Kristina

Ich sehe sehr viel weiß, am Rand einen Hauch von grün, genaue Umrisse sind nicht zu erkennen. Trotzdem zögere ich keine Sekunde, ehe ich Noah meine Antwort auf sein heutiges Rätsel schicke.
Sushi.
Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis er antwortet, also lege ich das Handy zur Seite, kann mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. Joshie mustert mich, spitzt die Lippen und hebt eine Augenbraue.
„Möchtest du mir nicht verraten, was nach der Party passiert ist?“
„So wie du guckst, weißt du es doch eh schon.“ Ein lahmer Versuch, mich aus der Affäre zu ziehen, und genau die Vorlage, die Joshie braucht.
„So wie du guckst, ist das auch nicht schwer zu erraten.“
„Na, dann ist doch alles geklärt.“
Joshie verdreht die Augen in Richtung der Lüftung über unseren Sitzen im Tourbus. „Wie konnte ich nur vergessen, dass du so stur sein kannst?“
Was für sie mindestens genauso gilt. Vermutlich ist sie deshalb schon seit dreizehn Jahren meine beste Freundin. Und genau deshalb erzähle ich ihr auch, was passiert ist, nachdem ich die Aftershow-Party der Membran-Verleihung verlassen habe.
„Wir haben die halbe Nacht geredet und … ich habe ihm von Mama erzählt.“
Zum ersten Mal seit sehr sehr langer Zeit erlebe ich Joshie fassungslos. Sie wirkt fast ein bisschen blass um die Nase. Ein paar Mal öffnet und schließt sie den Mund, ohne etwas zu sagen. Schließlich scheint sie jedoch die richtigen Worte gefunden zu haben. „Was hat er gesagt?“
Ich schlinge die Arme um mein angewinkeltes Knie, lege den Kopf darauf ab, fast die gleiche Haltung wie vor zwei Tagen. So wie Noah im Apartment, schaffe ich es auch jetzt nicht, Joshie in die Augen zu sehen. Dass ich darüber gesprochen habe, was in Tallin passiert ist, erscheint mir selbst noch so unglaublich. Noahs Stimme, sanft, aber eindringlich wie nie zuvor, seine Umarmung, die mich immer noch hält. Worte, die ich so gern glauben möchte.
„Was du auch gesagt hast“, flüstere ich. „Dass ich …“ Ich schlucke. Noch nie zuvor habe ich es selbst ausgesprochen. Jedes einzelne Wort des Satzes habe ich schon tausend Mal benutzt, doch in dieser Kombination fühlen sie sich schwer wie Blei an. Ich balle die Hände zu Fäusten, hole noch einmal Luft. „Dass ich nicht … nicht schuld bin.“
Es ist raus. Ich habe es gesagt. Erschrocken schlage ich die Hand vor den Mund. Ich kann es nicht mehr zurücknehmen. Mein Herz rast wie wild, das Feuer lodert auf, aber nur kurz. Seit der Nacht in Noahs Armen hat es sich etwas beruhigt.
Joshie klettert von ihrem Sitz zu mir herüber und schlingt ihre Arme fest um mich. „Ich bin so stolz auf dich“, flüstert sie mir ins Ohr.
Es könnte gut sein, vielleicht sollte es das auch. Trotzdem fahre ich zusammen und kann die Tränen nicht zurückhalten. „Es fühlt sich komisch an, das zu sagen. Wie eine Lüge.“
„Ich weiß. Aber es wird besser werden. Dein Herz wird das auch noch verstehen.“
„Und Papa?“ Die Vorstellung, ihm erzählen zu müssen, was ich Joshie und Noah berichtet habe, lässt kalte Panik in mir aufsteigen, die mich in Joshies Umarmung erzittern lässt.
„Schhh … ganz ruhig. Du musst nichts überstürzen. Gewöhn dich erstmal an den Gedanken.“
Ich erwidere Joshies Umarmung, vergrabe mein Gesicht in ihrem T-Shirt. Sie ist einfach die Beste.
Menno, du bist einfach zu gut. Wie konntest du so schnell wissen, dass ich Sushi fotografiert habe?
Mein Lachen hallt durch die Wohnküche und Papa und Doro sehen verwundert von ihrem Kaffee auf.
„Dürfen wir mitlachen?“, fragt Doro.
