Noah

Der Eingangsbereich des Hotels erscheint mir wie das Tor zum Himmelreich. Sobald sich die automatische Tür hinter uns schließt und Security und Hotelpersonal sich darum kümmern, die lauernden Fans draußen zu halten, atme ich erleichtert aus.
Nur noch eine Aufzugfahrt, bis ich mich in die anonyme Stille meines Hotelzimmers zurückziehen kann. In nicht einmal einer Minute muss ich nicht mehr krampfhaft lächeln, locker drauf sein, oder Like a Mirror singen.
Gleich dreimal haben wir den Song heute gesungen. A capella in einer Radiosendung heute Morgen, Playback für die Aufzeichnung einer Fernsehshow und gerade noch einmal live vor ein paar Musikjournalisten bei einem exklusiven Pressekonzert. Mit jedem Mal schmeckten die Zeilen bitterer und während des Konzerts musste ich all meine Kraft aufwenden, um nicht zu kotzen. Auch jetzt ist mir noch schlecht. Aber das ist nichts Neues, der Zustand hält schon seit Tagen an. Seit Kristinas Nachricht.
Ich schlucke hastig, fokussiere den verchromten Handlauf am Rezeptionstresen.
„Jungs, denkt dran. Morgen früh ist um halb sechs Abfahrt“, sagt Scott, als wir den Aufzug betreten. Er selbst bleibt auf dem Gang stehen.
Suma gähnt demonstrativ. „Das ist noch mitten in der Nacht.“
„Wenn du jetzt direkt ins Bett gehst, bleiben dir immer noch über fünf Stunden Schlaf“, erwidert Scott nach einem Blick auf seine Smartwatch.
Die Aufzugtüren gleiten ineinander und beenden die Diskussion. Keiner von uns sagt ein Wort, während der Aufzug lautlos in den fünften Stock fährt. Suma hält die Hand dicht über den Türöffner, als ob er damit die Fahrt beschleunigen könnte. Liam hat die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Neben ihm hängt eine Übersicht der Menüs des Hotelrestaurants. Andy macht einen Schritt darauf zu. Ob er jetzt noch etwas essen will? Die Hotelküche ist doch bestimmt schon geschlossen. Ist auch egal. Ich bekomme garantiert nichts runter.
Mit einem leisen Pling öffnen sich die Türen und schon im nächsten Augenblick ist Suma auf dem Flur und auf halbem Weg zu seinem Zimmer.
Ebenso wortlos wie in den vergangenen Sekunden verlassen auch wir anderen die Kabine. Vor meiner Zimmertür ziehe die Schlüsselkarte aus meiner Hosentasche, halte sie gegen den Kontakt, da bemerke ich den Schatten schräg hinter mir.
Irritiert sehe ich mich um. „Andy? Du weißt schon, dass das mein Zimmer ist, oder?“
Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und mustert mich eingehend. Was hat er?
„Du musst mal raus hier“, sagt er.
„Äh, wir sind gerade erst angekommen.“ Ich war noch nicht einmal hier, um mein Gepäck abzulegen, das hat irgendein Page erledigt. Streng genommen weiß ich also nicht, was mich hinter dieser Tür erwartet.
Andy rollt mit den Augen und seufzt fast so theatralisch wie Simon. „Du weißt genau, was ich meine.“
Weiß ich das? Ich presse die Lippen aufeinander, sehe ihn trotzig an. Der professionelle Noah Hammond will sich nichts anmerken lassen, sondern einfach nur seine Ruhe haben. Aber obwohl ich mir in den letzten Tagen unendlich viel Mühe gegeben habe, den wahren Noah zu unterdrücken, ist er noch nicht ganz verschwunden. Unter Andys sturer Miene kämpft er sich an die Oberfläche. Ich lasse die Schlüsselkarte sinken.
„Und? Was schlägst du vor? Sollen wir eine nächtliche Plauderstunde mit den Fans unten halten?“
Andy winkt ab. „Auf keinen Fall. Komm mit. Ich zeig‘ dir was.“
Er nickt mit dem Kopf zum Ende des Flurs.
Das Treppenhaus?
Ich habe keine Ahnung, was er vorhat, aber ich folge ihm den Flur entlang, die Treppen hinunter bis in die Tiefgarage, von dort über einen dunklen Hinterhof und weg vom Hotelgelände. Nach zweimal Abbiegen habe ich bereits die Orientierung verloren, aber ich achte auch nicht sonderlich auf den Weg, sondern sehe zu, wie Andys weiße Schuhsohlen über den Asphalt gleiten.
