Kapitel 55 - Schweigen ist Gold?

Kristina

C-Dur, a-Moll, D-Dur, h-Moll. Ich spreize meine Finger auf unsichtbaren Tasten. Wenn sie doch nur wirklich meine Haut kühlen würden, die lodernden Flammen in mir ein wenig in Zaum halten. Seltsamerweise ist es kein wütendes Feuer, das wild um sich greift, vielleicht würde mir das Genugtuung verschaffen oder Kraft geben, Noah anzubrüllen. Stattdessen züngelt es klein, aber heiß und ausdauernd und nimmt mir mal wieder die Luft zum Atmen.

Er hat dich benutzt, flüstert das Feuer.

Unwillkürlich schüttle ich den Kopf.

 

Nein. Die Nachrichten, die Küsse, die Berührungen, wie er mich vor ein paar Wochen gehalten hat, als ich ihm von Mama erzählt habe. Das kann nicht alles Fake gewesen sein.

Warum hat er dir dann nicht längst alles erzählt?

 

„Noch fünf Minuten.“ Der Lautsprecher muss draußen direkt über der Tür hängen, so nah klingt die leicht scheppernde Stimme. Was mache ich hier? Ich kann nicht ewig hier mit Noah in diesem Stuhllager rumstehen, zumal ich wenig Hoffnung habe, dass ich innerhalb der nächsten Minuten eine Eingebung haben werde, was ich sagen soll.

 

Langsam sehe ich auf, schaue in Noahs müdes Gesicht.

„Wir sollten vielleicht zu unseren Plätzen gehen, oder?“

 

Noah klappt der Mund auf, die Hand, die bis eben noch auf einer der Stuhllehnen ruhte, fällt kraftlos herunter.

„Wie … was … Du bist nicht …?“

 

Ich hebe abwehrend die Hand. „Bitte, Noah, nicht jetzt. Ich brauche ein bisschen, um das zu verarbeiten.“

 

Er lässt die Schultern sinken, nickt kurz. „Klar.“

 

Genau in dem Moment, in dem das Licht im Saal ausgeht, erreichen wir unsere Plätze.

 

Danke, dass du noch da bist.

 

Die erste Nachricht nach dem Aufwachen. Aber sie löst nicht wie sonst immer ein wohliges Gefühl in mir aus. Es ist da, mischt sich allerdings mit Trauer und Unsicherheit. Es ist längst nicht alles geklärt zwischen Noah und mir. Vielleicht ist es Marble zu verdanken, dass wir noch miteinander reden, auch wenn es schwierig ist. Marble hat uns nach der Vorstellung zur After-Show-Party eingeladen und in der fröhlichen Runde, in der Noah und ich nur zwei von vielen waren, konnte ich eine Seite von ihm sehen, die ich bislang nicht kannte.

 

Er lachte, nicht so wie in den vielen Interviews, sondern freier, ehrlicher. Er nahm Marble in den Arm, ließ sich von ihr das Haar verwuscheln, und wurde nicht müde, zu betonen, wie stolz er auf sie sei. Noah und Marble nebeneinander, so sieht wahre Geschwisterliebe wohl aus. Die Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Man müsste sich Augen und Ohren zuhalten, um nicht mitzubekommen, wie sehr die beiden sich lieben. So sehr, dass Noah unsere Beziehung dafür ausnutzen würde, um Marble ihre Träume zu erfüllen? Auch jetzt legt sich Eifersucht wieder bitter auf meine Zunge.

 

Ja, ich bin noch da. Aber bin ich wirklich von dem überzeugt, was Marble mir während der Party gesagt hat? Dass ich Noah guttue? Und was ist mit mir? Tut Noah mir noch gut? Oder ist das nur irgendeine naive Hoffnung, die will, dass Noah und ich zusammengehören, und die nicht mehr Bestand hat als eine alberne Teenie-Schwärmerei?

 

Ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll, und schließe unseren Chat. Stattdessen öffne ich unseren Bandchat. Mein Atem geht angesichts zwölf neuer Nachrichten schneller. Doch natürlich stammt keine davon von Johnny. Ich sollte aufhören, noch darauf zu hoffen. Stattdessen hat Ben Links zu ein paar Presseartikeln geschickt, die sich mit Johnnys Verschwinden beschäftigen.

 

Was meint ihr: Kommentieren oder ignorieren?

 

Ich klicke auf den ersten Link.

