Kapitel 19 - Still one more

Freddy

Mit gewohnter Hand ziehe ich das Kabel aus der E-Gitarre, wickle es auf und lege es auf den Verstärker. Wieso ist Judith so schnell verschwunden? Während des Streams sah sie so glücklich aus, mit dem wunderschönen Lächeln auf ihrem Gesicht. Normalerweise reicht es schon, mich in die Musik fallen zu lassen, aber dass Judith da war, hat mir ein neues Gefühl von Sicherheit gegeben. Jetzt ist da nur noch verwirrte, ungemütliche Kälte. Ich greife nach dem Softcase für meine E-Gitarre, als Johnny neben mir auftaucht, eine Nikotinwolke mit sich ziehend. Ich rümpfe die Nase. Er weiß, dass ich den Zigarettengeruch nicht ausstehen kann.

„Lief doch ganz gut“, sagt er und verpackt die Verstärkerkabel in einem Koffer.

„Jo.“

 

„Du und Judith. Läuft da was?“ 

Obwohl er es deutlich beiläufig klingen lässt, weiß ich, dass es ihn brennend interessiert. Schulterzuckend wende ich mich ab und schraube länger am Mikroständer herum als notwendig. Abgesehen davon, dass ich keine Antwort darauf weiß, habe ich gerade wenig Lust, mit Johnny oder überhaupt jemandem darüber zu reden. Nach Judiths plötzlichem Abgang schon mal gar nicht.

Zwischen Johnnys und meinen Vorstellungen bezüglich was laufen dürften außerdem Welten liegen. Er hat immer mal wieder irgendwelche Bettgeschichten, aber eine feste Beziehung hatte er, soviel ich weiß, noch nie. Mir fehlte in den letzten Jahren die Zeit für eine Beziehung und an One-Night-Stands habe ich wenig Interesse, zumal ich das Zuhause sowieso vergessen könnte, solange ich mit Finn das Zimmer teile.

Aber mit Judith … Ich habe nicht so weit gedacht, weil es ohnehin unmöglich ist, aber unter anderen Umständen würde ich mir wünschen, dass vielleicht etwas laufen könnte.

„Okay, sag halt nichts. Die Blicke, die ihr euch zugeworfen habt, waren eindeutig“, sagt Johnny und nimmt mir den Mikroständer aus der Hand.

„Wenn du meinst.“

Ich packe meine Sachen zusammen, verabschiede mich von den anderen und mache mich auf den Weg nach Hause. Auf der Bahnfahrt fange ich zwanzig Nachrichten an Judith an, lösche aber jede einzelne wieder. Ich will sie nicht nerven. Wenigstens rede ich mir das ein.

 

„Halt dich von Eike fern“,

 

ermahne ich Finn am nächsten Morgen, ehe er sich auf den Weg zur Schule macht. Sein Kinn ist bläulich verfärbt, sieht aber nicht so schlimm aus, wie wir zuerst befürchtet hatten, und auch die Schwellung seiner Lippe hat sich zu einem guten Teil verflüchtigt. Zum Glück hat Mama die Ausrede mit dem Sportunterricht gekauft und nicht weiter nachgefragt.

„Wird schwer, wenn wir zusammen Hofdienst machen müssen“, murmelt Finn wenig begeistert.

„Du weißt, was ich meine.“

Finn rollt mit den Augen. „Ja.“

Kaum ist er aus der Tür, beginne ich mit der Hausarbeit. Geschirr wegräumen, Essensplan schreiben, Wäsche falten – alles, was leise geht, solang Mama noch schläft. Dass sie morgens länger braucht, um wach zu werden, ist nichts Neues, aber seit Freitag ist sie auch noch wortkarg. In den wenigen Stunden, die wir uns in den letzten Tagen gesehen haben, hat sie nicht viel gesprochen, meistens nur genickt oder müde geguckt. Vielleicht liegt es am grauen Wetter oder an ihrer Erschöpfung. Wenn es bloß nicht wieder eine depressive Verstimmung ist. Ihre Schmerzattacken sind schlimm, aber damit kann ich umgehen. Mama dabei zusehen zu müssen, wie sie in Trauer versinkt und sich allem verschließt, halte ich nicht aus. Einmal hat gereicht.

