Kapitel 38 - Achtung Abgrund

Noah

„Jawoll! Nice!“ Liam reckt die Faust zur Siegerpose in die Luft.

„Was ist los?“, fragt Andy und greift zum tausendsten Mal seit zehn Minuten in die Tüte mit Weingummi.

Liam reicht ihm das Tablet. Da Andy direkt neben mir sitzt, wäre es ein leichtes für mich, ebenfalls einen Blick auf das Display zu werfen. Stattdessen starre ich aus dem Busfenster, vor dem die Autobahn im Sommerregen verschwimmt.

„Ey, krass. Guck mal!“

„Au.“ Andys Hieb gegen meinen Oberarm trifft mich unvorbereitet, aber er bewirkt, dass ich mich ihm zuwende, wenn auch widerwillig.

 

Andy hält mir das Tablet unter die Nase.

 

Eine Mail von unserer Plattenfirma ist geöffnet und zeigt neben dem kurzen Satz Nur für euch schon mal zur Info den Screenshot einer Tabelle, in der zwei Zeilen rot umrandet sind.

 

Five2Seven, Deep, 8.

Five2Seven, Like a Mirror, 2.

 

Alter Falter! Zwei unserer Songs in den Top Ten der Charts. Vor einer Woche noch hätte ich mich darüber vermutlich gefreut und wäre in Liams und Andys Jubel eingefallen. Jetzt zieht sich alles in mir zusammen und es kostet mich all meine Konzentration, um mich nicht zu übergeben. Mir wäre es lieber, Like a Mirror wäre von den Produzenten genauso abgekanzelt worden wie meine bisherigen Kompositionen, wenn ich dafür noch Kristina hätte.

 

„Glückwunsch, Noah. Das freut mich echt.“ Liam strahlt über das ganze Gesicht, und ich nehme ihm sogar ab, dass er es ehrlich meint. Dieses Konkurrenzdenken zwischen uns war eigentlich von Anfang an affig. Aber ich fühle es einfach nicht.

 

„Danke“, murmle ich trotzdem, weil ich Liam nicht verletzen will.

 

Suma mustert mich nachdenklich, sagt aber nichts. Andy öffnet den Mund, aber bevor er das aussprechen kann, was Suma ganz offensichtlich denkt, schnappe ich mir mein Handy und ziehe mich zurück. Zuerst aufs Klo, wo ich allerdings nur alibimäßig drei Minuten hocke und abwarte, ob mir jemand folgt. Zum Glück bleibt es still. Dennoch öffne ich die Tür so leise wie möglich und gehe auf Zehenspitzen in die obere Etage des Busses, wo ich eine ruhige Ecke finde.

 

Dass ich allerdings meinen Chatverlauf mit Kristina öffne, ist eine absolute Scheißidee. Nicht nur mein Herz, das sich anfühlt, als würde es gleich mindestens gevierteilt, auch eine Stimme in meinem Hinterkopf brüllen mir zu, dass ich das Handy ausschalten und weglegen sollte. Aber das Signal erreicht meine Hände nicht. Meine Finger machen, was sie wollen. Leider scheinen sie von Beruf neuerdings Folterknechte zu sein, denn sie wechseln von unserem Chat zu Kristinas Instagramprofil, und weil es dort nichts Neues zu sehen gibt, direkt weiter zum Kanal von Escape.

 

Dort gibt es Neuigkeiten.

 

Die Stories der letzten vierundzwanzig Stunden zeigen die Band im Tourbus, in Fernsehstudios, geteilte Fotos von einzelnen Bandmitgliedern mit Fans. Von den Personen abgesehen, sind es die gleichen Bilder wie in unseren Stories. Doch ich schaue mir jede einzelne Story an, warte darauf, dass nicht nur Freddy oder Ben zu sehen sind, sondern dass ich einen Blick auf Kristina erhaschen kann. Wenn auch nur für Sekunden.

 

Als endlich ein Bild von ihr auftaucht, bereue ich meinen Wunsch sofort. Dabei sehe ich nur ihre Hände, die in Windeseile über Keyboardtasten gleiten. Sofort habe ich wieder die Melodie im Kopf, die sie gespielt hat, als wir uns in Doms Proberaum liebten.

 

Ich kneife mir ins Handgelenk, um dem Schmerz in meinem Innern entgegenzuwirken. Ich sollte nicht daran denken. Ich sollte mir diese Bilder nicht ansehen. Doch ich unternehme nichts dagegen, lasse auch die nächste Story durchlaufen. Ein Link leuchtet über dem Bild.

 

New Interview

 

Ich folge dem Link, lande in der Mediathek eines deutschen Fernsehsenders. Mein Daumen drückt auf Play. Ein Typ um die fünfzig in modischem Sakko erzählt irgendetwas, ich verstehe nichts. Mein deutscher Wortschatz beschränkt sich auf eine Handvoll mickriger Wörter, von denen allerdings keines in der Ansprache dieses Carstens vorkommt. Aber dann fällt ein Name, den ich verstehe. Escape. Kameraschwenk und da sitzt sie. Zwischen Joshie und Johnny auf dem dunkelblauen Sofa. Kristina.