Ich winke ab. „Situationskomik.“ Außerdem habe ich weder meinem Vater, geschweige denn Doro, bislang von Noah erzählt. Gar nicht einmal aus böser Absicht, es hat sich einfach nicht ergeben und irgendwie habe ich das Gefühl, mit Papa erst über andere Dinge reden zu müssen. Sofort bildet sich wieder ein Kloß in meinem Hals. Gerade als Papa Doro ihren Kaffee gebracht hat, hat er ihr sanft über den Rücken gestreichelt, und sie hat ihm dieses bezaubernde unbeschwerte Lächeln geschenkt. Sie sind so süß zusammen, auch wenn es immer noch wehtut, dass es nicht Mama ist, die hier bei uns sitzt. Aber Stück für Stück gelingt es mir, mich für die beiden zu freuen. Das kann ich nicht zerstören, indem ich anfange, von Mama zu reden.
Bevor mich die Trauer überwältigen kann, widme ich mich wieder Noahs Nachricht.
Dein Ernst? Du bist in Japan! Da musst du schon mit etwas Besserem kommen.
Seine Antwort lässt nicht lange auf sich warten.
Okay, morgen gibt’s etwas Schwieriges. War wohl noch nicht wieder so fit nach meiner Nackenverspannung.
Ich scrolle im Chat nach oben zu dem Foto, das er mir geschickt hat. Noah steht schief mit gesenktem Blick neben den anderen Bandmitgliedern in einem Fernsehstudio und tanzt. Er lächelt, so wie er es immer in der Öffentlichkeit tut. Aber es ist deutlich zu sehen, dass es ihm nicht gut geht. Welch ein Glück für ihn, dass dieser Physiotherapeut aus Thailand ihn wieder einrenken konnte.
Sind die Schmerzen weg?, frage ich.
Im Großen und Ganzen schon. Für den Rest gibt’s Schmerzmittel. Aber ich versuche jetzt immer die Schultern nach unten zu drücken und das fühlt sich extrem komisch an.
Wozu machst du das?, schreibe ich und ertappe mich dabei, wie ich die Bewegung unwillkürlich nachahme.
Poom hat gesagt, dass ich schon seit langer Zeit den Kopf einziehe. Ich hab das gar nicht gemerkt. Aber als Scott dann ins Zimmer kam, hab ich es wieder gemacht. Wohl ein dezenter Wink mit dem Zaunpfahl.
Ich lasse das Handy sinken, schaue zum Flügel hinüber.Es ist nicht das erste Mal, dass Noah mir mehr oder weniger deutlich sagt, wie wenig Lust er auf den Starrummel hat. Er steckt in Verträgen fest, so wie ich in meinen Erinnerungen. Er könnte …
„Kristina? Bist du noch wach?“ Mein Vater wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht.
„Was? Ja, ja“, behaupte ich und tippe rasch eine Antwort an Noah.
Vielleicht ist es das. Pass auf dich auf. Love u.
„Freust du dich auf Regensburg?“, fragt Doro unvermittelt.
„Ja, das Festival wird bestimmt cool.“
„Ich wollte eine ehemalige Studienfreundin überreden, sich euren Auftritt anzusehen, aber sie ist mit ihrer Familie im Urlaub.“
„Schade. Aber vielleicht hat sie im Herbst Lust, uns auf Tour zu besuchen. Sag mir gern Bescheid, dann setze ich sie auf die Gästeliste.“ Ich lächle Doro an, meine es ehrlich, und als sie begeistert nickt, werden die Flammen in mir für einen Moment ganz klein.
Diesmal haben wir Glück mit dem Wetter.
Es ist angenehm warm, nicht zu heiß, hin und wieder weht ein lauer Wind und der Himmel ist geradezu kitschig blau. Am Horizont sind die Dächer der Innenstadt zu erahnen, die auf der anderen Seite der Donau liegt. Viel wichtiger sind aber die Leute, die sich vor der Bühne tummeln und von der Musik der Band mitreißen lassen, die gerade abrockt. Wir wippen am Rand der Bühne mit.
„Saugeil“, sagt Freddy, was ihm einen gespielt tadelnden Blick von Judith einbringt, die uns an diesem Wochenende begleitet.
„Und all eure Fans denken, du bist der geborene Poet …“
„Manchmal braucht es einfach keine großen Worte“, sagt Johnny und spielt ein paar Läufe auf einem imaginierten Bass.
„Dann ist saugeil definitiv das richtige Wort“, erwidert Judith spöttisch.
„Schön, dass du das jetzt auch so siehst.“ Freddy beugt sich zu Judith und küsst sie, ehe sie noch weiter auf seiner Wortwahl herumreiten kann. Sie scheint allerdings keine Einwände zu haben, sondern erwidert Freddys Kuss leidenschaftlich.
