Kristina

Ein Teil von mir will sich in seine Arme stürzen und der Sehnsucht nachgeben, die seit Wochen in mir brennt. Der andere Teil will Noah die Tür vor der Nase zuschlagen und sich im Airbnb verschanzen. Ich bleibe auf der Türschwelle stehen, die Hand noch immer am Schlüssel, und sehe mich über die Schulter zu ihm um.
Wenn ich seine Stimme nicht erkannt hätte, würde ich auch jetzt kaum auf die Idee kommen, dass unter der schwarzen Kapuze Noah steckt. Er fügt sich perfekt in die Dunkelheit ein.
Wieso ist er hier?
Wieso kann er nicht einfach aus meinen Gedanken, meinem Herz, aus meinem Leben verschwinden? „Was willst du?“
Er zieht die Kapuze vom Kopf, macht einen Schritt auf mich zu. Ich schließe die Hand fester um den Schlüssel. „Ich möchte mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich dir mit meinem Song zu nahegetreten bin. Ich hätte ihn nicht einfach so veröffentlichen dürfen.“
Überrascht lasse ich den Schlüssel los, drehe mich ganz zu Noah um. Schon im nächsten Moment lodert das Feuer wieder in mir auf. Die alles verzehrenden Flammen, die sich durch meinen Körper fressen und nichts von mir übriglassen werden, wenn ich nicht all meine Kraft darauf aufwende, sie in Zaum zu halten.
„Ich kann das nicht“, stoße ich hervor.
Noahs Gesicht verzieht sich zu einer schmerzhaften Grimasse und er sinkt einige Zentimeter in sich zusammen. Schließlich holt er tief Luft. „Okay“, sagt er und wendet sich langsam um.
Geh nicht, schreit der kleine Rest in mir, der sich verzweifelt gegen das Feuer zu wehren versucht. Aber ich bringe die Worte nicht über die Lippen. Ich bin mit Atmen beschäftigt, was schwer genug ist, da meine Kehle mit jeder Sekunde enger zu werden scheint.
Da bleibt Noah noch einmal stehen, dreht sich wieder zu mir um. „Sag mir, dass dir das mit uns nichts bedeutet hat, und ich verspreche, ich werde gehen und dich in Ruhe lassen.“
Mein Hals ist so eng, dass kaum noch Luft hindurchpasst. Es bedeutet mir alles. Es war die schönste Zeit. Ich will nicht, dass du gehst. In Sekundenschnelle rasen die Gedanken durch meinen Kopf. Keinen einzigen kann ich aussprechen. Hilflos öffne ich den Mund, aber mehr als ein Japsen kommt nicht heraus. Meine Beine geben unter mir nach.
Noch bevor ich auf das Pflaster stürzen kann, ist Noah bei mir und fängt mich auf. Zitternd halte ich mich an ihm fest, während er die Tür aufschließt.
„Wo musst du hin?“
Schwach deute ich auf die Tür zur rechten. Irgendwie komme ich die paar Stufen hinauf und lasse mich gegen den Türrahmen zu meinem Apartment fallen, während Noah den Schlüssel ins Schloss steckt. Immer noch zitternd und nach Luft ringend, taumle ich durch den kleinen Flur in das Wohnzimmer und sinke aufs Sofa. Kurz darauf stellt Noah ein Glas Wasser vor mir auf den Couchtisch und tritt sofort wieder einen Meter zurück.
„Ich will dich nicht länger belästigen, aber ich möchte dich so auch nicht allein lassen. Soll ich jemanden für dich kontaktieren?“
Die Tränen brennen auf meinen Wangen, hinterlassen dunkle Flecken auf meiner Jacke. Ich schüttle den Kopf.
„Du solltest nicht allein sein“, widerspricht Noah, wobei es mehr nach einem Flehen klingt.
Wieder schüttle ich den Kopf, sammle die noch verbliebene Kraft und bringe endlich das Wort hervor, das ich schon die ganze Zeit sagen will.
„Bleib.“
Noah zuckt zusammen, sieht mich fragend an, als ob er sich nicht sicher wäre, ob er richtig gehört hat. Ich strecke meine Hand ein Stück nach ihm aus. Langsam macht Noah ein paar Schritte aufs Sofa zu und setzt sich neben mich, unternimmt aber keinen Versuch, mich zu berühren. Er sagt auch nichts. Er ist da und wartet.