 

Escape – Darum ist Johnny ausgestiegen

Der Gig beim Inselpark-Festival in Regensburg war das letzte Konzert, bei dem Johnny als Bassist von Escape mit der Band on Stage war. Seitdem ist von dem 22-Jährigen nichts mehr zu sehen oder zu hören. Von Seiten der Band hieß es in einer kurzen Mitteilung, Johnny nehme sich aus privaten Gründen eine Auszeit.

Aus dem Umkreis von Escape drangen nun aber mehr Details in die Öffentlichkeit.

„Johnny war schon lang nicht mehr glücklich. Er hat ziemlich viel Gegenwind bekommen. Jetzt war das Fass wohl voll“, sagt eine Bekannte der Band gegenüber Stars-Online.

 

Ich schließe den Artikel, ohne ihn bis zum Ende zu lesen. Mehr als Spekulation und Nicht-Info steckt nicht dahinter. Woher auch immer das Zitat dieser vermeintlichen Bekannten stammt, es schlägt große Wellen in den Medien, denn auch die anderen Artikel, die Ben geschickt hat, machen aus diesen drei Sätzen mehr oder weniger absurde Berichte mit reißerischen Headlines.

 

Er war unglücklich! – War Johnny das schwarze Schaf von Escape?

 

Unbeliebt und ersetzt – Deshalb musste Johnny gehen

 

Natürlich bleiben auch unter diesen Artikeln die Kommentare nicht aus.

 

Ein paar widmen sich empört der irreführenden Berichterstattung, was ich grundsätzlich unterschreiben würde. Allerdings dürfte jeder, der auch nur drei Sekunden über die Überschriften nachdenkt, checken, dass nicht ernsthaft gehaltvoller Content zu erwarten ist. Andere Kommentare äußern sich in dramatischem Ton zu Johnny.

 

Tut mir so leid, was er erfahren musste.

 

Ich hoffe, er findet seinen Frieden.

 

Johnny, wenn du das liest, bitte gib nicht auf. Wir lieben dich und freuen uns, wenn du wiederkommst.

 

Hastig wische ich die Kommentarspalte zur Seite, aber es ist zu spät. Die Tränen schießen mir in die Augen und verschleiern meinen Blick. Dieser letzte Kommentar sieht aus wie aus unserem Gruppenchat kopiert. Wir alle haben Johnny ähnlich lautende Nachrichten geschrieben. Dass er sie nach all den Wochen immer noch nicht beantwortet hat, tut unfassbar weh.

 

Ich lege das Smartphone zur Seite, putze mir die Nase und ziehe meine Laufklamotten an, obwohl es draußen in Strömen gießt. Halb blind laufe ich meine übliche Strecke, Wind zerrt an meinem Haar und Kälte kriecht durch die Fasern auf meine Haut. Ich ziehe das Tempo an, auch wenn das auf dem nassen Asphalt riskant ist. Das Wetter zwingt mich, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Einatmen, verteilt auf vier Schritte, ausatmen auf vier Schritten. Fuß aufsetzen, abrollen, wieder anheben. Nur mein Körper und ich.

 

 

Meine Haarspitzen sind noch nass, als Joshie eine Dreiviertelstunde später klingelt, um mich zur Probe abzuholen.

 

Sie schüttelt den Kopf, als ich ihr mit Handtuch in den Händen die Tür öffne.

„Sag bloß, du warst bei diesem Mistwetter laufen.“

 

„Klar.“

 

„Du hast echt nen Knall“, sagt sie und betritt den Flur, während ich mich schon wieder auf den Weg ins Bad mache, um das Handtuch loszuwerden.

 

„Magst du noch einen Tee?“, rufe ich.

 

„Danke.“ Joshie lächelt mir von der Badezimmertür aus zu und ich hänge das Handtuch über die Heizung, wo auch schon meine Laufklamotten hängen. Joshie verdreht die Augen und nickt Richtung Heizung. „Ehrlich mal, Kris, wieso tust du dir das an?“

 

Ich greife nach der Bürste und ziehe sie vom Scheitel bis zu den Spitzen. „Manche Sachen werde ich halt auch mit Musik nicht los.“

 

„Klingt nicht so, als hättest du ein entspanntes Wochenende mit Noah gehabt.“ Sie lehnt lässig am Türrahmen, aber ich weiß, dass sie jede meiner Regungen genau beobachtet.

 

„Spannend trifft es wohl eher“, sage ich und fasse zusammen, was in London passiert ist. Als ich von Marble erzähle, werden Joshies Augen groß.

 

Mit offenem Mund starrt sie mich an.