Ich drehe mich weg und konzentriere mich auf die silbrig glänzende Traverse wenige Meter vor mir. Natürlich gönne ich Freddy und Judith ihr Glück. Aber es erinnert mich in diesem Moment viel zu sehr daran, dass ich Noah schon viel zu lang nicht mehr geküsst habe. Es tröstet mich nicht im geringsten, dass ich mir das zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben habe. Das macht es eher schlimmer. Dank der Kuss-Emojis, die Noah mir schickt, weiß ich, dass es ihm ähnlich geht. Zwei lange Wochen noch, bis er aus Asien zurückkommt. Doch wann wir uns wiedersehen können …
„Okay, macht euch bereit. Nach diesem Song seid ihr dran.“
Ich schließe die Augen, verdränge Noah aus meinen Gedanken, konzentriere mich stattdessen auf unseren ersten Song. Vor der Bühne brandet lauter Jubel auf, Pfiffe erheben sich über die Masse, rhythmisches Klatschen, das nach einer Zugabe fordert. Aber der Zeitplan lässt keine Verlängerung zu. Die Musiker der Vorgängerband kommen mit ihren Gitarren die Bühnentreppe herunter, die T-Shirts durchnässt und Schweißperlen auf der Stirn, aber alle mit breitem Grinsen auf dem Gesicht.
„Super Show“, ruft Ben ihnen zu.
„Danke. Viel Spaß euch“, erwidert der Gitarrist und Leadsänger und gibt Freddy im Vorbeigehen ein High-Five.
Nach einem raschen Umbau mit Hilfe der Stagehands entern wir die Bühne und werden dankenswerter ähnlich begeistert bejubelt wie die Band vor uns. Joshie zählt ein und schon fahren mir die Base und Freddys erster Akkord durch Mark und Bein. Meine Hände fliegen wie von selbst über die Tasten.
„Run, run, run“, singe ich.
„Run, run, run“, singt das Publikum. Eine einzige Masse aus Menschen, die auf Freddys und Bens Geheiß mit den Armen von links nach rechts winken, klatschen oder Fahnen schwenken. Ein wunderbares D-Dur, wenn dieser Moment eine Tonart wäre. Gute Stimmung, mit der Verheißung, dass da noch etwas kommt.
Und es kommt ganz viel.
Die ersten drei Songs powern wir durch, gönnen uns und dem Publikum keine Pause. Joshie tritt die Base so hart, dass ich das Gefühl habe, das Fell würde mir gegen den Po drücken, Johnnys Bassläufe lassen meine Bauchdecke hüpfen. Das ist Musik. Das ist Leben. Wir sind eins mit den Leuten da vor uns.
„Regensbuuuurg!“, brüllt Freddy. „Ihr seid krass drauf. Danke schön! Wir müssen mal alle ein bisschen durchatmen, nicht dass uns jemand umkippt. Wir haben schließlich noch ein bisschen was vor.“
Er wirft mir einen Blick zu und ich spiele das Intro zu Finding you. Für die ersten acht Takte spiele ich allein, die linke Hand in ruhigen liegenden Akkorden, die rechte bereitet Bens Einsatz vor. Er hat seine Gitarre auf den Rücken gedreht und umfasst das Mikro vor sich mit beiden Händen, haucht die ersten Zeilen beinahe hervor. Freddy spielt ein paar Töne mit der E-Gitarre darunter, ehe sich im Refrain auch Joshie und Johnny dazugesellen. Vor der Bühne wiegen sich die Leute im Takt hin und her. Ich schließe die Lider, behalte das Bild vor Augen und lasse mich einfach fallen. Akkorde fangen mich auf, breiten ihr Netz unter mir aus, tragen mich von Takt zu Takt.
Bis sich plötzlich ein Loch im Klangteppich auftut. Irritiert öffne ich die Augen, sehe mich um, als ob das etwas an der Akkustik ändern würde.
Der Bass fehlt. Hastig fingere ich an meinen Inears herum, vielleicht sind sie ja nur verrutscht. Nein, sie sitzen genau richtig. Ein Fehler vom Tonmischer? Vielleicht ist jemand gegen einen Regler gestoßen? So wie beim ersten Festival, als der Bass auf einmal nicht mehr zu hören war. Ich schaue zu Johnny rüber.
Es ist kein Mixfehler. Johnny spielt nicht. Wieso spielt er nicht?
Er steht stocksteif da, die linke Hand um den Hals des Basses geklammert, die rechte hängt schlaff herunter. Der Schirm seiner Basecap verdeckt sein Gesicht. Was ist nur los? Meine Hände bewegen sich wie automatisch über die Tastatur, während ich mich zu Joshie umdrehe. Sie fängt meinen Blick, verzieht ahnungslos das Gesicht, spielt aber ebenso unbeirrt weiter.
