Kapitel 56 - Eigentlich anders geplant

Noah

Hey …

Nein, das geht nicht. Ich tippe auf Backspace und lösche das Wort Stück für Stück, schreibe stattdessen Hi in das Nachrichtenfeld. Auch nicht besser. Wieder löschen.

Liebe Kristina.

Ja, schon eher, aber wohl eher passend für einen Brief als für eine Chat-Nachricht. Also wieder löschen. Anschließend starre ich auf das leere Feld und die angezeigte Tastatur, so lang, bis der Bildschirm dunkler wird. Dann tippe ich aufs Display und starre weiter.

„Ey, Noah, übst du dich in Smartphone-Hypnose?“

 

Andy klopft mir kräftig auf die Schulter und lacht. Suma und Liam stimmen ein.

 

„Lasst mich doch in Ruhe“, grummle ich, ärgere mich aber hauptsächlich über mich selbst. Wieso bin ich auch so bescheuert, Kristina vom Van aus schreiben zu wollen?

 

„Würden wir ja gern“, sagt Liam. „Aber wir sind da und du sitzt an der Tür.“

 

„Öffnen Sie die Tür oder wir garantieren für nichts“, ruft Suma mit verstellter Stimme und reckt dabei die Faust in die Höhe, genauso wie die Figur in dem Anime-Film, der er seine Stimme leiht. Das bringt mich immerhin auch kurz zum Lachen und ich beuge mich zum Türgriff vor, während ich mein Handy in die Hosentasche gleiten lasse.

 

Im Fernsehstudio werden wir direkt von Maske und Redaktionsteam in Beschlag genommen, sodass ich keine Gelegenheit mehr habe, nach passenden Worten für Kristina zu suchen, geschweige denn, eine kurze Nachricht zu schreiben. Immerhin müssen wir heute nicht singen, aber im Hintergrund des Einspielers läuft Like a Mirror.

 

Your eyes are like a mirror

It shows my heart

What my mind doesn’t get

 

Wenn ich Kristinas Augen nur sehen könnte. Aber seit dem Desaster im Theater hat sie nur einsilbige Nachrichten geschickt, kein Foto von sich wie früher schon mal. Ist eigentlich auch eine klare Message, oder? Vielleicht dreht sich der Text meines Songs gerade um. Meinem Hirn ist irgendwo klar, dass Kristina und ich zum Scheitern verurteilt sind, aber mein Herz weigert sich, das zu akzeptieren. Es darf nicht vorbei sein, es hat doch nicht einmal richtig angefangen, verdammt!

 

Ich muss noch einmal mit ihr sprechen. Lieber heute als morgen.

 

„Tatsächlich? Das klingt ja gerade so, als würdest du dich lieber auf die Schauspielerei verlegen.“ Ashley Johnson, Moderatorin des Mittagsmagazins, zwinkert mir über ihre Moderationskarten hinweg zu.

 

Fuck. Was habe ich gesagt? Was hat sie gefragt? Schnell schaue ich mich zu den anderen um, die sich keine große Mühe geben, ein Grinsen zu verkneifen. Aber wenn ich geglaubt habe, dass mir einer dieser Pappnasen zur Hilfe kommt, habe ich mich geschnitten. Sie lassen mich voll auflaufen.

 

„Oh je, das tut mir total leid, ich fürchte, ich war kurz abwesend“, sage ich und setze mein charmantestes Lächeln auf.

 

Ashley lacht. „Keine Sorge, ich nehme das nicht persönlich. Manchmal lassen sich Gedanken einfach nicht aufhalten, was?“ Wieder zwinkert sie, so als ob sie genau wüsste, wie es mir geht. Fehlt nur noch, dass sie mir …

 

Sie legt ihre Hand auf meine Schulter und sieht mich mitfühlend an.

 

Großartig. Das habe ich nun von meinem Charme. Mein Lächeln wird zu einer starren Maske, während ich ungeduldig darauf warte, dass Ashley ihre Hand zurückzieht. Was sie nicht tut. Hallo? Was wird das hier? Müsste nicht mal jemand aus der Regie irgendetwas sagen? Das ist hier schließlich eine Live-Sendung.

 

„Wir haben eben noch im Auto ein paar Dialoge geübt. Noah macht das richtig gut, er ist voll in seiner Rolle drin“, behauptet Suma, ohne rot zu werden.

 

Ashley zieht endlich ihre Hand zurück und blinzelt, als ob sie aus einem Traum erwachen würde und sich erst einmal orientieren müsste. Sie schiebt ihre Moderationskarten übereinander, räuspert sich und stellt Liam eine Frage, die völlig aus dem Kontext gerissen ist. Ich atme erleichtert auf. Wenigstens habe ich diese Sendung nicht allein verbockt.