Ich setze mich mit meinem Ausbildungsnachweisheft an den Esstisch und sehe die Seiten an, die ich zuletzt geschrieben habe. Einen Preis für vorbildliche Heftführung gewinne ich damit nicht, was auch Sven schon angemerkt hat. Trotzdem hat er meine Eintragungen immer abgezeichnet. Wenn ich allerdings in einem Jahr noch wissen will, was ich geschrieben habe, muss ich das jetzt in Ordnung bringen. Leider fällt es mir nach zwei Wochen schon schwer, meine Kritzeleien zu entziffern. Ich kann nur noch Bruchteile der Notizen über Gewinn- und Verlustrechnung lesen, und die Übungsaufgabe, die Sven mir dazu gegeben hat, bleibt mir ein Rätsel. Mein Handy vibriert, und ich nehme die Ablenkung von dem Warenbestand der Musterfirma in Musterstadt nur zu gern an. Ben hat ein paar Screenshots in unseren Gruppenchat geschickt.

 

Moin, hier die schönsten Kommentare von gestern Abend.

 

Ich überfliege die Kommentare, die voller Begeisterung sind und sich mit Lob für 31 Days überschlagen.

 

Richtig nice. Freu mich schon, den auf dem nächsten Konzert zu hören. Gänsehaut. Könnte euch ewig zuhören.

 

Ein bisschen von der Wärme, die ich gestern beim Spielen gespürt habe, kehrt zurück und legt sich wie eine Decke um meine Schultern. Ich wünschte, ich könnte wieder in den Proberaum, in diesen Moment – aber die GuV schaut mich unbarmherzig, beinahe vorwurfsvoll an. Seufzend lege ich das Handy zur Seite, rücke den Aufgabenzettel zurecht und beginne zu rechnen.

„Guten Morgen.“ Mamas Hand drückt sanft auf meine Schulter und ich sehe auf.

Sie steht, noch im Schlafanzug, hinter mir, und obwohl es bereits halb zehn ist, sieht sie noch immer furchtbar müde aus. „Lernst du?“

„Hmm“, brumme ich. „Kannst du mir das nochmal erklären? So ganz hab ich die GuV noch nicht kapiert.“

Mama lächelt. „Gleich. Ich mach mich fertig und dann schauen wir uns das zusammen an, okay?“

Ich nicke, und während sie ins Bad geht, lasse ich meine Aufgaben liegen und bereite in der Küche Frühstück für Mama vor.

Eine halbe Stunde später sitzt sie mir gegenüber, meine Übungsaufgabe in der Hand und schüttelt den Kopf. „Oh Freddy, was hast du denn da gerechnet?“

„So schlimm?“, frage ich überflüssigerweise. So, wie Mama das Gesicht verzieht, habe ich den Musterbetrieb halb in den Ruin getrieben, worüber sie als ehemalige Filialleitung eines Supermarkts nur verzweifeln kann. Sie schiebt mir das Aufgabenblatt zu und deutet auf die Buchungssätze.

„Auf dem Flohmarkt funktioniert das so vielleicht, aber im ProTone müsst ihr die Mehrwertsteuer mitberechnen. Sonst habt ihr irgendwann ein Problem.“

Autsch. Die habe ich komplett vergessen. Während Mama ihren Tee trinkt, nehme ich mir also nochmal die Aufgabe vor und aktualisiere die Buchungssätze. Mamas Augen leuchten wie schon lang nicht mehr, als sie mir anschließend die verschiedenen Konten erklärt und kurz bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit macht, löst sich meine Verwirrung endlich auf.

„Ich bin stolz auf dich, mein Großer. Du packst das“, sagt sie, und umarmt mich zum Abschied.

Dankbar sehe ich ihr nach und suche mir im Internet gleich eine weitere Übungsaufgabe heraus.

 

„Euer Stream am Sonntag war cool. Und dein neuer Song ist der Hammer“,

 

sagt Sven am nächsten Tag, als ich überpünktlich in den Laden komme.