 

Das Haar zu diesen Buns aufgedreht, ein paar Strähnen lässig ins Gesicht gestrichen. Merkwürdig. Obwohl ich inzwischen schon tausend Bilder von ihr mit dieser Frisur gesehen habe, fühlt es sich verkehrt an. Sie sieht gut aus, keine Frage, viel zu gut. So gut, dass es wehtut. Aber für mich wird sie ihr Haar immer offen tragen.

 

Falsch, für dich tut sie gar nichts mehr, zischt die Stimme aus meinem Hinterkopf.

Wieder schlage ich die Fingernägel in mein Handgelenk. Aber der Schmerz ist nicht mehr als ein Tropfen auf heißem Stein.

 

Das Interview läuft weiter. Moderator, Freddy, Moderator, Johnny, Moderator, Ben. Kristina.

 

Wie anders ihre Stimme klingt, wenn sie Deutsch spricht. Ungewohnt, aber nicht weniger schön. Ich spule das Video zurück, lasse ihren Satz noch einmal laufen. Hätte ich mal Deutsch gewählt in der Schule, dann wüsste ich jetzt, was sie da sagt. Ist es etwas Gutes? Sie lächelt jedenfalls. Ich stoppe das Video, als ihr Gesicht in der Totalen gezeigt wird, zoome ein Stück ins Bild.

 

Kristina trägt professionelles Make-Up, wie es in Fernsehstudios üblich ist, und dunklen Lidstrich sowie schere Mascara. Wenn ich es nicht wüsste, käme ich niemals auf die Idee, dass ihre Wimpern von dem gleichen satten Braun sind wie ihr Haar. Ich lasse meinen Blick weiter wandern zu ihren Augen. Auch hier das tiefe Braun.

 

Sie is traurig.

 

Diesmal ist es eindeutig Marbles Stimme, die mich aus meinen Gedanken reißt. Marble hat es neulich schon gesehen. Und habe ich es nicht auch schon längst gemerkt? Ich habe Kristina darauf angesprochen.

 

„Wieso bist du so traurig?“, murmle ich. Ist es meine Schuld? Habe ich sie verletzt? Aber wie?

 

Ich kann das nicht.

 

Das Letzte, das Kristina mir geschrieben hat, und von dem ich immer noch nicht weiß, was sie meint. Oder will ich es nur nicht wahrhaben?

 

„Wieso bis du traurig?“, hat Marble auch mich gefragt. Die Erinnerung an meine Antwort stößt mir bitter auf. Sie ist jetzt wahrer als noch vor ein paar Wochen.

 

Weil ich sie nicht haben kann.

 

Es war Irrsinn, jemals zu glauben, dass aus uns etwas werden könnte.

 

„Noah?“ Von unten dringt Andys Stimme durch den Bus.

 

Ich rutsche noch ein Stück tiefer in den Sitz, aber mein Versuch, mich zu verstecken, ist genauso zum Scheitern verurteilt wie meine Nicht-mehr-Beziehung zu Kristina.

 

„Noah.“ Andy erscheint an der Treppe, sieht sich suchend um und steuert dann zielsicher auf die Sitzecke zu, in der ich mich verkrochen habe. „Hier bist du ja.“

 

„Sieht so aus.“

 

„Komm, wir wollen noch ein paar Videos aufnehmen, bevor wir da sind.“

 

Wir. Wollen. Von wollen kann zumindest bei mir keine Rede sein. Andererseits ist die Alternative, mir Bilder von Kristina anzuschauen und mich selbst zu zerfleischen. Was für eine großartige Auswahl.

 

Seufzend stecke ich das Smartphone weg und richte mich auf. Andy wirft mir einen skeptischen Blick zu.

 

„Alles okay mit dir?“

 

„Klar, was soll sein?“

 

Er zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung, irgendwie siehst du fertig aus. Und du bist eben so schnell weggegangen, so als wärst du auf der Flucht.“

 

„Und wenn schon“, murmle ich, mehr zu mir selbst, aber Andy hebt skeptisch eine Augenbraue. Er ist nicht blöd, selbst wenn er keinen Beweis gesehen hat, so wie Liam, ahnt er doch spätestens seit dem verkorksten Auftritt neulich, dass da etwas im Busch ist. Aber ich will nicht darüber reden. Andy kann schließlich genauso wenig an allem ändern wie ich. Also straffe ich die Schultern, setze mein Profilächeln auf und klatsche einmal in die Hände. „Na dann, auf geht’s.“

 

Irgendwie habe ich es geschafft, in die Kamera zu lächeln, den Fans für ihren Support und die unglaublichen drei Millionen Aufrufe zu danken, die das Musikvideo zu Like a Mirror bereits erreicht hat.

 

Sogar ein paar Fragen zum Song habe ich beantwortet. Lieblingszeile (It shows my heart what my mind doesn’t get), Idee (Wunsch nach der Person, der man sich nicht erklären muss), Wie war der Videodreh (anstrengend und aufregend). Inzwischen muss ich bei solchen Fragen gar nicht mehr nachdenken, ich formuliere automatisch medienkonforme Antworten, auch wenn ich meine eigene Wahrheit damit mehr als überstrapaziere. Aber es geht ja auch nicht um mich, sondern um Noah Hammond. Und Noah Hammond ist nun einmal ein Charmeur und Publikumsliebling.

