Kristina

Ich schließe die Augen, lasse die Hände auf den Tasten liegen und atme langsam aus. Angenehme Ruhe umfängt mich und Zufriedenheit macht sich in mir breit. Dreimal habe ich meinen Song jetzt schon gespielt und noch keine Träne vergossen. Sehr gut. So soll es bleiben, denn bei unserem Livestream in ein paar Stunden, kann ich mich nicht hinter Regen verstecken.
Als ich die Augen wieder öffne, fällt mein Blick aufs Regal.
Und obwohl es schon seit Jahren da steht, gefüllt mit Noten und kleinen Dekogegenständen, nehme ich ein Element in diesem Moment besonders wahr. Langsam stehe ich auf, gehe darauf zu.
Der matte Edelstahl ist kalt unter meinen Fingerspitzen, in den vergoldeten Kanten schimmert das Sonnenlicht, das durchs Fenster fällt. Zentimeter für Zentimeter gleitet mein Finger über die Membran, spürt der geschwungenen Form nach, bis er am Sockel angelangt, in den Name, Kategorie und die Jahreszahl eingraviert ist.
Ieva Geringaïte, Klassik, 2014.
Vorsichtig streiche ich darüber. Wie oft habe ich damals mit der Spitze meines kleinen Fingers die Konturen nachgefahren, nicht fassen könnend, dass es wirklich ihr Name war. In den ersten Tagen nach der Preisverleihung habe ich immer wieder vor der Skulptur gestanden, die Form und das Gold bewundert. Dass man so etwas Schönes mit Musik gewinnen konnte, war mir fast unbegreiflich. Ich hatte immer Urkunden und kleinere Geldpreise gewonnen.
Manchmal hatte ich auch beim Üben auf die Membran geschaut und mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn mein Name in den Sockel eingraviert wäre. Wenn zwei Skulpturen nebeneinander stünden. Ihrer und meiner.
„So nachdenklich?“
Hastig greife ich nach links, als ob ich ein Notenheft aus dem Regal ziehen wollte, aber eigentlich ist dieses Manöver überflüssig. Mein Vater muss mich schon eine Weile beobachtet haben, sonst hätte er nicht gefragt.
„Hm“, murmle ich. „Sorry, hab gar nicht gehört, dass du gekommen bist.“
Papa lächelt. „Kein Wunder, du bist wohl ziemlich tief abgetaucht.“
„Ich musste nur daran denken, wie ich damals die Skulptur bewundert und davon geträumt habe, dass mein Name auch einmal darauf steht.“
„Tatsächlich? Das hast du nie erzählt.“
Ich senke den Blick und beiße mir auf die Lippen. Es stimmt, ich habe nie darüber gesprochen. Anfangs schien es mir zu unmöglich, dass ich jemals gut genug sein könnte, um so einen bedeutenden Preis zu gewinnen. Dann wurde es mir egal, oder vielmehr, ich habe es kategorisch ausgeschlossen. Ich war mir sicher, diesen Preis weder zu wollen, geschweige denn zu verdienen. Und jetzt? Es fühlt sich noch immer surreal an, dass wir nominiert sind. Irgendjemand scheint uns für würdig zu erachten. Aber Escape bin ich immerhin nicht allein, in der Gruppe fällt nicht auf, dass ich dieser Auszeichnung gar nicht gerecht werde.
„War ja auch immer nur Quatsch“, behaupte ich schulterzuckend. „Aber jetzt sind wir nominiert.“
„Was?“ Papa macht große Augen, dann umarmt er mich. „Das ist ja toll. Ich freu mich für euch.“
„Danke.“
Die Umarmung wird fester
und für einen Moment bin ich so überrascht, dass ich die Hände über Papas Rücken anspanne, ehe ich sie aufsetze. So lang und so innig haben wir uns schon lang nicht mehr im Arm gehabt. Nicht einmal zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Sein Atem geht flacher, meine Kehle schnürt sich zu.