Ich schließe die Augen, spüre den Stoff meines Hosenbeins, der rau an meinen Fingern reibt, höre das leise Ticken der Wanduhr, dazwischen Noahs Atem. Er atmet nicht regelmäßig, trotzdem versuche ich mich, ihm anzupassen. Es ist etwas, das ich nachahmen kann. Ein. Warten. Aus. Warten. Warten. Ein. Aus. Warten. Das Feuer tobt noch immer in mir, schmerzt bei jedem Luftholen, aber immerhin klappt das Atmen wieder.
Irgendwann habe ich mich wieder soweit im Griff, dass ich nach dem Wasserglas greife und ein paar Schlucke trinke. Als ich es wieder abstelle, fange ich Noahs Blick. Eine tiefe Falte hat sich zwischen seine Brauen gegraben und seine Augen glänzen dunkel.
„Es tut mir so leid“, flüstert er, streckt seine Hand nach mir aus, zieht sie aber gleich wieder zurück.
Ich schlucke, wobei es in der Kehle brennt, aber sie ist wieder frei. Lässt mir Raum zum Atmen. Und sprechen. „Schon okay.“ Er kann nichts für meinen Kampf gegen das Feuer.
„Nein, ist es nicht. Ich hätte Like a Mirror nicht einfach so auf den Markt werfen dürfen, mit deiner Musik, das …“
Sofort habe ich die Töne wieder im Ohr. Ich zucke zusammen, zwinge mich ruhig zu atmen, ehe mich die Panik erneut überfallen kann. „Das ist es nicht. Es ist ein wundervoller Song. – Danke.“ Ich sehe ihn an, versuche zu lächeln.
Damit hat Noah vermutlich nicht gerechnet. Wie auch, nach allem, was war? Oder besser nicht war. Seine Augenbrauen nähern sich seinem Haaransatz.
„Mir tut es leid.“ Ich bohre die Fingernägel in meine Handinnenflächen, fahre mit meinem Blick die Struktur des Hosenstoffs nach. „Ich konnte einfach nicht.“
Noah seufzt. „Ich weiß. Du hast Angst, den Schmerz loszulassen.“
Jetzt bin ich es, die ihn überrascht ansieht. Aber er lächelt nur sanft.
„Die Lyrics waren so eindeutig. Ich habe keine Sekunde geglaubt, dass der Song von Freddy ist. Ich weiß nicht, welche Erinnerung ich mit meinem Song in dir aufgewühlt habe, aber es macht mich fertig. Ich wünschte, ich könnte dir diesen Schmerz nehmen.“
Ich ziehe die Beine an und umschlinge sie mit meinen Armen. „Glaub mir, das willst du nicht“, sage ich.
„Vielleicht war ich vorschnell“, lenkt Noah ein. „Magst du … Magst du mir erzählen, welche Erinnerung dir so wehtut, dass du sie nicht behalten magst?“
Das Feuer überrollt mich erneut, brennt die Bilder tiefer in meine Netzhaut. Das Zimmer. Die Tür. So plastisch und real, als müsste ich nur die Hand ausstrecken, um das kalte Metall der Klinke wieder unter den Fingern zu spüren. Doch selbst, wenn ich sie drücke, ich weiß, dass die Tür sich nicht öffnen wird. Erst, wenn …
„Ich habe es so oft versucht“, sage ich leise.
„Zu vergessen.“ Ich kauere mich noch enger zusammen. „Es bleibt in meinem Kopf. Seit zehn Jahren.“
Ich bette die Stirn auf meine Knie, suche zwischen den Flammen nach einem Weg. Einem Anfang. Ich presse die Lippen aufeinander, um dem Schmerz entgegenzusteuern. Etwas Warmes und Weiches legt sich um meinen Körper, das Sofapolster unter meinem Po spannt sich. Als ich blinzele, erkenne ich die Wolldecke, die eben noch über der Sofalehne hing. Noah hat sie mir über die Schultern gelegt. Ich lächle ohne aufzusehen und ziehe die Zipfel der Decke noch etwas näher zueinander.
„Das Lied, das du in Like a Mirror mit aufgenommen hast, ist ein altes litauisches Volkslied. Meine Oma und meine Mutter haben es mir seit ich klein bin vorgesungen.“
Die melancholische Melodie schleicht sich in mein Ohr, mal verbunden mit Omas warmer Altstimme, dann mit dem Sopran meiner Mutter. Das Klavier mischt sich darunter und unwillkürlich umklammere ich die Decke fester.
