Kapitel 5 - Vorfreude kommt vor dem Fall

Freddy

Sven tippt sich lässig mit zwei Fingern gegen die Stirn, als ich meine Gitarre schultere und den Laden durchquere.

„Viel Spaß bei der Probe, bis morgen.“

Ich verabschiede mich mit der gleichen Geste von meinem Ausbilder und Chef und laufe die paar Meter zur U-Bahn-Haltestelle. Während der Fahrt zum Jugendzentrum kann ich nicht aufhören zu grinsen. Ich habe so ein verdammtes Glück, in Svens Laden meine Ausbildung machen zu können. Er ist cool, weiß unheimlich viel, und, was das Beste ist: Die Donnerstage organisiert er mit mir so, dass nachmittags alles erledigt ist und ich rechtzeitig zur Bandprobe aufbrechen kann. Dafür bin ich freitags immer eher da. Das ist unser Deal, der bislang super klappt.

Im Proberaum sitzt Joshie bereits am Schlagzeug

 

und stellt die Höhen und Abstände der Becken und Toms ein. Johnny hockt auf einem Getränkekasten und zupft an den Saiten seines Basses, während Ben in ein Notizbuch auf seinen Knien kritzelt.

„Moin“, grüße ich, „Moin“, schallt es mir von den anderen entgegen.

Allein Ben lässt sich zu mehr Worten hinreißen. „Ah, perfekt. Fehlt ja nur noch Kris, dann können wir ja gleich loslegen.“

„Do not be hasty, Master Ben”, sagt Joshie in perfektem britischen Englisch.

„Hasty? Our friend is out there …“

„Jetzt geht das schon wieder los“, murmelt Johnny.

Ich sehe ihn an und rolle vielsagend mit den Augen. Wenn Ben und Joshie sich einmal in ihren englischen Dialogen verlieren, finden sie so schnell kein Ende. Dabei kann Ben es eigentlich nicht ausstehen, er lässt sich nur immer von Joshie provozieren, der das Ganze diebische Freude bereitet. Bevor die beiden allerdings lange Reden schwingen können, öffnet sich wieder die Tür und Kristina huscht herein.

„Sorry, Chorprobe hat länger gedauert“, sagt sie statt einer Begrüßung und lässt sich auf den Klavierhocker fallen.

„Schon gut, los geht’s.“ Joshie hebt ihre Sticks über den Toms und gibt einen Takt vor. Meistens beginnen wir unsere Probe mit einer fünfminütigen Jamsession. Doch diesmal steigt Ben nicht mit ein.

„Wartet mal einen Moment.“ Er zieht eine Postkarte aus seinem Gitarrenkoffer und hält ihn hoch. Die Schrift ist allerdings zu klein, als dass ich sie auf die Entfernung erkennen könnte. Ich kann nur das Bild einer Konzertbühne ausmachen und ein paar gelb-grüne Farbwirbel.

 

„Habt ihr Bock, auf einem Festival zu spielen?“

 

Wir sehen uns mit großen Augen an. Ist das sein Ernst? Seit wir als Band zusammenspielen, ist ein Gig auf einem Festival ein mehr oder weniger heimlicher Traum von uns.

„Ist das ne Scherzfrage? Klar, Mann“, sagt Johnny.

„Welches Festival?“, fragt Kris, teilt ihren langen Pferdeschwanz in drei Strähnen und beginnt diese miteinander zu verflechten.

Watt 'n' Rock an der Nordsee nächsten Sommer.“ Ben reicht die Postkarte herum und erzählt, dass junge Newcomer-Bands sich für einen Gig auf einer der Festivalbühnen bewerben können. Im Vorfeld gilt es, die Jury und Festivalleitung mit Musikaufnahmen und Live-Auftritten zu überzeugen.

„Wir müssten also bis dahin auch noch ein paar Songs einspielen, ein Video produzieren und Konzerte spielen, bei denen dann jemand aus der Jury unsere Performance bewertet“, zählt Joshie nach einem Blick auf die Postkarte auf.