Bitte sag es nicht, flehe ich stumm. Bitte sag es nicht. Sonst breche ich zusammen.
Papa scheint meinen Wunsch zu spüren und schweigt. Vielleicht aber auch, weil er an diesem Satz genauso zusammenbrechen würde wie ich. Seine Gesichtszüge sind beherrscht wie immer, als wir die Umarmung lösen. Nur in seinen Augen liegt dunkel schimmernd jener Schmerz, der mir seit zehn Jahren so vertraut ist. Ich habe geglaubt, vielleicht auch nur naiv gehofft, Papa hätte ihn überwunden. Er wirkt viel entspannter, seit er mit Doro zusammen ist. Aber offenbar lässt sich der Schmerz durch nichts vertreiben, nicht durch eine neue Liebe, nicht durch die Musik. Sie decken ihn für eine Weile zu, schwächen ihn ab. Aber er kommt immer wieder.
Mir fällt ein, was Joshie mir immer wieder sagt. Vielleicht sollte ich mal reden.
Papa und ich haben seit zehn Jahren nicht geredet. Nicht darüber. Ich wollte nicht. Er konnte nicht. Wir stehen stumm voreinander, betrachten den Schmerz in den Augen des anderen. In meinen Fingerspitzen zuckt es. Seine Lippen öffnen und schließen sich.
Wir müssen endlich reden. Doch im gleichen Moment, in dem es mir klar wird, begreife ich auch, dass ich es nicht kann. Das Schweigen hat zu lang gedauert, ist Gewohnheit geworden. Und verdammt, es gibt einfach keine Worte hierfür. Wie sollte ich ihm jemals sagen können, was ich seit all den Jahren mit mir herumtrage? Es würde ihn zerstören. Das kann ich ihm nicht antun. Nicht jetzt, wo er gerade wieder glücklich ist. Zumindest glücklicher als in den letzten Jahren.
Ein Piepen durchbricht die Stille zwischen uns. Auf dem Flügel schiebt sich mein Handy vibrierend über den schwarzen Lack. So spät schon!
Ich drücke noch einmal Papas Hand und hauche ihm einen Kuss auf die Wange. „Sorry, ich muss los, unser Livestream geht in zwei Stunden los.“
Er lächelt angestrengt, erwidert den Händedruck aber. „Natürlich. Viel Erfolg.“
Als ich am Proberaum ankomme, habe ich genug frische Luft geatmet, um wieder halbwegs klar zu sein.
Ich schließe das Fahrrad neben Bens Auto an, froh darüber, dass ich nicht die erste bin. So habe ich keine Gelegenheit wieder ins Grübeln zu kommen. Tatsächlich bin ich die letzte. Allerdings haben weder die Jungs ihre Instrumente in der Hand, noch sitzt Joshie hinter ihren Drums. Stattdessen stehen sie mit Piet und Kiron vor unserem Set-up und diskutieren.
„Achte besonders auf solche Kommentare und lösch sie sofort“, sagt Ben zu Kiron und Joshies Bruder nickt.
„Klar doch. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“
„Hi. Was ist denn los?“
Von der Freude über unsere Nominierung ist nichts mehr zu sehen. Johnnys und Freddys Mienen sind angespannt, Ben hat die Stirn in Falten gezogen und sieht aus, als würde er jeden unangespitzt in den Boden rammen, der ihn von der Seite anmacht. In Joshies Gesicht fehlt jede Spur von Spott oder Sarkasmus. Kein gutes Zeichen.
„Unter unseren letzten Beiträgen gab es schon wieder böse Kommentare gegen Johnny“, sagt Freddy mit zusammengebissenen Zähnen und ballt die Hand zur Faust, als ob er den oder die Übeltäter am liebsten verprügeln würde.
Erschrocken suche ich Johnnys Blick, der sich jedoch wie üblich unter dem Schirm seiner Basecap verbirgt.