Ben hat seine Gitarre inzwischen wieder vor dem Bauch und schlägt den Rhythmus mit, während er die dritte Strophe singt. Freddy geht zu Johnny rüber, ganz so, als sei es Teil der Show. Er beugt sich zu ihm. Ein Zittern läuft durch Johnnys Körper und einen halben Takt später habe ich wieder einen vollständigen Klang im Ohr. Es ist zwar nicht die gewohnte Baseline, aber immerhin. Johnny spielt wieder.
„Bloody hell, Johnny, ich hab gedacht, ich bekomme einen Herzinfarkt“, ruft Joshie, als wir eine halbe Stunde später die Bühne verlassen.
„Was war denn los?“, fragt Ben.
Johnny weicht unseren Blicken aus und zieht seine Zigaretten aus der Hosentasche. Hastig, aber mit merkwürdig zitternden Fingern, zündet er sich eine an und bringt ein paar Meter Abstand zwischen sich und uns. Freddy läuft ihm nach, aber Johnny hebt nur abwehrend eine Hand und wendet sich erneut ab.
Schulterzuckend kommt Freddy zu uns zurück. „Keine Ahnung.“
„Der kriegt sich schon wieder ein“, sagt Judith, wohl in dem Versuch ihn aufzumuntern. Aber Freddys Miene bleibt reserviert, sein Unterkiefer schiebt sich hin und her. Er ist besorgt. Johnny steht an einem der mit schwarzen Planen verhangenen Zäune, die den Backstage abgrenzen und raucht hektisch. Den Kopf gesenkt, die Schultern angespannt, sein Sender hängt noch am Bund seiner Jeans. Nicht einmal die Inears hat er rausgenommen. Alles an ihm strahlt Ablehnung aus.
Ich hoffe, dass Judith recht behält und Johnny nach seiner Raucherpause wieder der Alte ist. Aber die Euphorie, die mich eben noch auf der Bühne umgeben hat, und die uns durch den Applaus des Publikums noch immer entgegenwallt, hat einen unbequemen Dämpfer bekommen, der sich auch nicht durch die gute Laune abschütteln lässt, die die anderen Bands im Backstage verbreiten.
Erfrischt von der ausgiebigen Joggingrunde entlang der Donau stehe ich am Fenster meines Apartments und genieße den Blick auf den Dom.
Die Sonne strahlt auf die helle Fassade, über dem Dach kreist ein Turmfalke. Sehr idyllisch.
Ich mache ein Foto von einem der gotischen Giebel und schicke es an Noah. Als es von der Turmuhr neun Uhr schlägt, trinke ich den Rest meines Tees, spüle die Tasse ab und stelle sie zurück auf das Regalbrett über der Spüle. Ich packe die letzten Kleinigkeiten in meinen Koffer und schreibe noch eine kurze Dankeskarte, die ich für den Vermieter auf den Küchentisch lege.
Das Hotel, in dem die anderen untergebracht sind, liegt ebenfalls nahe des Doms und so brauche ich nur drei Minuten, bis ich das Foyer erreiche. Doch kaum habe ich den Eingangsbereich betreten, verrutscht das Lächeln, das bis eben noch auf meinen Lippen lag. Piet läuft zwischen Rezeption und Fahrstuhl hin und her, massiert mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel und hat sein Handy am Ohr. Offenbar nimmt jedoch der gewünschte Gesprächspartner nicht ab, denn Piet schüttelt genervt den Kopf. Ben lehnt an der Wand, tippt wie wild auf seinem Smartphone herum, die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. Joshie sitzt auf ihrer Reisetasche und trommelt irgendwelche absurden Rhythmen auf ihrem Knie. Freddy steht regungslos und mit versteinerter Miene mitten im Foyer. Judith neben ihm hat einen Arm um ihn gelegt, hält seine Hand, aber Freddy sieht nicht so aus, als würde er es registrieren.
Mit wenigen Schritten bin ich bei ihm. „Was ist los?“
Freddy reagiert nicht, scheint fast durch mich hindurchzusehen. Judith seufzt, zieht etwas aus Freddys Hand und reicht es mir. Ein Zettel, DIN-A5, etwas schief auf die Hälfte gefaltet. Oben rechts ist das Logo des Hotels abgedruckt. Doch das ist es nicht, was meinen Puls unwillkürlich in die Höhe schnellen lässt. Auf dem Karomuster steht nur ein Satz.
Sorry, Leute, ich brauch ne Pause. Johnny
Kommentar schreiben