Noah

Scotts verkniffene Miene sagt mir deutlich, dass er mich am liebsten vierteilen würde, als ich am nächsten Morgen in Begleitung von Jayden am Flughafen ankomme. Die Standpauke bleibt jedoch aus, er schiebt mich nur stumm durch Check-in und Sicherheitskontrolle bis zu meinem Platz im Flieger. Vermutlich gar nicht so unberechtigt, dass er nicht aus den Augen lässt, denn freiwillig bin ich ganz bestimmt nicht hier.
Ich schenke dem Steward, der zwischen unseren Luxussitzen hin und her scharwenzelt, keine Beachtung, sondern ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Mir wird so leicht ums Herz, dass ich fast auch ohne Flugzeug abheben könnte.
Danke, dass du geblieben bist. Guten Flug. Kann’s nicht erwarten, dich wiederzusehen.
Kristinas Nachricht folgt ein Kuss-Emoji.
Lächelnd tippe ich meine Antwort.
Danke, dass du mir alles erzählt hast. Vergiss nicht, du bist stark und wundervoll. Hab dich lieb.
Der Steward reicht mir ein dampfendes Handtuch und deutet lächelnd auf mein Handy. Ich nicke ergeben und stelle den Flugmodus ein. Dann schnappe ich mir die Decke aus dem Seitenfach meines Sitzes, strecke mich aus und schließe die Augen. Zum einen bin ich saumüde, vor allem aber geht mir das, was Kristina mir letzte Nacht erzählt hat, nicht aus dem Kopf.
Fuck, allein wenn ich daran denke, wie sie vor Verzweiflung gezittert hat, würde ich am liebsten aufspringen und sie wieder in den Arm nehmen. Wie konnte sie das alles zehn verdammte Jahre mit sich herumtragen, ohne mit jemandem darüber zu sprechen? Eine so krass lange Zeit, in der in ihr die Gewissheit gewachsen ist, schuld am Tod ihrer Mutter zu sein. Ich bilde mir nicht ein, dass ich sie heute Nacht vom Gegenteil überzeugt habe, aber ich hoffe, dass sie sich wenigstens ein bisschen besser fühlt.
Mann, Noah, wie naiv kann man sein? Als ob das Händchenhalten alle Wunden heilen würde. Und trotzdem, wenn das einzige, was ich tun kann, ist, Kristina in den Arm zu nehmen, dann will ich das tun. Leider kann ich das gerade nicht einmal tun, und auch in den nächsten drei Wochen nicht. Denn ich sitze in diesem verdammten Flugzeug nach Tokio.
Ich habe Nackenschmerzen aus der Hölle.
Neun Stunden schief im Flugzeug liegen, in Peking auf dem Flughafen rumgammeln und ein weiterer Flug in Halbacht-Stellung, haben mit meinen Muskeln und Knochen irgendetwas angestellt, was weit entfernt von anatomisch korrekt ist. Vermutlich habe ich eine Haltung wie Quasimodo, als ich hinter Liam das Studio des Frühstückfernsehens betrete. Das Team der Sendung ist total zuvorkommend, nicht so aufdringlich oder genervt wie die Leute in Europa. Als eine Mitarbeiterin mir eine Tasse Tee reicht, will ich ihre höfliche Verbeugung erwidern.
Nicht gut. Gar nicht gut. Irgendetwas in meinem Nacken rastet ein und ein heißer Schmerz jagt durch meinen Körper. Ich keuche auf, verschütte etwas von dem Tee. Bei dem Versuch, mich langsam wieder aufzurichten, schießen mir Tränen in die Augen. Meine Muskeln scheinen Stahlseile zu sein, die sich auf unnatürliche Weise verknotet haben. Ich bin gezwungen, schräg nach rechts unten zu gucken. Es ist mir beim besten Willen nicht möglich, den Kopf zu drehen. Verdammte Scheiße.
Der Host der Show, der freundlich lächelnd auf uns zukommt, kann für einen Augenblick seine Irritation nicht verbergen, ist aber zu höflich, um mich auf meine schiefe Haltung anzusprechen. Anders als Scott. Mit zwei schnellen Schritten ist er bei mir und packt mich am Arm. Ich zucke unwillkürlich zusammen, woraufhin mir eine neue Schmerzsalve durch den Körper schießt.
„Was ist los, Noah? Kannst du dich nicht einmal zusammenreißen?“
Wenn er wüsste, wie sehr ich mich gerade zusammenreiße, um nicht durch das ganze Fernsehstudio zu brüllen. „Sorry, ich hab mir irgendetwas eingeklemmt“, presse ich hervor und deute mit der linken Hand vage auf meinen Nacken.