„Ich mochte das Lied, und als ich anfing, Klavier zu spielen, hat meine Mutter die Variationen darüber geschrieben. Sie hat mir die Noten zum vierten Geburtstag geschenkt.“
Sie hatte es nicht eingepackt, nur eine Schleife darum gebunden und auf den Notenständer des Flügels gestellt. Natürlich konnte ich damals noch nicht lesen, aber als ich den See, den Wald und das Feuer sah, das Mama auf den Umschlag gemalt hatte, wusste ich, was da vor mir stand.
„Ich war so stolz, dass ich fast ohne Pause geübt habe. Sogar in der Carnegie Hall.“
Noah schnappt hörbar nach Luft, sagt aber nichts.
„Meine Mutter war eine international gefragte Pianistin. Sie hat überall gespielt, New York, Los Angeles, Amsterdam, Wien, Moskau, Sydney … Als ich noch nicht zur Schule ging, habe ich sie oft auf ihren Konzertreisen begleitet.“
Die Bilder der vielen Konzertsäle wechseln sich vor meinem inneren Auge ab. Die endlosen Sitzreihen, die edlen Kronleuchter, die holzverkleideten Ränge und hellen Böden. Sie haben sich mir eingeprägt, obwohl mich das damals nur wenig beeindruckt hat. Mein Interesse galt nur dem jeweiligen Konzertflügel, der auf der Bühne stand. Manchmal ließ sie mich ein bisschen spielen, wenn sie ihre Probe beendet hatte. Entschieden wische ich das Bild weg, als neue Tränen hinter meinen Lidern brennen.
Ich wünschte, das wäre alles, was es zu erzählen gibt. Vielleicht muss ich nicht weiterreden. Vielleicht ist Noah längst klar, in welche Richtung diese Geschichte geht. Ich wage es nicht, ihn anzusehen, in seinem Blick zu lesen. Mitleid , Verzweiflung, Ohnmacht – all das habe ich damals zu oft gesehen. Es hat mich verstummen lassen. Weil niemand wusste, wie er damit umgehen sollte. Wie man mit mir umgehen sollte.
Ich schlucke die Tränen runter und atme tief durch, dann setze ich meine Geschichte fort.
„Als ich zur Schule kam, hat Mama sich bemüht, nicht mehr so viel oder weit zu reisen. Sie hat viele Aufnahmen gemacht, allein, mit großen Orchestern. Die großen Auftritte machte sie in den Ferien, wenn ich sie begleiten konnte, manchmal sogar zusammen mit meinem Vater.“
Trotz des stechenden Schmerzes in meiner Brust schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Papa hatte immer großen Respekt vor den Konzertsälen und war meist nervöser als Mama selbst, obwohl er nur neben mir irgendwo im Parkett oder auf einem der Ränge sitzen musste. Manchmal hat er vor lauter Aufregung das Programmheft zerknittert, bis ich es ihm weggenommen und seine Hand gehalten habe.
„Mama schafft das. Sie ist die Beste, weißt du?“, habe ich dann immer gesagt und Papa lächelte und antwortete: „Ich weiß, mein Schatz.“
Nur dass sie es nicht schaffen würde, hätte ich damals nie für möglich gehalten.
„Als ich acht war, hat sie sich verändert. Wenn sie nach der Arbeit im Studio oder nach einer Konzertreise nach Hause kam, blieb sie manchmal mehrere Tage im Bett liegen, und wenn sie Klavier spielte, klang das anders als früher. Wie Moll, selbst wenn das Stück in Dur gesetzt war.“
Der Löwenzahn. Ich sehe den Text in meinem Lesebuch von damals noch genau vor mir. Während der Hausaufgaben hörte ich zum ersten Mal, dass Mama anders spielte als sonst. Zuerst dachte ich, sie würde an einer Variation zu der Mozart-Sonate arbeiten. Aber als ich genauer zuhörte, erkannte ich, dass sich nicht die Tonart geändert hatte, sondern Mamas Anschlag. Er war kraftloser, als wollte sie die Tasten gar nicht richtig runterdrücken.