 

„Krass!“, sagt sie, sobald ich meinen Bericht beendet habe. „Unfassbar, dass man einen Menschen so verstecken kann, wenn sonst die komplette Familie im Rampenlicht steht.“

 

„Ja, schon. Aber dass Noah nicht mal privat über sie gesprochen hat. Sie ist seine Zwillingsschwester, verdammt. Wie kann er so etwas für sich behalten?“ Heftiger als beabsichtigt werfe ich die Bürste zurück ins Regal, wo sie gegen meine Zahnbürste stößt, die zwar ins Wanken gerät, aber netterweise stehen bleibt.

 

Joshie hebt die Schultern. „Na ja, wenn er sie immer verheimlichen musste … Vermutlich wird’s irgendwann zur Gewohnheit. Du hast ihm auch erst vor Kurzem von Ieva erzählt.“

 

„Das ist doch etwas ganz anderes. Mama hat sich …“ Ich unterbreche mich selbst und wickle ein Haargummi um das Ende meines Zopfs. Noch nie habe ich es ausgesprochen. Ich werde es auch jetzt nicht tun. „Aber Marble lebt. Und sie ist wundervoll. Was würde ich dafür geben, eine Schwester wie sie zu haben.“

 

Joshie macht einen Schritt ins Badezimmer und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Hey, ich versteh voll, dass das heftig ist, aber wenn du fair bist, kannst du Noah nicht vorwerfen, dass er genauso geschwiegen hat wie du.“

 

Ich atme geräuschvoll aus. „Wieso musst du eigentlich immer recht haben?“

 

Joshie grinst und schlägt sich mit der flachen Hand auf die Brust. „Hey, wir sind sozusagen Schwestern, und Schwestern haben immer recht.“

 

Und sie wissen immer, wie sie einen zum Lachen bringen können. Ich umarme Joshie, bugsiere sie aus dem Bad und sammle meine Siebensachen zusammen.

 

Im Proberaum erhält unsere frisch aufgebaute gute Laune schlagartig einen Dämpfer.

 

Schon von der Tür hören wir Freddy und Ben aufgebracht miteinander diskutieren.

 

„ … einfach nur kompletter Mist. Was soll ein Kommentar denn bringen? Wir machen uns komplett zum Affen und Johnny bringt das auch nicht zurück.“

 

„Aber je länger wir schweigen, desto eher fühlen die Leute sich in diesen Gerüchten bestätigt.“

 

„Was willst du ihnen denn sagen?“, ruft Freddy. Seine Wangen glühen vor Erregung und die Locken, die ihm in die Stirn fallen und bei seinen Bewegungen auf und ab tanzen, verleihen ihm ein wildes Aussehen. „Was für einen privaten Grund willst du erfinden, den sie uns abkaufen?“

 

„Zumal die Frage ist, ob sie dann Ruhe geben oder ob nicht immer weitere Nachfragen kommen“, mischt Svante sich ein.

 

„Eben. Bitte Ben, lass es sein. Es ist so schon schwer genug. Jetzt auch noch irgendeine Lüge zu erfinden und glaubwürdig zu präsentieren, packe ich einfach nicht.“

 

Ben seufzt, hebt abwehrend die Hände und wendet sich um. Erst jetzt scheint er Joshie und mich zu bemerken. „Seht ihr das genauso?“

 

Ich wechsle einen kurzen Blick mit Joshie. Wir haben auf der Herfahrt nicht über die Artikel gesprochen, aber in der Art und Weise, wie Joshie Freddy besorgt ansieht, erkenne ich, dass sie auf seiner Seite ist. Mir geht es ähnlich. Erst Johnnys Verschwinden, dann Marbles plötzliches Auftauchen, für den Moment reicht es an Geheimnissen.

 

„Ich glaube, Freddy hat recht. Wir tun niemandem einen Gefallen, wenn wir zu jedem dämlichen Artikel eine Stellungnahme abgeben. Die Medien machen daraus sowieso, was sie wollen.“

 

Den Mund zu einem schmalen Strich gezogen zuckt Ben mit den Schultern und hängt sich seine Gitarre um. Joshie und ich nehmen unsere Plätze ein und ohne große Worte beginnen wir mit der Probe.

 

Inzwischen sind wir Profis genug, sodass man uns die Diskussion von eben nicht anhört.

 

Ben spielt als wäre nichts gewesen und Freddy singt die Lyrics von Girl in the Crowd so gefühlvoll, als wäre er hier mit Judith allein.

 

Allein Svante tut sich noch etwas schwer, seine Einsätze sind holprig, manchmal lässt er Töne weg. Um ihm Orientierungshilfe zu geben, spiele ich kurzentschlossen die Bassstimme mit der linken Hand mit. Ben wirft mir einen irritierten Blick zu, Svante hingegen scheint es nicht zu bemerken und stolpert weiter durch den Song.