Scott seufzt verärgert, gut möglich, dass er glaubt, ich würde simulieren. Ich wünschte, er hätte recht. Mit einer erschreckend lässigen Bewegung zieht Scott einen Tablettenblister aus seiner Jackentasche und drückt mir eine Tablette in die geöffnete Hand.
„Das sollte dich schmerzfrei machen.“
Ich beschließe, nicht zu fragen, wieso Scott Schmerzmittel in der Tasche hat, sondern würge die Tablette runter, was gar nicht mal so leicht ist, wenn man den Kopf nicht in den Nacken legen kann. Keine Ahnung, was genau das für Zeug ist, aber es wirkt fast unmittelbar, auch wenn es mir danach vorkommt, als würde eine Art Filter vor meinen Augen liegen.
Die japanische Fernsehshow lenkt mich zusätzlich ab. Endlich mal ein paar andere Fragen als dieses ewige Wer-hat-eine-Freundin-Gelaber.
„Wie viel Zeit verbringt ihr pro Tag miteinander, auch außerhalb der Bühne?“
„Jede Minute, die wir nicht schlafen“, antwortet Suma lachend. „Wenn wir nicht auf der Bühne stehen, trainieren wir, geben Interviews oder sind im Bus oder Flugzeug unterwegs. Also, bestimmt siebzehn, achtzehn Stunden am Tag.“
Der Host nickt anerkennend. „Und wer steht immer zuerst auf?“
Ich definitiv nicht. „Liam“, sage ich im gleichen Moment wie Andy und Suma, während Liam selbst sich ganz in asiatischer Zurückhaltung übt und abwinkt.
„In euren Videos, vor allem aber auch auf der Bühne, habt ihr zu jedem Song eine eigene Choreografie. Könnt ihr uns einen kleinen Teil vortanzen?“
Verflucht, wie soll ich das denn hinbekommen? Zwar ist der Schmerz betäubt, aber die Muskeln in meinem Nacken sträuben sich noch immer gegen eine normale Bewegung. Leider ist Suma schon begeistert aufgesprungen und ruft „Na klar.“
Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich ebenfalls von dem plüschigen Sofa zu erheben und mich neben den anderen aufzustellen. Das Playback zu Like a Mirror ertönt. Ausgerechnet.
Vergiss nicht, du bist stark, schießt mir meine Nachricht an Kristina durch den Kopf. Irgendwie werde ich das hier schon schaffen. Lächeln, höflich sein, meinen Job machen. Es geht. Wahrscheinlich nicht ganz so geschmeidig wie sonst, aber das gesamte Fernsehteam applaudiert begeistert, als wir unsere Performance beenden und wieder auf dem Sofa platznehmen.
Nach der Show machen wir uns auf den Weg zu einer bekannten TikTokerin.
Obwohl die Straßen voll sind und die Menschen nicht weniger beschäftigt sind als an anderen Orten, die ich in den letzten Monaten gesehen habe, wirkt es in Tokio alles geordneter. Es gefällt mir, hier könnte ich auch bleiben. Wenn es nicht so weit weg wäre von zuhause.
Marble hat mir ein Foto von sich mit einem jungen Mann geschickt. Er trägt ein mittelalterliches Kostüm und lächelt mir neben Marble breit entgegen.
Liebe Grüße von Stevie. Er will dich kennlern nach der Premiere. Hab dich lieb.
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Marble setzt alle Hebel in Bewegung, um sicherzugehen, dass ich wirklich komme. Dabei steht das für mich längst fest. Aber ich lasse ihr die Freude an der Überzeugungsarbeit.
Ich schaffe es nicht mehr, ihr zu antworten, ehe wir bei Yuki ankommen, die uns freudestrahlend begrüßt. Ihre glatten schwarzen Haare umrahmen ihr Gesicht, das auffallend grell geschminkt ist. Ihre Wangen leuchten hellrot, ihre verstärkten Wimpern sind mit Glitzersteinchen versehen, die bei jedem Augenaufschlag funkeln. Ihr Outfit, bestehend aus einem äußerst knappen Faltenrock und einer weißen Bluse mit Puffärmeln vervollständigt das Bild einer Anime-Figur.
Ich durchforste mein Hirn nach Informationen, wieso wir uns mit ihr treffen. Hilfesuchend schaue ich zu Andy, aber der starrt nur gebannt auf Yukis Erscheinung. Toll!