„Ich habe gemerkt, dass sie wegen irgendetwas traurig war, und ich habe mir noch mehr Mühe gegeben beim Üben, habe selbst kleine Stücke komponiert, um sie aufzuheitern. Aber es hat nicht viel geholfen.“
„Das hast du schön komponiert, mein Schatz.“ Ihre Stimme war so dünn und leise, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen. Vielleicht hatte sie das auch tatsächlich nicht, obwohl sie so viel Zeit im Bett verbrachte.
„Irgendwann mit zehn oder so, hörte ich, wie meine Eltern darüber sprachen. Es ging um Depression und Therapie. Mama bekam Medikamente, und es ging ihr tatsächlich etwas besser.“
Und dann wurde sie gesund und sie lebten zusammen glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Ich knülle die Zipfel der Wolldecke in meinen Fäusten zusammen. Wie oft habe ich mir diesen Ausgang der Geschichte vorgestellt. So kannte ich es aus Büchern und aus eigenen Erfahrungen. Ich war krank, bekam Medizin und nach einer Weile war ich wieder gesund. Warum sollte es für meine Mutter nicht genauso funktionieren?
Heute weiß ich auf Vernunftebene längst, dass Depressionen nicht mit einer Erkältung zu vergleichen sind. Auf Gefühlsebene kapiere ich es trotzdem noch nicht, und wahrhaben will ich es schon gar nicht, selbst wenn mir die Realität seit zehn Jahren entgegenbrüllt, wie es ist.
„In den Ferien, bevor ich in die sechste Klasse kam, habe ich meine Mutter auf eine Konzertreise ins Baltikum begleitet. Es ging ihr nicht gut. Die letzte CD, die sie aufgenommen hatte, verkaufte sich nicht gut, im Frühjahr hatte sie ein Konzert in Bayreuth absagen müssen. Ihre Karriere stand auf der Kippe.“
Außen hui, innen pfui. Irgendwie passt dieser Spruch auch auf die Welt der Musik.
Wie hart der Kampf um die vordersten Plätze war, hatte ich bei den diversen Wettbewerben selbst schon erlebt. Selbst wenn es vermeintlich um nichts ging, versuchten doch alle virtuoser, schneller, komplexer zu spielen als der Rest. Sechs Stunden üben pro Tag, Workshops, Probenwochenenden und Akademien in den Ferien, um nicht nur Stadtsieger, sondern Landes- oder sogar Bundessieger bei Jugend musiziert zu werden, um ein Stipendium oder einen Platz in der Meisterklasse irgendeiner Koryphäe zu bekommen. Nichts davon vermisse ich, obwohl ich mich selbst freiwillig in dieses System begeben habe. Weil ich meiner Mutter nacheifern wollte. Vielleicht hätte ich es tatsächlich so weit gebracht, wenn es in Estland anders gekommen wäre.
„Mamas Manager hat ihr deutlich gemacht, wie wichtig die Baltikumtournee für sie ist. Also hat sie in Riga gespielt. Zwei Abende vor ausverkauftem Haus. In Vilnius war es genauso. Meine Großeltern sind extra für das Konzert aus Jurbarkas angereist. Es war so ein schönes Wiedersehen …“
Als wäre es gestern gewesen, sehe ich Oma in ihrem langen dunkelblauen Samtkleid und dem weißen Seidentuch vor mir. Sie sah aus wie eine Kaiserin, fand ich. Auch Opa trug seinen schönsten Anzug. Im Vergleich zu ihnen, kam ich mir in meinem Sommerkleid fast schäbig vor, aber meine Großeltern störten sich nicht daran. Sie waren einfach froh, uns wiederzusehen.
„Wenn du das Konzert in Tallin gespielt hast, dann kommt ihr noch für ein, zwei Wochen zu uns“, sagte Oma zum Abschied und sah meine Mutter besorgt an. „Du bist so blass, mein Kind. Es wird Zeit, dass du dich im Garten auf die Liege legst und ich dich ein bisschen verwöhnen darf.“
Ich freute mich auf die Ferien bei meinen Großeltern und hoffte, dass es meiner Mutter auch guttun würde, zu entspannen. Aber es sollte nie so weit kommen.
„Meiner Mutter fiel der Abschied schwer und als wir in Tallin waren, bat sie ihren Manager, das Konzert abzusagen“, murmle ich, den Blick starr auf meine Hände in der Decke gerichtet.
„Bitte, Hans, ich kann nicht mehr. Ich schaff das nicht.“ Mamas Stimme, dünn, kraftlos, verzweifelt, aber laut genug hinter dem Bühnenaufgang des Konzerthauses. Ich hatte sie proben gehört. Es war furchtbar gewesen. Mama war aus dem Takt gekommen, hatte sich öfter vergriffen, als ob sie zum ersten Mal Liszt gespielt hätte.