„Verdammt. Was ist denn da los?“
„Wenn wir das wüssten.“ Piet wirft ratlos die Arme in die Luft.
„Was unternehmen wir dagegen?“
Ben schüttelt genervt den Kopf. „So wahnsinnig viel können wir leider nicht tun. Die Konten sind blockiert und gemeldet, Anzeige gegen Unbekannt läuft.“
Ich mache einen Schritt auf Johnny zu. „Wie geht es dir damit?“
„Na ja, toll ist es nicht. Aber das ist wohl der Preis, wenn man in der Öffentlichkeit steht“, erwidert er, wendet sich ab und macht sich an seinem Bass zu schaffen. Ganz offensichtlich will er nicht darüber reden.
Für Freddy ist das Thema hingegen noch nicht beendet. „So etwas darf nicht dazu gehören. Eine inflationäre Beschimpfung als Hurensohn und Opfer war ja noch das harmloseste von dem ganzen Scheiß.“
Verdammt, das klingt echt nicht gut. Heiße Scham regt sich in mir, weil ich davon nichts mitbekommen habe. So sehr war ich mit mir selbst beschäftigt, und mal wieder habe ich darüber übersehen, dass jemand womöglich meine Hilfe bräuchte.
„Sollen wir den Stream lieber verschieben?“, frage ich.
Ein tiefes E wummert aus dem Verstärker, die Saite schnarrt, als Johnny sie ruckartig loslässt und uns irritiert ansieht. „Auf keinen Fall. Dann haben sie doch gewonnen. Und wir können nicht die Fans dafür bestrafen, dass ma…“
Er unterbricht sich selbst, schüttelt den Kopf und stimmt seinen Bass. Piet und Ben nicken, Freddy streckt die Hand nach seiner E-Gitarre aus.
„Finde ich auch“, sagt er. „Aber ich mache auf jeden Fall am Anfang eine allgemeine Ansage, dass uns ein respektvoller Umgang wichtig ist.“
Wir machen uns und unsere Instrumente bereit, sprechen noch einmal mit Piet und Kiron den Ablauf durch, und schon ist es neunzehn Uhr und unser Livestream beginnt. Wir spielen eine kleine, rockige Improvisation, bis Freddy uns einen Wink gibt, aufzuhören und das Mikro vor sich zurechtrückt. Piet zeigt uns im Hintergrund an, dass schon über tausend Leute zuschauen. Kiron hält den Blick konzentriert auf den Bildschirm gerichtet.
„Moin, willkommen in unserem Proberaum. Wir freuen uns darauf, die nächste Stunde mit euch auszubrechen. Zu Beginn noch ein friendly reminder: Die Welt wird ein Stück besser, wenn wir alle respektvoll miteinander umgehen. Das sollten wir in diesen verrückten Zeiten nicht vergessen. Also, wenn ihr die Chance habt, heute nett zu jemandem zu sein, dann nutzt sie.“ Freddy macht eine kleine Pause. Piet nickt zufrieden hinter der Kamera. „Dazu passt der erste Song, den ihr euch für heute gewünscht habt. Hier ist für euch Ally.“
Routiniert spiele ich Bens Song mit, lasse mich in den Rhythmus fallen, den Joshie präzise wie ein Uhrwerk vorgibt. Als Ben jedoch von der Bridge in den Refrain überleitet, stürzen die Gedanken und Gefühle von heute Nachmittag wieder auf mich ein.
There ain’t always second chances …
In die Zeit vor zehn Jahren gibt es kein Zurück mehr. Egal, ob ich darüber rede oder nicht. In meinem Hals kratzt es und ich öffne hastig den Mund, um mehr Luft zu bekommen. Gleichzeitig lenke ich meinen Fokus auf die Joshies Schläge auf die Snare. Tack, tack-tack, tack, tack-tack.
Am Ende des Songs kann ich wieder freier atmen und lächle betont fröhlich in die Kamera.