„Danke. Cool, dass du zugeguckt hast.“

„Ist doch logo.“

So logo finde ich das nicht, schließlich hat Sven einen ganz anderen Musikgeschmack. Umso mehr freut mich sein Lob.

„Wir wollen uns jetzt richtig ins Zeug legen für den Wettbewerb. Ben und Johnny versuchen gerade einen Raum zu organisieren, wo wir ein paar Songs aufnehmen können, weil die Bedingungen im Proberaum nicht optimal sind.“

„Wenn ihr wollt, kann ich mich auch mal umhören“, verspricht Sven, während er den PC hochfährt und mir eine Liste mit Kundenbestellungen in die Hand drückt.

„Klar, das wäre super. Danke.“ Ich nehme die Liste und suche die bestellten Noten, Saiten und sonstigen Waren zusammen, die im Laufe des Tages von den Kunden abgeholt werden. Mit Namen und Bestellnummer lege ich die Waren ins Abholfach unter der Theke und führe als kleine Übung eine GuV auf der Rückseite der Bestellliste durch.

Sven lacht. „Wenn du so viel Spaß am Rechnen hast, kannst du demnächst gern den Monatsabschluss übernehmen.“

„Von mir aus, ist bestimmt ein gutes Training für die Prüfung“, erwidere ich, bin aber trotzdem erleichtert, dass Sven versichert, er würde mich mit dem Monatsabschluss nicht allein lassen. Auch wenn ich das mit den verschiedenen Konten jetzt begriffen habe, wird das garantiert nicht meine große Leidenschaft.

Am Nachmittag bekomme ich allerdings die Chance, das zu tun, was mir an dem Job am meisten Spaß macht. Mit einem Kunden, der eine neue E-Gitarre sucht, kann ich in aller Ausführlichkeit fachsimpeln und ein paar Instrumente anspielen. Irgendwann reiche ich ihm auch meine Lieblingsgitarre, die für mich leider unerschwinglich ist, von der ich aber schon träume, seit ich meine Ausbildung begonnen habe. Innerhalb von wenigen Akkorden ist der Kunde angefixt – und verlässt eine Dreiviertelstunde später mit seiner neuen Gitarre den Laden. Sven ist mit meiner Verkaufsleistung mehr als zufrieden, ich sehe der Fender Strat hingegen etwas wehmütig hinterher.

 

Der satte Gitarrensound schwingt sich von den Saiten durch den Raum und hüllt mich ein.

 

Meine Finger fliegen über den Stahl. Ich bin eins mit der Gitarre. Da erklingt plötzlich ein falscher Ton. Verwundert unterbreche ich mein Spiel, stimme die Saiten nach und beginne erneut. Der Störeffekt bleibt, wird sogar lauter. Es liegt nicht an der Gitarre.

Mit einem Ruck setze ich mich im Bett auf. Die Fender, auf der ich eben noch gespielt habe, hat sich mit dem Traum in Luft aufgelöst. Der störende Ton bleibt. Ein Wimmern, das aus Mamas Schlafzimmer kommt. Fuck, es ist wieder soweit.

Mich erwartet das Bild, das ich schon viel zu oft gesehen habe. Mama liegt starr vor Schmerzen im Bett, mit verzerrter Miene und Schweiß auf der Stirn. Routiniert öffne ich die Schublade des Nachttischs, aber die Packung mit den Schmerztabletten ist nicht da. Mist. Mama brauche ich gar nicht erst fragen, sie ist zu keiner Antwort in der Lage. Ich schaue im Bad und im Küchenschrank. Wo ist dieses verdammte Medikament? Im Flur fällt mir Mamas Handtasche in den Blick. Hastig suche ich zwischen Portemonnaie und Kleinkram und werde tatsächlich fündig. Mit der Pappschachtel ziehe ich einen Flyer hervor. Ich will ihn schon zurückstecken, als ich die Überschrift sehe. Diagnose Brustkrebs. Und nun?  

 

Alles um mich herum versinkt in einem Rauschen.