„Ich bitte dich, Ieva. Nur noch dieses eine Konzert. Lass dir nichts anmerken und zieh durch. Dann sind alle zufrieden und du hast deine Ruhe.“ Hans war unerbittlich. Vielleicht weil das sein Job war und er aus seiner Rolle nicht herauskonnte. Aber er hätte es besser wissen müssen …
„Sie hat irgendwie das Konzert hinter sich gebracht, und anschließend sind wir direkt ins Hotel gefahren und ins Bett gegangen.“
Kalte Wut steigt in mir auf.
Hans hätte sie nicht zwingen dürfen zu spielen, er hätte Mama unterstützen müssen. Alles Ausflüchte. Abwehr, die von der Wahrheit ablenkt. Dass ich nicht aufgepasst habe. Wenn ich doch nur …
Ich erzittere unter der Last des Gedankenkarussells, das sich seit zehn Jahren unablässig dreht. Immer schneller drehen sich die Bilder von damals, wiederholen sich in aberwitziger Geschwindigkeit, blitzen auf, lösen sich ab, kehren zurück. Ich will hier raus.
„Irgendwann ist Mama nochmal aufgestanden und ins Bad gegangen. Ich bin nur so halb wach geworden, aber ich habe mich gewundert, dass sie die Tür abschloss.“
Klick. Ein kleiner, unscheinbarer Ton. Seit jener Nacht das Geräusch, das ich am meisten verabscheue.
Ein Keuchen lässt mich aufschauen. Noah sitzt mit starrer, entsetzter Miene neben mir. Ich habe komplett vergessen, dass er hier ist. Für einem Moment bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich all das eben erzählt habe, oder ob es mir nur wieder einmal filmisch durch den Kopf gegangen ist. Aber sein Blick spricht Bände. Vorsichtig streckt er seine Hand aus und legt sie über der Wolldecke auf meinen Fuß.
„Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, war das Bett neben mir leer. Ich habe gedacht, Mama wäre schon duschen und ich habe gewartet, bis mir auffiel, dass gar kein Wasser lief. Ich bin aufgestanden, habe geklopft. Mama hat nicht geantwortet. Ich wollte die Tür aufmachen, aber sie war zu. Ich habe wieder gerufen, geklopft, immer wieder … Dann bin ich zu Hans und er hat das Personal geholt. Sie haben die Tür aufgebrochen. Mama lag neben der Dusche, sie …“
Meine Stimme bricht weg und ich zittere so stark, dass mir die Decke von den Schultern rutscht. Noah zieht mich in seine Arme und hält mich fest. Ganz fest. Als ob es das Feuer nicht geben würde. Als ob ich nichts getan hätte. Als ob er mein Geständnis nicht gehört hätte. Es fühlt sich so gut an, von ihm gehalten zu werden. Zu hoffen, dass alles gut werden könnte.
Ruckartig löse ich mich aus seiner Umarmung. Ich verdiene das nicht. Es kann nicht wieder gut werden.
Noah sieht mich irritiert an.
„Ich verdiene das nicht.“
„Was?“
„Das alles. Diesen Preis heute Abend, dich, die Anteilnahme … Ich habe versagt.“
Noahs Augen weiten sich. „Du gibst dir die Schuld an dem, was passiert ist?“
Was ist daran so seltsam? Ist das nicht natürlich? Wie könnte ich nicht schuld sein? „Natürlich bin ich schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen. Wenn ich aufgestanden wäre und sofort geklopft hätte, als Mama die Badezimmertür abgeschlossen hat, hätte sie nie all die Tabletten geschluckt.“
„Kristina, du warst elf, und du hast halb geschlafen.“
„Aber ich wusste, dass sie krank war. Ich hätte besser aufpassen müssen.“
Noah seufzt. „Ich kann verstehen, dass du so denkst. Aber es ist nicht deine Schuld. Hörst du, es ist nicht deine Schuld.“
Er zieht mich wieder in seine Arme, und diesmal lasse ich es zu. Ich schluchze, zittere, lasse das Feuer in mir lodern, zum ersten Mal, ohne dagegen anzukämpfen. Noah hält mich fest, bis mir vor Erschöpfung die Augen zufallen.
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