Ben nickt und sieht uns etwas unsicher an. „Ist euch das zu stressig? Glaubt ihr, wir können das nicht packen?“

„Na ja. Kris und ich schreiben im Sommer Abi“, wendet Joshie ein, aber dann fliegt ein Grinsen über ihr Gesicht. „Aber das Festival ist ja danach. Von daher, count me in.“

 

Kurz denke ich an meine Prüfungen im nächsten Jahr.

 

Ein Spaziergang werden die sicher nicht. Aber die Aussicht auf einen Festivalauftritt versetzt mich schon jetzt in Aufregung. Wie geil wäre das bitte? Bei dem Blick auf das Foto der Bühne macht sich meine Fantasie selbständig und ich sehe mich schon neben den anderen vor zehntausend Festivalbesuchern rocken.

„Ich bin dabei“, sage ich und reiche Ben die Postkarte zurück. Wenn es wirklich klappt mit der Bewerbung, werde ich das mit den Prüfungen schon irgendwie schaffen.

Bens Vorschlag beflügelt uns regelrecht und wir proben so erfolgreich wie schon lang nicht mehr. Es ist fast so gut wie ein Konzert und ich habe heiße Ohren, als ich nach anderthalb Stunden mit den anderen den Proberaum verlasse.

„Trinkst du noch was mit uns?“, fragt Johnny und schultert seinen Bass.

Ich zögere. Normalerweise fahre ich nach der Probe direkt nach Hause. Aber in den nächsten fünf Wochen werde ich die anderen nicht sehen. Eine kleine Runde zum Abschied sollte drin sein. „Okay, ne halbe Stunde bleib ich noch.“

Johnny strahlt und klopft mir auf die Schulter. „Cool.“

Hinter Ben und Joshie gehe ich die Kellertreppe hoch und will den beiden schon zum Getränkeautomaten folgen, als jemand aus dem großen Saal kommt, aber abrupt stehenbleibt, als wir vorbeikommen.

„Oh, hi!“

 

Ich erkenne sie sofort wieder.

 

Es ist das Mädchen, das bei unserem Konzert ganz hinten stand. Für die ich gesungen habe. Sie sieht uns überrascht an und lächelt. Ha, ich hatte recht – sie hat dabei tatsächlich Grübchen! Ich kann mir kaum das Grinsen verkneifen, dabei kann ich mir selbst nicht erklären, warum mich diese Feststellung so freut.

„Hi, was machst du denn hier?“ Fuck, das war ja mal so gar kein geglückter Einstieg. Als ob ich darüber bestimmen könnte, wer ins Fleet21 kommen darf, und wer nicht.

„Sorry, ich meinte nur, ich hab dich vorher noch nie hier gesehen. Nur neulich zum Konzert.“

Sie lacht. „Das hast du dir gemerkt? Da waren doch zig Leute.“

Soll ich ihr sagen, dass ich sie als meinen Fixpunkt auserkoren hatte? Dann hält sie mich garantiert für einen Freak oder so. Deshalb zucke ich nur mit den Schultern, als ob das irgendetwas erklären würde.

„Freddy, was willst du?“, ruft Johnny mir vom Automaten aus zu. Keine Sekunde zu spät, um mir eine Schonfrist einzuräumen, um darüber nachzudenken, was ich zu ihr sagen könnte.

„Ein Mate“ rufe ich zurück. „Magst du auch was trinken?“, frage ich sie spontan.

Ihre Augen weiten sich, als ob sie nicht glauben könnte, dass ich sie das gefragt habe. Aber dann nickt sie. „Eine Apfelschorle.“

Ich leite ihre Bestellung an Johnny weiter und wende mich wieder ihr zu. „Wie heißt du eigentlich?“

„Judith.“

„Freddy.“

„Ich weiß“, erwidert sie lächelnd. „Euer Konzert war übrigens richtig cool.“

„Danke. Freut mich, dass es dir gefallen hat.“

 

Ich kann es mir gerade noch verkneifen, mir die Hand vors Gesicht zu schlagen.

 

Was rede ich denn heute für einen Mist? Kann ich sie nicht irgendetwas Sinnvolles fragen?

