Kapitel 54 - Wahrheit zwischen Stühlen

Noah

Wir klammern uns aneinander wie Ertrinkende. Alles, was bis vor einer Sekunde noch laut war, die Sehnsucht, die Zweifel, die Nervosität, alles wird still und leise in dieser Umarmung.

Kristina schlingt ihre Arme eng um meine Schultern und vergräbt ihren Kopf in meiner Halsbeuge. Ihr Atem streichelt warm meine Haut, während ich Nase und Hände in ihr Haar drücke. Oh Gott, bitte lass es niemals enden.

Es prickelt in meinem gesamten Körper, als Kristinas Hände meinen Nacken heraufwandern, bis ihre Finger schließlich sanft meinen Kopf umfassen. Weich wie samt drücken sich ihre Lippen auf meine. Ich schaffe es nicht, dem Druck länger als einen Augenblick standzuhalten, dann öffne ich gierig meinen Mund und küsse sie als ob mein Leben davon abhinge. Kristina erwidert den Kuss nicht weniger drängend.

 

Endlich ist sie hier, endlich bin ich wieder hier, endlich nur noch wir.

 

Die elektronische Zentralverriegelung reißt uns in die Realität zurücl und zeigt uns, dass wir nicht so allein sind wie wir es gerade gern wären. Vincent sieht demonstrativ an uns vorbei, während er den Autoschlüssel in der Jackentasche versenkt und die Stufen zur Villa hinaufläuft.

 

Ich streichle Kristinas Rücken, spiele mit den Spitzen ihres Haars und schaue in das tiefe Braun ihrer Augen. „Es ist so schön, dass du hier bist.“

 

„Und dass du hier bist“, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen, und küsst mich noch einmal. Nur zu gern lasse ich mich darauf ein, aber schließlich löse ich mich doch von ihr.

 

„Magst du mit reinkommen? Hier kann uns zwar niemand Unbefugtes sehen, aber auch den anderen müssen wir ja nicht mehr zeigen als notwendig.“

 

Kristina sieht sich um und scheint nun zum ersten Mal das Anwesen meiner Familie richtig wahrzunehmen. „Wow, wie viele Bedienstete laufen hier denn rum?“

 

„Nicht so viele. Möglicherweise habe ich ein wenig übertrieben.“

 

Sie grinst. „Weil du konkrete Hintergedanken hast?“

 

„Was unterstellst du mir?“, erwidere ich in einem Tonfall, der ihr deutlich macht, dass sie mich durchschaut hat. In den Wochen in Asien dachte ich, Sehnsucht und Verlangen könnte kaum größer sein. Wie konnte ich mich so krass irren? Ich habe das Gefühl, als würde mein Blut kochen und irgendetwas in mir gleich explodieren.

Kristina spitzt die Lippen und sieht mich herausfordernd an. Dann folgt sie mir nach drinnen.

 

 

„Bist du sicher, dass das hier der richtige Eingang ist?“

 

Kristina lässt meine Hand los und bleibt vor der unscheinbaren Stahltür stehen.

„Für uns ja“, sage ich und genieße für einen Moment die Irritation, die sich auf Kristinas Gesicht ausbreitet. Im nächsten Augenblick fliegt die Stahltür auf und ich kann gerade noch rechtzeitig einen Schritt zurückweichen, da fliegt Marble mir schon um den Hals.

 

„Noah! Ihr seid da!“ Sie umarmt mich fest und der Duft von Haarspray und Theaterschminke steigt mir in die Nase. Normalerweise würde mich diese Geruchskombi eher dazu veranlassen, das Weite zu suchen, aber an Marble riecht es wie Glück. Deshalb erwidere ich ihre Umarmung, bis ich über ihre Schulter Kristinas Blick fange. Sie runzelt die Stirn.

 

„Lässt du uns rein?“, frage ich.

 

„Klar.“ Marble löst sich von mir, macht eine einladende Geste und gewährt uns den Vortritt in den Theaterbackstage.

 

„Marble, darf ich dir Kristina vorstellen? Kristina, das ist Marble, meine Zwillingsschwester.“

 

Marbles Augen leuchten heller als die Neonröhren hier im Gang, als sie einen Schritt auf Kristina zumacht und sie ebenfalls umarmt. „Es ist so schön, dich kennenzulernen!“

 

„Es freut mich auch“, sagt Kristina, sieht mich dabei allerdings derart irritiert an, dass mir Zweifel kommen, ob das hier so eine gute Idee war. Ich versuche mich an einem entschuldigenden Lächeln, bin mir aber nicht sicher, ob es mir gelingt.

