sage ich leise.
Joshies überraschtes „Kris?“ mischt sich mit Bens „Wer weiß, wozu es gut ist.“
Joshie erwidert noch etwas, aber ich höre nicht mehr zu, sondern kämpfe mich die Stufen in den Bus, wo ich mich direkt in meine Koje verziehe.
Was habe ich da gesagt? Woher kam dieser Satz? Ein zerreißender Schmerz, den ich bislang nicht kannte, fährt durch mich hindurch. Ich kralle die Hände ins Kissen. Dann ist es vorbei. Dem Reißen folgt ein dumpfes Pochen. Nicht schön, aber auszuhalten. Hat Ben am Ende auch recht?
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