 

Kurz vor halb elf falle ich auf mein Bett.

 

So früh wie schon seit langem nicht mehr, aber doch spät genug für das, was ich heute noch vor mir habe. Mein Magen knurrt, mein Nacken schmerzt mal wieder, aber weder um das eine noch um das andere will ich mich jetzt kümmern. Ich muss mit Kristina reden. Wenn ich es heute nicht mache, wird das nichts mehr. Meine Augenlider sind schwer wie bleib, ich zwinge mich, sie offenzuhalten, obwohl die Versuchung groß ist, sie nur für einen Augenblick zu schließen.

 

„Heute“, ermahne ich mich selbst. Dabei ist bei Kristina fast schon morgen.

Ich wische über das Display, öffne unseren Chat, der heute leer geblieben ist. Diesmal spare ich mir eine Begrüßungsformel.

 

Ich weiß, es ist schon spät. Können wir trotzdem kurz reden?

 

Bevor ich es mir anders überlegen kann, schicke ich die Nachricht ab.

Ein Foto von Noten auf einem Bildschirm taucht nur wenige Augenblicke später in unserem Chat auf.

 

Gerne. Ablenkung tut vielleicht ganz gut.

 

Keine Ahnung, was die Noten mir sagen sollen, aber Kristinas Antwort jagt mir einen wohligen Schauer über die Haut. Besonders dieses erste Wort. Ich bewege meinen Daumen zu dem Kamera-Symbol am oberen Bildschirmrand. Warte.

 

War es keine gute Idee mit dem Videoanruf? Vielleicht hätte ich Kristina vorher fragen sollen.

 

„Hey, sorry, ich habe mir noch einen Tee gemacht.“ Um Kristina herum ist es dunkel, und wenn ich nicht ihre Stimme hören würde, könnte ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, dass sie es ist, die nun doch endlich das Gespräch entgegennimmt.

 

„Hallo Höhlentroll“, sage ich liebevoll.

 

Kristina lacht auf und im nächsten Augenblick wird es so hell um sie herum, dass ich die Augen zusammenkneife.

 

„Wieso bist du noch wach mitten in der Nacht?“

 

Sie runzelt die Stirn und ich merke zu spät, dass meine Frage wie ein Vorwurf klingt, dabei meinte ich genau das Gegenteil. Ich mache mir Sorgen. Kristina sieht unfassbar müde aus.

 

„Ich arrangiere unsere Songs neu, damit nicht auffällt, dass Svante nicht so gut Bass spielt wie Johnny.“ Sie unterdrückt ein Gähnen, aber an ihren gespannten Kiefer bemerke ich es trotzdem.

 

„Klingt nicht so, als hättet ihr einen guten Ersatz gefunden.“

 

Kristina seufzt, trinkt einen Schluck Tee. „Svante hat bislang halt einen anderen Stil gespielt. Wenn er mehr Zeit hätte zu üben, könnte er das auch schaffen. Aber unsere Tour startet nächste Woche.“

 

Jetzt bin ich es, dem ein Seufzer entfährt. Zwischen meinen Terminen und dem Tourplan von Escape einen freien Slot zu finden, an dem wir uns treffen könnten, ist nahezu unmöglich. Vielleicht sollte ich …

 

„Worüber wolltest du eigentlich mitten in der Nacht reden?“

 

Wenn ich nicht schon im Bett läge, würde ich jetzt in mich zusammensinken. Meine Hand schließt sich unwillkürlich fester um das Smartphone. Bilde ich es mir ein, oder klingt Kristina wirklich so, als hätte sie keine große Lust mit mir zu reden? Wieso hat sie dann zugestimmt, als ich eben gefragt habe?

 

Ärger steigt in mir auf, aber ich muss es ihr jetzt sagen. Es wird nicht besser, wenn ich warte.

 

„Ich wollte mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich dich so unvorbereitet mit Marble konfrontiert habe.“

 

Kristina sieht zur Seite, als ob neben ihr etwas wäre, das interessanter wäre als ich. „Ach so. Schon okay.“

 

„Was? Einfach so?“

 

„Ich schätze, wir sind quitt, was das angeht“, sagt sie leise. „Du hast mir nichts von deiner Schwester erzählt, und ich nicht von meiner Mutter.“ Wieder dieses kurze, freudlose Lachen. Was ist nur los mit ihr? Sie wirkt irgendwie ferngesteuert.

 

So wie du, spottet eine mir allzu vertraute Stimme in meinem Hinterkopf. Verdammte Scheiße, ja. Und genau aus diesem Grund habe ich Like a Mirror geschrieben. Ich sehe in jeder ihrer Regungen das, was ich vor mir gern verheimlichen würde, und ich könnte kotzen deswegen. Irgendwann muss damit doch mal Schluss sein. Ist es nicht möglich, Verpflichtungen zu haben, ohne komplett fremdbestimmt zu sein? Warum haben wir nicht das Recht, das zu tun, was uns erfüllt, wonach wir uns sehnen? Ich will das alles nicht mehr.