„Machst du auch Musik?“ Na bitte, geht doch.

„Nein, dazu bleibt neben Abi, Sport und Ehrenamt leider keine Zeit mehr.“ Judith sieht mich bedauernd an, dabei muss ihr das doch überhaupt nicht leidtun.

„Du machst Abi? Cool!“, beeile ich mich zu sagen. Mich hat mein Realschulabschluss schon genug gestresst. Wer Abi macht, hat meinen höchsten Respekt.

„Ja, du nicht?“

Ich schüttle den Kopf. „Nee, ich mach ne Ausbildung.“

Johnny kommt zu uns rüber und drückt mir meinen Mate und Judith eine Flasche Apfelschorle in die Hand. „Cheers.“

Wir gehen zu der Sitzecke am Rand des Saals, wo Joshie es sich gleich mit ihrer Cola im Sessel gemütlich macht. Kris setzt sich neben sie auf die Kante. Judith und ich folgen langsam.

„Wo machst du deine Ausbildung?“

„Bei ProTone, einem Musikfachhandel in der Innenstadt.“

„Bei dir dreht sich also alles um Musik?“ Judith lächelt wieder dieses Grübchenlächeln. Es ist kein Vorwurf in ihrer Stimme. Es klingt eher so, als ob es ihr gefallen würde, dass ich …

Mein Handy vibriert in der Hosentasche.

 

Mein Puls schießt in die Höhe, sobald ich Finns Namen auf dem Display lese.

 

„Freddy, du musst kommen“, ruft er. Seine Stimme überschlägt sich fast und ich höre die Panik, die in jeder Silbe mitschwingt. „Mama …“

Er braucht nichts weiter zu sagen, ich verstehe auch so.

„Ich bin in zehn Minuten da.“

Hastig stelle ich die Mate-Flasche, aus der ich gerade einmal einen Schluck getrunken habe, auf den Tisch, und werfe Judith und meinen Freunden einen bedauernden Blick zu.

„Sorry, muss weg.“

So schnell wie noch nie bin ich an der U-Bahn-Station, und zum Glück fährt gerade in diesem Moment meine Bahn ein. Acht Minuten später stürme ich die Treppen zu unserer Wohnung hoch. Mir fehlen die Nerven, um auf den Aufzug zu warten.

Mein Bruder empfängt mich völlig aufgelöst im Flur. Er krallt seine Hände in sein Haar und seine geröteten Augen verraten mir, dass er geweint hat. Ich ziehe ihn kurz an mich, spüre, wie sein Herz schnell in seiner Brust schlägt, dann folge ich ihm ins Wohnzimmer.

Mama liegt leise wimmernd auf dem Sofa, ihre Augen sind geschlossen, aber nicht friedlich, sondern schmerzhaft zusammengekniffen.

„Jetzt ist sie leise, gerade hat sie geschrien vor Schmerzen“, sagt Finn hinter mir, während ich mich neben dem Sofa auf den Boden knie und die Hand meiner Mutter nehme. Sie zuckt zusammen und stöhnt auf. Obwohl es in keinem Vergleich steht, durchfährt auch mich ein scharfer Stich. Mamas Schmerzen sind so groß, dass sie keine Berührung erträgt.

 

So schlimm war es schon lang nicht mehr.

 

„Hast du ihr die Tropfen gegeben?“

Finn nickt. „Ja, aber die helfen nicht.“ Sein Augen schimmern schon wieder verdächtig und seine Unterlippe zittert.

Scheiße, am liebsten würde ich mitheulen. Warum habe ich nicht letzte Woche schon reagiert? Wie habe ich glauben können, dass es schon wieder gut wird?

„Mama?“, flüstere ich, „ich ruf den Rettungsdienst, okay?“

Für den Bruchteil einer Sekunde öffnet sie die Augen, antwortet aber nicht. Zu sehr ist sie im Schmerz gefangen. Ich weiß, dass sie am liebsten hierbleiben würde, nicht ins Krankenhaus will. Aber jetzt haben wir keine andere Wahl mehr. Ich ziehe mein Handy hervor und wähle den Notruf.