„Vor zwei Tagen haben wir in Bochum schon einen neuen Song mit euch geteilt – oder besser, mit all den lieben Leuten, die trotz besch…eidenem Wetter die Musik gefeiert haben. Weil die paar Videos vom Auftritt aber doch sehr regenverrauscht sind, und natürlich, weil wir allen anderen den Song nicht vorenthalten wollen, spielen wir jetzt Feels like a memory.“
Ich starre auf meine Hände, als ob ich wer weiß was für schwierige Akkorde spielen müsste. Tatsächlich baue ich ein paar zusätzliche Läufe ein, die mir helfen, bei der Stange zu bleiben.
Nur beim anschließenden Q&A kann ich mich damit nicht mehr ablenken. Stattdessen spiele ich an einer meiner Haarnadeln herum. Kiron hat, während wir gespielt haben, ein paar Fragen aus dem Chat gefiltert und liest sie uns nun vor.
„Ganz viele schreiben, wie sehr sie den neuen Song lieben. Aber die Frage: wieso rückt ihr erst jetzt damit heraus? Wieso ist er nicht auf dem Album?“
„Gute Frage mit einer sehr unromantischen Antwort“, sagt Freddy grinsend. „Feels like a memory ist uns leider erst eingefallen, als das Album schon fertig produziert war. Aber bis zum nächsten Album wollten wir halt auch nicht mehr warten.“
„Steckt eine persönliche Geschichte dahinter?“
Es war so klar, dass diese Frage kommt. Wir haben darüber gesprochen und uns eine gute Story überlegt, die der Wahrheit sehr nahekommt. Trotzdem schlägt mein Herz schneller, als Freddy mit der Antwort ansetzt.
„Ja. Es geht um eine gute Freundin, mit der wir viel erlebt haben. Leider haben wir uns auseinandergelebt. Es gibt Gräben, über die wir einfach nicht hinweg kommen und das tut manchmal verdammt weh, besonders wenn es Situationen gibt, die man gern wieder miteinander teilen würde.“
So wie jetzt, schießt es mir durch den Kopf. Wie heute Nachmittag. Ich bohre die Enden der Haarnadel in meine Handinnenfläche, damit mich die schweren Gefühle nicht wieder übermannen.
„Kann ich gut verstehen. Kenne ich. Hab ich auch schon erlebt“, liest Kiron einige der Reaktionen vor. Dann geht er zur nächsten Frage über. „Welche Songs spielt ihr auf Tour? Ist die Setlist wie auf den Festivals?“
„Wir sind noch nicht fertig mit der Auswahl“, verrät Ben. „Aber es wird eine gute Mischung aus neuen und alten Songs. Auch für die, die bei der Clubtour dabei waren, wird es noch die eine oder andere Überraschung geben.“
Piet formt aus Daumen und Zeigefingern ein Herz, das er uns entgegenstreckt und vermutlich die Reaktion der Zuschauer symbolisieren soll.
„Wenn ihr für ein Jahr nur einen einzigen eurer Songs hören und spielen dürftet. Welcher wäre das?“
„Diese Frage gebe ich gern zurück“, sagt Joshie. „Welchen einzigen Song von uns würdet ihr ein Jahr lang ausschließlich hören wollen?“
Johnny schüttelt den Kopf. „Ne, Joshie, lass uns das mal beantworten. Bin gespannt, was rauskommt.“
„Okay, gute Idee.“ Ben schaut in die Runde. „Auf drei sagt jeder von uns, welchen einzigen Song er auswählen würde.“
Grinsend geben wir unsere Zustimmung und Joshie schlägt dreimal auf die Snare.
„Run.“
„Girl in the Crowd.“
„Get rid of it“
Immerhin Freddy und Johnny sind sich mit Run einig.
Ich sage „Feels like a memory“ und wünschte, ich wüsste nicht genau, wieso.
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