 

„Was meinst du?“

 

Oh Gott, habe ich schon wieder laut gedacht, ohne es zu merken? Offenbar. Am liebsten würde ich abwinken, aber bevor Kristina noch denkt, dass sich das auf sie bezieht, sollte ich mich besser erklären.

 

„Mir geht das alles auf den Keks. Das ständige Touren, der Stress mit meinem Vater, dass ich keinen Schritt machen kann, der nicht schon vorbestimmt ist …“ Und all der andere Mist, der damit dranhängt.

 

Kristina lächelt. „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.“

 

„Wie meinst du das?“

 

„Wenn dich das alles so nervt, ändere doch etwas daran.“

 

„Was denn?“, frage ich genervt, weil ihre Antwort so klingt, als wäre alles super easy und ich nur zu dämlich, das Offensichtliche zu tun.

 

„Du hast doch bei der Premierenfeier Fotos von Marble und dir gemacht. Teil doch eins davon in deiner Story.“

 

Es knackt und ein scharfer Schmerz schießt mir durch den Nacken, als ich mich ruckartig aufsetze. „Hast du einen Knall? Ich kann sie nicht einfach in die Öffentlichkeit ziehen. Die würden sich auf sie stürzen und ihr keine Ruhe mehr lassen und sie …“

 

„Ist das nicht genau die Argumentation, mit der dein Vater Marble verheimlicht hat, und die dir so gegen den Strich geht?“ Kristinas Augenbrauen wandern aufeinander zu.

 

„Ja schon, aber wenn ich über Dad und meinen Manager hinweg entscheide, gibt das einen Riesenskandal.“ Allein bei der Vorstellung von Paparazzi, die unsere Villa belagern, Headlines in sämtlichen Magazinen und Fernsehshows wird mir ganz anders.

 

Kristina hebt abwehrend die Hände, auch wenn ihr Augenrollen mich eher vermuten lässt, dass sie nicht völlig überzeugt ist. „Okay, vielleicht ist es etwas krass, Marble direkt der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Aber nimm sie doch zum nächsten Konzert mit. Sie hat mir erzählt, wie sehr sie sich wünscht, Backstage bei dir mit dabei zu sein.“

 

Ich schlucke, drücke meine freie Faust tief in die Matratze. Wie lang liegt Marble mir damit schon in den Ohren? Immer habe ich sie abgewimmelt, Ausreden gefunden. Sie kommen mir auch jetzt ganz automatisch über die Lippen.

 

„Wie soll das gehen? Ich kann nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen. Und was sollen die anderen sagen?“

 

Ein tiefes Grollen dringt aus Kristinas Kehle durch den Lautsprecher in mein Hotelzimmer. „Noah, deine Schwester ist so alt wie du, und auf mich machte sie den Eindruck, als sei sie ziemlich selbständig. Also schieb nicht ihre Behinderung oder die Meinung der anderen vor, nur weil du zu feige bist, dich nicht mehr fremdbestimmen zu lassen.“

 

Ich starre sie an. Mein Magen verkrampft sich, als hätte Kristina mir ihre Faust in den Bauch gerammt und gleichzeitig die Luft aus meinen Lungen gepresst. Feige.

 

Ihr Urteil ist vernichtend.

 

Alles, was ich in den letzten Monaten auf mich genommen und erduldet habe, damit Marble nicht zu diesem verkackten Caterer muss. Dafür, dass Kristina mir jetzt Feigheit vorwirft?

 

„Das sagt die Richtige. Du tust doch auch alles dafür, dass niemand erfährt, wer deine Mutter ist.“

 

„Das ist etwas völlig anderes“, erwidert Kristina. Ihre Stimme ist plötzlich eiskalt.  

 

„Finde ich nicht. Du hast immerhin das gleiche Talent wie sie, du liebst die Musik, du brauchst dich nicht für sie zu schämen.“

 

„Tu ich auch nicht.“

 

„Aber du verleugnest sie trotzdem.“

 

Kristina hat den Blick abgewendet, sieht auf eine Stelle jenseits ihres Handydisplays. Im Bild erkenne ich nur noch ihr bläulich erleuchtetes Kinn und ihren Mund.

„Ich glaube nicht, dass ich mich vor dir rechtfertigen muss“, sagt der Mund. „Außerdem habe ich noch zu tun. Gute Nacht, Noah.“

 

Der Bildschirm wird schwarz, wird eins mit der Dunkelheit um mich herum. Alles um mich herum und in mir drin ist schwarz. Nichts. Ich schließe die Augen und warte, dass es mich verschlingt.  

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