Zum Glück entdecke ich das Plakat, das über der Sitzecke in Yukis Wohnzimmer hängt. Natürlich kann ich den Schriftzug nicht lesen, aber das Motiv mit den vier Comicfiguren kommt mir bekannt vor. Irgendein Anime-Film, der in Japan ziemlich durch die Decke gegangen ist und der nun bald auch in Europa erscheinen wird. Für die englische Synchronisation der vier Protagonisten sind Andy, Suma, Liam und ich vorgesehen. Shit, das habe ich komplett verdrängt.
Ich habe so was von keinen Plan von Animes, und leider kann ich mich auch nicht mehr erinnern, wie der Film heißt oder worum es geht, geschweige denn, welche Rolle ich da übernehmen soll. Während des folgenden Livestreams bemühe ich mich also um professionelles Auftreten bei vollkommener Ahnungslosigkeit. Wenn ich Glück habe, legen die Zuschauer mir es positiv aus, dass ich, wie die anderen, grinsend die Maske entgegennehme, die Yuki uns irgendwann reicht. Mit den Bildern unserer Comicfiguren vorm Gesicht geben wir irgendeine Szene aus dem Film zum Besten. Yuki klatscht begeistert und ich fühle mich auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Nicht. Immerhin fällt hinter der Maske nicht auf, dass ich eine gequälte Grimasse schneide, weil die Wirkung des Schmerzmittels nachlässt.
Bis zu diesem Moment war mir nie so bewusst, dass mein Hirn aus zwei Hälften besteht.
Jetzt sitzt der Schmerz genau dazwischen und scheint sie auseinanderzuschieben und immer fester gegen meinen Schädel zu drücken. Es dröhnt, und obwohl ich die Augen geschlossen habe, hört es nicht auf zu flimmern. Fuck, was ist das?
Ich versuche mich aufzurichten, komme aber nicht weit. Meine Schultern und mein Nacken sind steif wie ein Brett. Stöhnend sinke ich in mich zusammen, taste nach meinem Handy. Als ich es endlich finde und mich zwinge, die Augen zu öffnen, wünschte ich, ich könnte ohnmächtig werden. In einer halben Stunde wird mein Wecker klingeln. In anderthalb Stunden ist Abfahrt zum nächsten Promo-Termin. Das schaffe ich nicht. Nicht so. Mit fahrigen Bewegungen wische ich über das Display und rufe Scott an.
„Scott, Notfall“, krächze ich, als er abnimmt.
Drei Minuten später steht er seufzend neben meinem Bett und drückt mir eine Tablette in die Hand. Nur mit größter Anstrengung schaffe ich es, sie zu schlucken, und noch mehr Überwindung kostet es mich, sie drin zu behalten. Aber wie schon gestern entfaltet die Tablette auch heute rasch ihre Wirkung. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt nach und das Flimmern verschwindet. Nur bewegen kann ich mich immer noch nicht.
„Ich kann so nicht auftreten. Ich schaff’s nicht mal, mir mein T-Shirt auszuziehen.“ Weiter als auf knappe Schulterhöhe kann ich meine Arme tatsächlich nicht heben, ehe etwas blockiert.
Scott nickt und läuft hektisch vor meinem Bett auf und ab. „Okay. Okay, ich überleg mir etwas. Ich habe gestern noch etwas in der Hotelbroschüre gelesen … Bleib liegen.“
Scherzkeks. Als ob ich in meinem Zustand ernsthaft weglaufen könnte.
Ich habe nicht einmal bemerkt, dass Scott mein Zimmer verlassen hat, da kommt er wieder herein, diesmal nicht allein. Ein Typ in kurzen Hosen, weißem T-Shirt und schwarzem Stirnband betritt den Raum. Er ist jung, vielleicht nur ein paar Jahre älter als ich.
„Guten Morgen, Sir. Mein Name ist Poom.“
„Poom arbeitet hier als Masseur“, erklärt Scott kurz angebunden.
„Okay“, murmle ich.
„Sind Sie einverstanden, dass ich mir Ihre Schulter einmal ansehe?“, fragt Poom.
„Klar.“
Kurz darauf würde ich mein Einverständnis gern wieder zurückziehen. Der Masseur kniet neben mir und drückt derart fest auf meine verhärteten Muskeln, dass ich in mein Kissen beißen muss, um nicht laut aufzuschreien.
„Sie müssen schon sehr lang Beschwerden haben“, sagt Poom.
„Seit gestern“, keuche ich.