Irgendwann glüht ein orangegelber Punkt in der Dunkelheit auf. „Willst du auch eine?“
Andy hält mir eine Schachtel Zigaretten hin. Erst will ich sie wegschieben, eigentlich rauche ich nicht. Aber dann greife ich doch zu. Und wenn ich mich nur an der Kippe festhalte.
„Weißt du eigentlich, wo wir sind?“, frage ich Andy, nachdem ich die ersten zwei Züge genommen habe.
„Klar, Mann“, sagt er, ohne mich anzusehen. Er lacht. „Das ist meine Hood von früher.“
„Von früher?“ In welcher Stadt sind wir heute eigentlich?
Andy bleibt stehen. „Ey, Bro, jetzt kennen wir uns schon über ein Jahr und du weißt immer noch nicht, dass ich aus Sheffield komme?“
Oh, hier sind wir also. „Doch, klar“, sage ich betont locker und boxe ihm grinsend gegen den Oberarm. Es war in den letzten Monaten nie wichtig, aus welchen Städten wir stammen. Wir sind ohnehin nie zu Hause.
„Willst du deine Mum besuchen?“
Andy stößt ein Schnauben aus. Mist, offenbar kein gutes Thema.
„Sorry“, murmle ich.
„Alles gut.“ Andy geht weiter, biegt um eine weitere Ecke. „Die ist mit ihrem Lebensgefährten im Urlaub.“
Dass er ihn nicht beim Namen nennt, ist für mich Hinweis genug, dass es wohl kein besonders herzliches Verhalten ist, und ich frage nicht weiter nach. Auch für Andy scheint das Thema damit durch zu sein. Schweigend, alle paar Schritte an der Zigarette ziehend, trotte ich hinter ihm her. Erst als ein Auto an uns vorbeifährt, durchzuckt mich der Gedanke, wie fahrlässig es ist, ohne Bodyguards unterwegs zu sein.
„Hast du keine Angst, dass dir jemand auflauern könnte?“
Andy dreht sich zu mir um, breitet die Arme aus und lacht trocken. „Wer denn? Eichhörnchen vielleicht?“ Er schüttelt den Kopf. „Du musst an die Orte gehen, wo dich niemand erwartet, dann kannst du dich frei bewegen.“
„Soll das heißen, du gehst nachts öfter auf Tour?“
Andy zuckt mit den Schultern und drückt seine Zigarette an einem Laternenpfahl aus. „Regelmäßig. Der Mensch braucht frische Luft. Nach dem ganzen Trubel tagsüber brauch‘ ich einfach mal meine Ruhe.“ Er zieht eine Tüte Weingummi aus seiner Hosentasche, greift hinein und schiebt sich gleich drei in den Mund.
Fassungslos sehe ich ihm zu. Auch wenn Andy von unserem Management als Bad Boy verkauft wird, hätte ich niemals gedacht, dass er sich nachts aus den Hotels schleicht und allein unterwegs ist. Wie zur Hölle schafft er es, morgens nicht müde zu sein? Und woher nimmt er die Sicherheit, dass ihm nichts passiert? Ich kann am Rastplatz nicht einmal eine Cola kaufen, ohne einen Menschenauflauf zu provozieren.
Aber vielleicht hat Andy recht. Man muss hingehen, wo einen niemand erwartet. Und dieser Straßenzug außerhalb des Centrums von Sheffield scheint genau so ein Ort zu sein. Nach ein paar weiteren Metern sickert langsam die Erkenntnis zu mir durch, wieso Andy solche nächtlichen Spaziergänge unternimmt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, einfach die Straße entlangzugehen, ohne dass einen jemand anspricht, ein Foto macht, kreischt, in Ohnmacht fällt – oder sonst irgendwie von dir Notiz nimmt. Ich atme tief durch, lasse die Zigarette zwischen meinen Fingern verglühen, sauge stattdessen den nachtfeuchten Geruch von Sommerlaub und Asphalt in meine Lungen.
Wir biegen in eine schmale Straße ein, in der winzige zweigeschossige Häuser sich aneinanderdrängen. Die weißen Fensterrahmen heben sich von den dunklen Steinfassaden ab, die roten und blauen Haustüren sind so schmal, als würde sich dahinter nicht mehr als eine Besenkammer verbergen.
„Schon krass. Diese Häuser passen einfach mal locker in eine unserer Suiten“, sagt Andy unvermittelt.