Finn kauert sich in eine Sofaecke, während ich in Mamas Schlafzimmer eile und hastig ein paar Klamotten für sie zusammensuche und in eine Tasche packe. Kaum habe ich alles beisammen und auch ihr Portemonnaie mit der Versichertenkarte eingesteckt, klingelt es.

Mama kann auf die Fragen des Rettungsdienstes nicht antworten, also fasse ich ihre Symptome und ihr Krankheitsbild rasch zusammen, obwohl mir Mamas hilfloses Wimmern fast den letzten Nerv raubt.  Das Rettungsteam spricht sich kurz ab und einer der Sanitäter verabreicht Mama ein Schmerzmittel, woraufhin sie sich nach wenigen Sekunden entspannt.

„Wir bringen sie in die Klinik“, sagt der Sanitäter dann zu Finn und mir.

 

„Können wir mitkommen?“

 

Es ist das erste Mal, dass Finn sich zu Wort meldet. Angst lässt seine Stimme zittern.

Der Sanitäter schüttelt bedauernd den Kopf. „Das geht leider nicht. Habt ihr eine andere Möglichkeit zur Klinik zu kommen?“

Ich nicke. „Wir kommen mit dem Auto nach.“

Finn sieht mit schreckgeweiteten Augen zu, wie das Rettungsteam Mama in den Rettungswagen bringt. Mir schlägt das Herz bis zum Hals – das letzte Mal, als unsere Mutter vom Rettungsdienst abgeholt wurde, endete in einer Katastrophe. Obwohl es schon so lang her ist, ist die Erinnerung noch so klar als wäre es gestern gewesen. Ich verbanne die Gedanken in meinen Hinterkopf und lege Finn den Arm um die Schulter.

„Komm“, sage ich leise und führe ihn zu Mamas Auto.

Wir schweigen während der Fahrt. Über unsere Angst müssen wir nicht sprechen, wir wissen auch so, dass wir sie teilen. Und etwas Ermutigendes kann ich Finn nicht sagen. Er ist inzwischen zu alt um mir ein Alles wird gut abzukaufen. Scheiße.

 

Am liebsten würde ich laut brüllen, meine Angst und Hilfslosigkeit rausschreien.

 

Stattdessen kralle ich meine Hände ins Lenkrad und starre auf die roten Rücklichter des Rettungswagens vor uns.

In der Klinik müssen wir warten, sind wieder einmal ausgesperrt von dem, was passiert. Finn setzt sich auf einen der Stühle im Wartebereich, zieht die Beine an und starrt vor sich hin. Ich tigere ein paar Mal auf und ab, ehe ich mich neben ihn setze. Ich wippe mit einem Bein auf und ab, knete die Hände, stecke sie in die Hosentaschen, ziehe mein Handy heraus. Drei Nachrichten von Johnny und Kris.

 

Freddy? Was ist los?

 

Alles okay?

 

Warum bist du so plötzlich weg?

 

Ohne zu antworten, schließe ich die App und stecke das Handy zurück in die Tasche. In der Band haben wir eine unausgesprochene Regel. Wir reden nicht über unsere Hintergründe, teilen nur das Notwendigste über unsere Familien mit. Nicht umsonst haben wir uns Escape genannt, weil wir alle unsere Auszeit brauchen. Johnny weiß, dass ich zuhause viel helfen muss. Mehr nicht.

Ich zucke zusammen, als mir Judith einfällt. Fuck. Sie habe ich genauso stehenlassen wie die anderen. Sie war so … offenherzig ist das erste Wort, das mir einfällt. Das hätte heute Abend ein richtig gutes Gespräch werden können. Und ich hab sie einfach mit den anderen alleingelassen. Was denkt sie jetzt wohl von mir?

Ich presse die Fäuste gegen das harte Plastik des Stuhls. Ist doch egal, ist gerade alles so scheißegal.

Die Tür des Zimmers, in dem Mama untersucht wird, öffnet sich und eine Ärztin kommt heraus. Finn und ich springen gleichzeitig auf.  

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