 

„Kommt, ich stell euch den anderen vor.“

 

Mit einem Gesicht als würde das Theater ihr gehören, schreitet Marble den Gang entlang, grüßt im Vorbeigehen Leute, die uns entgegenkommen und bleibt schließlich vor einer geöffneten Tür stehen. Der Duft nach Schminke und Haarspray verstärkt sich, wir sind an der Maske angekommen.

Marble winkt uns hinein und zeigt in den nächsten Minuten auf Schauspieler und Visagistinnen. Für jeden von ihnen hat sie liebevolle Worte übrig, die von allen ebenso liebevoll beantwortet werden.

 

Marbles Freude ist ansteckend, kann mich aber nicht davon ablenken, dass Kristinas Haltung immer angespannter und ihr Lächeln gezwungen wirkt. Wenn ich noch irgendetwas retten will, dann muss ich jetzt etwas tun.

 

„Marble, du musst bestimmt noch arbeiten. Wir suchen uns schon unsere Plätze, okay?“

 

„Klar, bis später.“

 

Kristina dreht sich noch vor mir um und verlässt beinahe fluchtartig die Garderobe. Ich haste ihr hinterher.

„Kristina, bitte warte.“

 

Sie bleibt am Ende des Gangs stehen, lehnt die Stirn an die kahle Wand und atmet gepresst aus. Ich würde gern meine Hand nach ihr ausstrecken, halte mich aber zurück. Stattdessen lehne ich mich mit gebührendem Abstand neben sie an die Wand.

 

„Fuck, ich hab’s voll verkackt, oder?“

 

„Als du gesagt hast, wir gehen ins Theater, habe ich zumindest etwas anderes erwartet.“

Ihr sarkastischer Tonfall lässt mich vor Erleichterung ein Stück an der Wand entlangsinken. Wenn sie sarkastisch ist, kann sie nicht so wütend sein. Oder? Ist es am Ende nur ein Schutzmechanismus? Mit zusammengekniffenen Lippen sehe ich zu ihr rüber. Langsam hebt sie den Kopf und sieht mich an. Ihre Lider zittern, die Mundwinkel zeigen nach unten. Unwillkürlich mache ich einen Schritt auf sie zu, falls sie gleich zusammenbrechen sollte.

 

„Du hast nie gesagt, dass du eine Zwillingsschwester hast.“ Sie flüstert, doch ihre Worte dröhnen in mir wie ein Echo in einer riesigen Höhle.

 

„Ich weiß“, sage ich und die Scham drückt mir schwerer auf die Schultern als Poom vor ein paar Wochen bei der Massage. Wie sehr habe ich es in den letzten Jahren gehasst, dass Marble von meiner Familie verheimlicht wurde. Ich bin kein Stück besser als sie, sonst hätte ich Kristina oder Andy und den anderen längst von ihr erzählt.

 

Plötzlich lacht Kristina auf.

 

„Was ist los?“

 

„Ich war kurz davor, dich zu fragen, seit wann du eine Zwillingsschwester hast.“ Sie schüttelt den Kopf.

 

Meine Brust ist noch zu eng, ein gequältes stummes Lachen ist alles, was ich zustande bringe. Die Frage klingt verrückt, aber andererseits ist sie gar nicht so weit hergeholt. Für die Welt da draußen existiert Marble Hammond nicht.

 

„Marble ist drei Minuten älter als ich“, sage ich. Als ob das irgendetwas erklären würde.

 

Kristina kaut auf ihrer Unterlippe, schiebt sie vor und zurück und sieht mich fest an. „Schämst du dich für sie?“

 

Hitze schießt mir ins Gesicht und mein Puls schnellt in die Höhe. „Was? Nein!“

 

Wie kann sie so etwas denken?

 

Die Antwort gebe ich mir gleich selbst. Ich habe Kristina keinen Anlass gegeben, auf eine andere Idee zu kommen. Wir haben nur ein einziges Mal über meine Familie gesprochen. Da habe ich ihr erzählt, wie sehr mich mein Vater nervt. Ich hätte ihr erzählen sollen, dass ich mehr als eine Schwester habe, und wie sehr ich Marble liebe.