„Sieht wirklich ganz schön eng aus.“
„Aber urgemütlich. Es kommt auch gar nicht so auf die Quadratmeterzahl an, sondern darauf, wie man den Raum nutzt.“
Ich horche auf. Ob Andy in einem Haus wie diesen aufgewachsen ist? Wie wenig ich doch von ihm weiß, obwohl wir nun schon seit über einem Jahr fast jeden Tag miteinander verbracht haben. Ich könnte ihn fragen, will ihn aber auch nicht in Verlegenheit bringen, schließlich bin ich ganz andere Verhältnisse gewöhnt. Andererseits macht Andy nicht den Eindruck, als wäre ihm irgendetwas an dieser Umgebung peinlich.
Ehe ich mich entschließen kann, nachzuhaken, biegt Andy in die schmale Einfahrt zwischen zwei Häusern ein. Ich eile hinterher und werde von der plötzlichen Dunkelheit überrascht. Der Schein der Straßenlaternen fällt nicht bis hierher und aus den umliegenden Häusern dringt kein Licht. Ich schalte die Taschenlampe meines Handys ein, aber Andy drückt meine Hand runter.
„Nicht. Ich weiß etwas Besseres.“
Das Bessere ist sein Feuerzeug, das er gegen ein Stück Pappe hält, die kurz darauf aufflammt. Andy zieht mich ein paar Meter weiter, wirft die brennende Pappe in eine Art eisernen Korb und setzt sich dann auf etwas Dunkles, Rundes.
„Setz dich.“ Er klopft neben sich, was dumpf klingt.
Ich taste mich vorwärts, setze mich. Ah, Autoreifen. „Wo sind wir hier?“
„Hier habe ich früher mit meinen Leuten abgehangen. Der Onkel von einem Kumpel hat hier eine kleine Werkstatt“, sagt Andy und wirft noch mehr Pappe ins Feuer. Woher hat er die? Meine Augen gewöhnen sich langsam an das flackernde Licht und die Dunkelheit drumherum. Am anderen Ende des Hinterhofs erkenne ich schemenhaft einen Kleinwagen, daneben zwei Fässer oder Tonnen.
„Wird hier keiner das Feuer bemerken?“
Andy lacht wieder. „Ey, seit wann bist du so ein Schisser? Keine Sorge, hier merkt keiner was, solang wir hier nur zwei, drei Pizzakartons verbrennen.“
Er greift wieder in seine Tasche, zieht die Weingummitüte hervor und hält sie mir hin. Als sich der süße Geschmack von Apfelsine auf meiner Zunge breitmacht, während eine gelbe Flamme an der Pappe leckt, fühlt es sich fast ein bisschen wie Ferienlager an. Nicht, dass ich da besonders viel Erfahrung hätte. Aber so habe ich es mir immer vorgestellt. Fehlt nur noch die Gitarre. Nein, eigentlich ist es ganz schön so ohne Musik.
„Wolltest du mir das zeigen?“
„Hm.“ Ich spüre mehr, dass Andy nickt, als dass ich es sehe. Eine leichte Bewegung neben mir. „Gefällt’s dir?“
Ich nicke auch. „Ist cool. So ruhig.“
„Ich bin früher oft hergekommen, wenn mir alles zu viel wurde.“ Andy hält eine Zigarette ins Feuer.
Die Lagerfeuerromantik verflüchtigt sich, meine Nackenhaare sträuben sich. Verteidigungsmodus. „Wer sagt, dass mir alles zu viel wird?“
Andy inhaliert tief und bläst in aller Seelenruhe den Rauch in die Luft vor uns. „Du“, sagt er dann feixend.
Ich sinke in mich zusammen. Fuck. Er hat mich voll reingelegt. „Wie kommst du darauf?“, frage ich dennoch, als ob ich etwas retten könnte.
„Ach, komm schon, Noah“, erwidert er und hält mir dir geöffnete Zigarettenschachtel hin. „Ich bin vielleicht kein Softie wie Liam, aber nicht blöd. Seit Like a Mirror draußen ist, hängst du völlig durch.“
Ich nehme eine Zigarette, drehe sie ein paarmal zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hin und her, ehe ich sie ebenfalls am Feuer entzünde. Für einen wunderbaren Moment war die Sehnsucht nach Kristina, der Schmerz über ihre Schweigen sekundär. Jetzt ist er wieder da, hält mich gefangen und schnürt mir die Luft ab. Stumm sehe ich zu, wie die Glut sich Stück für Stück an der Kippe herauffrisst.
„Ist nicht so gelaufen, wie du dir das vorgestellt hast?“
Ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen. Andys Frage trifft es auf den Punkt. Es hätte alles anders kommen sollen.