 

Leider ist der wahre Noah noch nicht ganz verschwunden. Jener Noah, dessen Herz gebrochen ist, der Kristina einfach nicht vergessen kann – und seine Füße und Arme nicht koordiniert bekommt.

 

„Um Himmels Willen, Noah, was machst du da?“ Simon hat die Fingerspitzen an seine Schläfen gelegt und sieht mich mit aufgerissenen Augen an.

 

„Äh … tanzen?“

 

Simon schüttelt den Kopf. „Das ist kein Tanz. Das ist eine Katastrophe.“

 

Ich schweige. Hat sowieso keinen Zweck, gegen unseren Choreographen zu argumentieren. Dass mir dieser alberne Tanz komplett egal ist, behalte ich auch besser für mich.

 

Simon scheint auch gar keine Erwiderung von mir zu erwarten. „Das ist ein ruhiger Song, bitte, keine hektischen Bewegungen. Ihr müsst fließen.“ Er seufzt. „Suma, zeig’s ihm nochmal.“

 

Suma macht ein paar katzenhafte Schritte auf Liam zu, hebt die Hand auf Schulterhöhe und wendet sich wieder von Liam ab. Es sieht so leicht aus.

 

„So soll das aussehen“, sagt Simon. „Alles klar?“

 

Ich nicke und gehe zurück auf meine Ausgangsposition. Simon lässt Deep erneut anlaufen und Suma, Andy und ich gehen wieder auf Liam zu, der regungslos zwischen uns steht. Als ich meine Hand hebe, bleibt Suma stehen und stöhnt noch entnervter auf als Simon vorhin.

 

„Noah, du bist keine Winkekatze.“

 

Andy prustet los und auch über Liams eben noch starres Gesicht, zieht ein Grinsen. Ich sage nichts. Was sollte ich auch sagen? Ich weiß ja, dass Suma recht hat. Ich tanze scheiße.

Suma kommt zu mir rüber, nimmt meinen Arm und führt ihn in einer fließenden Bewegung von der Hüfte zur Schulter.

 

„Ganz leicht, stell dir vor, du würdest in einen Handschuh hineingleiten.“

 

Was für ein Vergleich, aber ich mache mir die Mühe. Doch sobald Suma meine Hand nicht mehr führt, geht es schief. Er schüttelt den Kopf.

 

„Das ist noch so ruckartig. Du musst geschmeidiger sein, nicht so eckig wie ein Roboter.“

 

Na toll. Erst Winkekatze, jetzt Roboter.

 

„Oder denk dir, du erkundest den Körper einer Frau, da gehst du doch auch sanfter vor. Also, hoffe ich.“

 

Toll, danke Suma, das war genau das, was ich jetzt gebraucht habe. Nicht.

 

Sofort habe ich Kristina wieder vor Augen. Ihre schlanke Gestalt, das offene Haar, das ihre nackten Hüften umspielt. Ihre Haut heiß an meiner. Ich strecke meine Hand nach ihrer Brust aus.

 

„Ja, genau so.“ Suma nickt und klopft mir anerkennend auf die Schulter.

 

Das Bild von Kristina zerbricht vor meinen Augen, zurück bleibt der Schmerz, dass diese Vorstellung wohl nie wieder wahr werden wird.

 

Als ich nach dem Tanztraining in einen Sessel falle, habe ich Muskelkater wie schon lang nicht mehr und bin komplett durchgeschwitzt. Wenn ich mich morgen noch bewegen kann, grenzt es an ein Wunder. Aber Simon und Suma sind immerhin zufrieden mit mir. Ich kippe eine Literflasche Wasser in mich hinein, ziehe mein Handy hervor und lege den Kopf in den Nacken.

 

Eine neue Nachricht.

 

Für den Bruchteil einer Sekunde gebe ich mich der Hoffnung hin, Kristina könnte sich gemeldet haben. Die Realität holt mich jedoch schnell auf den Boden der brutalen Tatsachen zurück. Die Nachricht ist nicht von Kristina. Sie ist von Dad. Sie enthält den gleichen Screenshot, den Liam uns heute schon gezeigt hat. Darunter stehen nur zwei Worte.

 

Geht doch.

 

Vielleicht sollte ich das als Lob oder wenigstens Anerkennung verstehen. Aber nach den letzten Erfahrungen mit Dad weiß ich, dass es das nicht ist. Er nimmt zur Kenntnis, dass ich endlich geleistet habe, was er von mir erwartet. Nicht mehr.

Es ist der letzte Stoß, der mich über die Kante in den Abgrund der Verzweiflung stößt. Dad Reaktion sollte mich nicht enttäuschen. Ich habe nicht mit einem Lob gerechnet. Warum tut es dann trotzdem weh? Und warum fühlt sich dieser Abgrund einfach so fucking normal an? 

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