 

Schließlich kann auch Freddy es nicht mehr ignorieren und hört mitten im Gitarrensolo auf zu spielen.

 

„Sorry, Svante, aber das ist Murks, was du da spielst.“

 

„Ich weiß, tut mir leid. Ich hab das noch nicht so im Ohr.“

 

„Dann hör doch auf Kris. Sie hat dir die Baseline gerade vorgespielt“, sagt Ben deutlich genervt.

 

Svante sieht mich erstaunt an. „Echt? Hab ich nicht bemerkt. Sorry.“

 

Ich kneife die Lippen zusammen, Ben ist allerdings nicht so diplomatisch. „Dein Scheißernst, Mann? Das war doch nicht zu überhören.“

 

„Hey, ich hab mir in drei Wochen versucht draufzuschaffen, was ihr seit zwei Jahren spielt“, erwidert Svante nicht weniger genervt.

 

„Dann gib dir halt mehr Mühe. Wir machen hier keinen Punkrock.“

 

Ich schnappe nach Luft. Dieser Kommentar von Ben hätte nun wirklich nicht sein müssen. Freddy dreht sich mit flehender Miene um.

 

„Ben, es reicht. Dafür ist die Probe doch da, dass Svante reinkommt.“

 

So weit, wie Ben die Augen gen Decke verdreht, ist klar, was er davon hält, aber er sagt nichts mehr. Svante hält den Hals seines Basses umklammert und weicht Bens Blick aus, aber unter seinen halbgeschlossenen Lidern zuckt es.

 

„Noch mal von vorn?“, fragt Freddy.

 

Wir nicken.

 

„Soll ich die Bassfigur wieder mitspielen?“

 

Svante sieht auf und schenkt mir ein dünnes Lächeln. „Wäre super, danke.“

 

Am Ende der Probe habe ich gefühlt mehr Bass gespielt als Klavier.

 

Girl in the Crowd war nicht der einzige Song, bei dem Svante sich durchgewurschtelt hat. Ben ist so genervt, dass er direkt seine Sachen zusammenpackt und den Proberaum verlässt. Halbwegs sprachlos bleibe ich mit Freddy, Joshie und Svante zurück. Höflich geht anders, aber vielleicht ist es besser, wenn Ben seine schlechte Laune nicht weiter an uns auslässt.

 

„Sorry, Leute, irgendwie ist das doch ganz schön viel“, sagt Svante. „Ich üb mir schon die Finger wund, aber so gut wie Johnny bin ich halt nicht.“

 

Für einen Moment flackert Schmerz in Freddys Augen auf, in seinen Mundwinkeln zuckt es, aber er hat sich schnell wieder im Griff. „Schon okay, Mann. Du tust, was du kannst.“

 

„Du hast halt bislang einen ganz anderen Stil gespielt. Innerhalb von so kurzer Zeit umzuswitchen, ist nicht leicht“, sage ich in versöhnlichem Tonfall. „Ich glaube, es ist am besten, wenn du es dir nicht unnötig schwer machst.“  

 

Ich habe mir schon während der Probe ein paar Notizen gemacht, die ich den anderen jetzt vorstelle. Die Songsequenzen, in denen Johnny sein ganzes Können unter Beweis gestellt hat, werde ich umarrangieren, sodass Svante sich aufs Wesentliche konzentrieren kann. Wenn ich meine Stimme ändere und Freddy auch noch ein paar Basstöne mit einwirft, müsste es trotz allem einen guten Gesamtklang geben.

 

„Das würdet ihr machen?“ Svante sieht uns abwechselnd an.

 

„Hey, du bist jetzt Teil der Band. Entweder schaffen wir es zusammen oder gar nicht“, sagt Joshie.

 

„Und Ben?“

 

„Der weiß das auch. Der hat nur manchmal ne etwas längere Leitung in der Hinsicht“, versichere ich ihm. „Ich schreib das nachher noch um und schick dir die Pattern dann per Mail, okay? Dann hast du vor der nächsten Probe noch Zeit zum Üben.“

 

Svante schaut überrascht, vermutlich glaubt er nicht, dass ich innerhalb von zwei Tagen zwanzig Songs neu arrangieren kann. Es ist ambitioniert, das weiß ich, aber die Arbeit kommt mir ganz gelegen. Das müssen Svante und Freddy allerdings nicht wissen. Allein Joshie durchschaut mich mal wieder. Die Sticks an die Lippen gelegt sieht sie mich mit hochgezogener Augenbraue lange an.

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