 

„Ich … ich habe nie gelernt, über sie zu sprechen“, murmle ich. Noch während ich es ausspreche, kommt es mir lächerlich vor, und in Kristinas verständnislosem Blick sehe ich mein Gefühl bestätigt.

 

„Hm.“ Kristina schiebt ihre Fußspitze auf dem Boden vor und zurück, wickelt sich eine Haarsträhne um den Finger und schaut den Gang entlang zur Tür.

 

Mein Mund wird trocken. Überlegt sie, zu gehen und mich hier stehenzulassen? Verdient hätte ich es vermutlich. Aber verdammt, ich will sie nicht schon wieder verlieren. Ich will einmal etwas richtig machen. Ich will meine Angst runterschlucken, aber meine Zunge bleibt am Gaumen kleben.

 

„Es tut mir leid“, krächze ich. „Darf ich versuchen, es dir zu erklären?“

 

Kristina senkt den Kopf, schaut auf ihre Füße, die Haarsträhne noch immer zwischen den Fingern drehend. Ich wage nicht zu atmen, bis sie endlich aufsieht und nickt.

 

Ich sehe mich um. Hier im Gang läuft ständig jemand vorbei. Zwar hat sich bislang niemand für Kristina und mich interessiert, jeder scheint etwas zu tun zu haben. Trotzdem will ich für dieses Gespräch ein bisschen mehr Privatsphäre haben. Einige Meter von uns Entfernt heben sich mehrere graue Türen von der Wand ab. Ich gehe darauf zu, drücke die Klinke der ersten Tür und werde beinahe von einem Besen getroffen, der mir entgegenfällt. Kristina hebt skeptisch eine Augenbraue. Hastig schließe ich die Tür wieder. Beim nächsten Versuch einige Meter weiter habe ich mehr Glück. Das Licht, das vom Flur in den Raum fällt, enthüllt reihenweise gestapelte Stühle. Nicht unbedingt gemütlich, aber besser als nichts.

 

„Back to the roots?“

 

Ich kann mir ein Grinsen über Kristinas Anspielung nicht verkneifen und schließe rasch die Tür hinter uns. Viel Platz bleibt uns nicht und die Luft ist staubig und abgestanden. Okay, vielleicht hilft mir das, nicht lange um den heißen Brei herumzureden.

 

„Meine Eltern haben während der Schwangerschaft von Marbles Trisomie 21 erfahren. Die Öffentlichkeit wusste, dass Mum schwanger ist, aber meine Eltern haben nie etwas von Zwillingen verraten. Nach unserer Geburt wurde nur ich in der offiziellen Pressemitteilung erwähnt, und dass Mum sich wegen schwerer Komplikationen erst einmal zurückziehen würde.“

 

„Gab es die Komplikationen wirklich?“ Kristina klingt betroffen, eine Sorgenfalte teilt ihre Stirn.

 

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab Mum nie gefragt.“ Wieso eigentlich nicht? Andererseits, warum auch? Was hätte es geändert? „Dad hat vorher schon sehr darauf geachtet, mit welchen Medienleuten er zusammenarbeitet. Nach Marbles und meiner Geburt bekamen nur noch wenige ausgewählte Journalisten Zutritt zu unserer Villa, Überraschungsbesuche gab es nicht und unsere Shows und Pressefotos waren perfekt inszeniert.“

 

Tatsächlich würde es mich nicht überraschen, wenn verschiedene Leute auch ein beachtliches Schweigegeld erhalten haben. Aber das behalte ich für mich.

 

Kristina schüttelt den Kopf. „Aber wieso?“

 

„Ich weiß es nicht. Dad sagte immer wieder, er wolle Marble vor Paparazzi und abwertenden Kommentaren schützen.“ Unwillkürlich sticht es in meiner Brust und ich zucke zusammen. Wenn das wirklich Dads Absicht war, wieso wollte er dann nur Marble schützen? Wieso hat er mich dem ganzen Wahnsinn ausgesetzt, ohne mich jemals zu fragen, ob ich das will?

 

„Vielleicht war das gar nicht so verkehrt“, sagt Kristina leise und fährt mit dem Zeigefinger an einer der Stuhllehnen entlang.