„Ich wollte ihr eine Freude machen. Ich hatte gedacht, sie fühlt das Gleiche wie ich.“
Ascheflöckchen schweben durch die Dunkelheit und rieseln vor unseren Füßen zu Boden.
„Bereust du es, den Song geschrieben zu haben?“
Die Zigarette gleitet mir aus der Hand. Andy spricht aus, was ich mir in den letzten Tagen zu denken verboten habe. Hätte ich Like a Mirror nicht komponieren sollen? Würde das nicht bedeuten, alles zu leugnen, was zwischen Kristina und mir war, und was sie mir bedeutet? Ich starre in die züngelnde Flamme, obwohl es wehtut.
Nein, ich stehe zu jedem Wort, das ich geschrieben, und zu jedem Ton, den ich gesungen habe. Aber …
„Es wäre besser gewesen, ihn nicht zu veröffentlichen“, gebe ich zu. Vielleicht hätte Kristina den Song gemocht, wenn ich ihn ihr allein vorgespielt hätte. Nicht so perfekt arrangiert, aber dafür von mir. Pur und direkt.
Andy wirft den Rest seiner Zigarette ins Feuer. „Was würdest du tun, um sie zurückzugewinnen?“
„Alles.“ Ich weiß, wie pathetisch das klingt, aber in diesem Moment ist es mir so klar wie noch nie etwas in meinem Leben. Kristina bedeutet mir die Welt. Alles andere ist nebensächlich.
„Dann solltest du nicht ewig damit warten. Tu, was du tun musst.“ Er klopft mir zweimal auf die Schulter.
Ich nicke, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich tun kann, damit Kristina wieder mit mir redet. Stumm sehe ich dem kleinen Feuer vor uns zu und hoffe, dass irgendwann die Eingebung kommt. Natürlich kommt sie nicht. wäre ja auch zu einfach gewesen.
„Es dämmert gleich. Wir sollten langsam zurück“, sagt Andy irgendwann.
Woran er das fest macht, ist mir schleierhaft. Für mich ist es noch genauso dunkel, wie vor zehn Minuten, und wenn ich ehrlich bin, will ich auch noch gar nicht zurück. Aber Andy hat vermutlich recht.
Das Feuer ist kleiner geworden, aber wir sollten es trotzdem löschen, bevor wir gehen. Mit pusten komme ich allerdings nicht weit, also schnappe ich mir ein größeres Stück Pappe, falte es mittig und will es über die Flamme halten, um sie zu ersticken. Da züngelt sie noch einmal hoch und erwischt mich am Handgelenk.
„Fuck.“ Ich lasse die Pappe fallen und umschließe mit der anderen Hand das Gelenk. Unter meinen Fingern pocht es heiß.
„Zeig mal.“ Andy leuchtet mit seiner Handytaschenlampe. Widerstrebend, obwohl es eigentlich nicht hilft, löse ich den Griff um mein Handgelenk. Die Haut über dem Knöchel ist flammend rot und zwei Blasen heben sich deutlich ab. Verdammt.
„Hier draußen gibt’s keinen Wasseranschluss. Schaffst du es bis zum Hotel?“
Ich schaue auf die Brandblasen. Sind sie in den letzten vier Sekunden größer geworden? Keine Ahnung. Es tut auf jeden Fall verdammt weh. Aber ich beiße die Zähne zusammen. Hilft ja nichts.
„Geht schon.“
Ich nehme auf dem Rückweg nur zu gern die angebotene Zigarette an. Rauchen lenkt mich von dem Schmerz ab. An der Brandwunde selbst ändert sie natürlich nichts. Als wir um kurz nach vier durch die Tiefgarage wieder ins Hotel gelangen, leuchtet meine Haut rot im Licht der Neonröhren.
„Du solltest das unbedingt noch kühlen“, sagt Andy, kurz bevor wir unseren Flur betreten. „Tut mir leid, dass es so ausgegangen ist.“
„Schon okay. Ich bin selbst schuld. Das war der beste Abend seit langem.“ Ich bleibe neben Andy stehen, der seine Schlüsselkarte hervorzieht. „Danke“, füge ich hinzu.
„Klar.“ Er lächelt, hält die Karte gegen seine Tür, die sich mit leisem Piepen öffnet. „Bis gleich.“
Ich grinse, wenn auch etwas gequält. Es lohnt eigentlich nicht mehr, ins Bett zu gehen, und ich darf gar nicht daran denken, wie ich den kommenden Tag überstehen soll. Aber die letzten Stunden waren es unbedingt wert.
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