Poom hält kurz inne, ein Moment, in dem ich nach Luft schnappe. „Diese Verspannungen sind älter als einen Tag. Sie können monatelang nicht richtig geschlafen haben.“
Wenn es nicht zu sehr wehtun würde, würde ich jetzt laut lachen. Nicht richtig geschlafen, ist das eine. Dass darüber hinaus nicht jede Stunde Schlaf in einem bequemen Bett war, ist das andere. Ich komme nicht dazu, dem Masseur das genauer zu erläutern, denn er bohrt seine Fingerspitzen wie Schraubstöcke in meine Nackenmuskulatur und ich kann nur schmerzvoll ins Kissen stöhnen. Ich hätte auf einer Vollnarkose bestehen sollen.
„Probieren Sie mal, sich aufzurichten“, bittet Poom irgendwann.
Ich kann es kaum glauben, aber es gelingt mir, die Arme auf der Matratze aufzustützen und mich langsam hinzusetzen. Poom umfasst meinen Kopf und dreht ihn vorsichtig von links nach rechts. Ich warte darauf, dass die Muskeln blockieren und der reißende Schmerz durch meinen Körper schießt, aber nichts passiert. Langsam dreht der Masseur meinen Kopf nach vorn und zur Seite.
„Noch nicht perfekt, aber es geht in die richtige Richtung.“
„Nicht perfekt?“ Ich sehe ihn verwirrt an. „Ich bin wieder genauso beweglich wie vorgestern.“ Wie zum Beweis strecke ich die Arme über meinen Kopf.
Poom lächelt ein wenig verhalten. „Das freut mich, aber Sie bewegen sich immer noch nicht so wie es gesund wäre.“
Ich lasse die Arme sinken, sehe ihn schweigend an. Er wird es nicht direkt sagen, aber die Message zwischen den Zeilen dringt dennoch zu mir durch. Das Leben, das ich führe, ist nicht gesund. Das ist mir klar, nicht erst seit gestern.
„Was mache ich denn falsch?“
Wieder lächelt Poom. „Ihr Nacken fühlt sich an, als hätten Sie seit langer Zeit den Kopf eingezogen … ein bisschen wie eine Schildkröte.“ Er hebt die Schultern bis sie seine Ohrläppchen berühren.
Habe ich echt so eine schlechte Haltung?
Offenbar sehe ich ziemlich entsetzt aus, denn Poom lacht auf und lässt die Schultern wieder sinken. „Ich übertreibe ein bisschen, aber Sie müssen sich wirklich lange vor etwas weggeduckt haben.“
Ich schnappe nach Luft. Er hat recht. Da bin ich seit Jahren Profi im Dauerlächeln, wickle Fans und Journalisten problemlos um den Finger, und jetzt verrät mein Nacken, wie sehr mich das Ganze abfuckt? Ich habe es mir selbst nicht eingestanden, dass ich dieses Leben nicht will. Weil ich keine Alternative habe. Ich habe meine Ablehnung so sehr unterdrückt, dass ich nicht einmal mehr weiß, wie ich mich frei bewegen soll.
„Wie kann ich es richtig machen?“
„Sie haben sich sehr lange an eine falsche Haltung gewöhnt, das lässt sich nicht in fünf Minuten revidieren.“ Er sieht mich bedauernd an. „Ich würde Ihnen eine Physiotherapie empfehlen.“
„Kann ich die bei Ihnen machen?“
„Sehr gern, aber ich fürchte, Sie müssten dafür nach Thailand kommen. Meine Zeit hier endet morgen.“
Ich sinke auf der Bettkante ein Stück in mir zusammen. War ja klar, dass da irgendwo ein Haken war. Kurz überlege ich, ob ich ihm anbieten soll, uns auf Tour zu begleiten, aber Poom sieht nicht käuflich aus, und ich will auch nicht der arrogante Star sein, der glaubt, für Geld alles kriegen zu können.
Poom zieht eine Visitenkarte aus seiner Hosentasche und reicht sie mir. „Wenn Sie möchten, können Sie sich meine YouTube-Videos ansehen und ein paar der Übungen machen, bis sie einen Therapeuten gefunden haben. Ich habe sehr gute Kollegen in England.“
Ich drehe die Karte zwischen den Fingen, doch noch ehe ich den Text darauf genauer lesen kann, geht die Tür auf.
„Noah, du bist wieder senkrecht. Großartig! Dann kann es ja gleich wie geplant losgehen.“
Ich sehe nicht Scott an, sondern Poom. Er mustert mich eindringlich und tippt mit dem Zeigefinger auf seine rechte Schulter und nickt mir zu. Ertappt lasse ich die Schultern sinken.
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