 

„Wie meinst du das?“

 

„Na ja, nach dem, was Johnny mitgemacht hat …“

 

Verdammt, ja. Kristina hat mir nur in groben Zügen erzählt, was über ihn in den Kommentaren geschrieben wurde, aber es reichte mir schon. „Das Ding ist nur, dass Marble sich nichts sehnlicher wünscht, als auf der Bühne zu stehen.“

 

Ein Lächeln huscht über Kristinas Gesicht. „Sie hat auf jeden Fall eine tolle Ausstrahlung. Und jetzt wird ihr Traum wahr.“

 

Ich balle die Faust um eines der Stuhlbeine.

 

Dads harte Miene von unserer Diskussion im Mai steht mir noch deutlich vor Augen. Einerseits bin ich froh, dass er übers Wochenende zu irgendeinem Termin in L.A. ist, und ich ihn nicht sehen muss. Aber wenn es ihm wichtig wäre, diesen großen Tag mit Marble zu feiern, hätte er das Meeting auch verschieben können. Vielleicht sind wir ihm beide egal. Er will nicht, dass wir glücklich sind. Es geht nur um sein Image.

 

„Fuck!“ Ich schlage mit der flachen Hand auf die Sitzfläche eines Stuhls. Es brennt wie tausend Ameisenbisse.

 

Kristina weicht erschrocken zurück, macht aber gleich darauf wieder einen Schritt auf mich zu. „Noah?“

 

„Marble tritt nicht auf, heute Abend. Sie macht ein Praktikum in der Maske“, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen. „Und auch das hat Dad nur erlaubt, weil ich Fiona geküsst und Like a Mirror geschrieben habe.“

 

Kristinas Hand, die eben noch warm auf meiner Schulter lag, rutscht herunter. Mit offenem Mund starrt Kristina mich an und vor mir öffnet sich ein schwarzes Loch, das mich jeden Moment verschlucken wird. Vielleicht ist es besser so. Ich habe es nicht besser verdient. Aber Karma oder was auch immer meint es nicht gut mit mir. Es lässt mich am Rand der Klippe hängen und lacht mir hämisch ins Gesicht. Sag’s ihr. Sag ihr die Wahrheit.

 

„Dad … ich … Er wollte Marble zu einem Caterer schicken, aber das konnte ich nicht zulassen. Ich musste ihm versprechen, mehr zu liefern, besser zu sein als Liam. Die Kussszene mit Fiona musste deshalb in der Show zu sehen sein.“

 

„Verstehe“, murmelt Kristina tonlos.

 

Als sie mich ansieht, glänzen ihre Augen feucht. „War Like a Mirror auch nur Teil dieses Deals zwischen deinem Vater und dir?“

 

Ich schließe die Augen und beiße mir so fest auf die Unterlippe, dass ich Blut schmecke. „Nein … ja. Ich musste einen Song mit Hitpotential schreiben. Aber als ich Like a Mirror geschrieben habe, ging es nur um dich.“

 

„Hm.“ Kristina lacht freudlos auf und zieht die Hände in ihre Pulloverärmel.

 

Sie glaubt mir nicht. Natürlich nicht, wieso sollte sie auch? Nach allem, was ich ihr in den letzten Minuten offenbart habe. Ich komme mir selbst unglaubwürdig vor. Dabei habe ich jetzt zum ersten Mal die Wahrheit über mich gesagt. Hundert Prozent Noah. Und was kommt dabei heraus? Kristina steht mit hängendem Kopf vor mir und sieht mich nicht an. Sie ist enttäuscht. Von mir. Ich bin eine Enttäuschung. Für Dad sowieso. Aber für Kristina wäre ich gern etwas anderes.

 

„Es tut mir leid.“

 

Nichts. Nur ihr leiser Atem in der Stille. Ihre starre Miene wie eine Maske. Ich wage nicht einmal Luft zu holen. Wieso sagt sie nichts? Und wenn sie mich anschreit oder sagt, dass sie mich nie wiedersehen will. Es wäre immer noch besser als dieses Schweigen.

 

„Kristina?

 

„Noch 10 Minuten, alle auf Position“, schallt eine Lautsprecherstimme von draußen.

 

Der schwere Geschmack nach Eisen rinnt meine Kehle hinab und drückt mir auf den Magen. Die Kraft in meinen Beinen lässt nach. Ich halte mich an einem der Stühle fest, betrachte die feinen rosa Linien auf meinen unteren Fingergliedern. Oberflächlich verheilt. Aber in mir wütet der Schmerz wie nie zuvor.

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