 

Ich kralle meine Hand um die Medikamentenpackung, gehe wie in Trance zurück in Mamas Schlafzimmer und gebe ihr das Schmerzmittel. Ich habe mir das bestimmt nur eingebildet. Es ist nur ein schlechter Traum. Mamas Atemzüge werden ruhiger. Mein Puls rast. Ich schleiche in den Flur, knipse noch einmal das Licht an. Der Flyer liegt neben der Handtasche und hat immer noch die gleiche verdammte Überschrift. Egal wie oft ich blinzle. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Das muss ein Irrtum sein. Bitte mach, dass es nicht wahr ist. Der Flyer scheint zwischen meinen Fingern zu brennen, trotzdem kann ich ihn nicht loslassen. Irgendwie finde ich den Weg ins Bett, wo ich die Hand, zwischen deren Fingern der Flyer klebt, unter mein Kopfkissen schiebe. Aus Mamas Schlafzimmer dringt kein Ton mehr, doch in meinem Kopf dröhnt es so laut, dass eigentlich das ganze Haus aufwachen müsste, und ich bis zum Morgen keinen Schaf mehr finde.

 

Obwohl ich das Papier nur zu deutlich an meiner Haut spüre, sehe ich unter dem Kopfkissen nach, während Finn sich im Bad für die Schule fertig macht. Weißes Papier mit blauer Schrift, in einer Ecke eine rosa Schleife. Wann wache ich endlich auf?

Der Wecker klingelt zum dritten Mal. Ich werde nicht wacher und der Flyer und sein verdammter Text ist immer noch da. Brustkrebs. Seit vier Stunden ist in meinem Kopf nur noch Platz für dieses eine Wort. Scheißwort. Wer hat sich das ausgedacht?

„Freddy? Alles okay?“

Finn steht fertig angezogen im Zimmer und greift nach seiner Schultasche.

 

Fuck, nichts ist okay.

 

Aber wie soll ich Finn das erklären? Mein Bruder wartet eine Antwort allerdings nicht ab, sondern verschwindet schon wieder aus unserem Zimmer. Kurz darauf höre ich ihn in der Küche hantieren. Ich zwinge mich zum Aufstehen und setze mich nach einer Stippvisite im Bad mit einer Flasche Mate zu Finn an den Esstisch. Er daddelt auf seinem Handy und ich lese wieder und wieder die Zutatenliste und Nährwerte auf er Müslipackung, um endlich andere Wörter in den Kopf zu kriegen. Kaum bekomme ich mit, wie Finn schließlich aufsteht und die Wohnung verlässt. Ich leere die Mate, räume das Frühstück weg, ohne etwas gegessen zu haben. Die Dose mit dem Mittagessen für heute stecke ich nur aus Gewohnheit in meinen Rucksack. Ich glaube nicht, dass der Appetit sich heute noch meldet. Damit Finn ihn nicht findet, stopfe ich den Flyer in meine Jackentasche, obwohl ich nicht weiß, was ich damit soll.

Im Flur stoße ich beinahe mit meiner Mutter zusammen, die so übernächtigt aussieht wie ich mich fühle. Wut überfällt mich. Dass sie mir den Schlaf geraubt hat. Dass ich ihretwegen völlig am Ende bin. Dass sie krank ist. Dass das alles nicht aufhört.

„Hey Freddy.“

„Wann hättest du es uns gesagt?“, werfe ich ihr statt einer Begrüßung an den Kopf.

Mama sieht mich verwirrt an. „Gesagt? Was denn?“

Ich ziehe den Flyer aus der Jackentasche und halte ihn ihr vor die Nase. Mama fällt augenblicklich sämtliche Farbe aus dem Gesicht, die Augen schreckgeweitet.

„Freddy, das ist …“

„Was? Alles nur ein Missverständnis? Gar nicht so schlimm? Für eine Kollegin?“ Mit jeder Frage werde ich lauter, bis sich meine Stimme beim letzten Wort beinahe überschlägt.

Mama lehnt sich gegen die Wand, weicht meinem Blick aus und schüttelt schließlich den Kopf.

 

„Ich wollte nicht, dass ihr euch noch mehr Sorgen um mich macht.“

 

Obwohl sie flüstert, hallt mir jedes Wort in den Ohren wie ein höhnisches Lachen. Ihre Stimme zittert und doch hätte es mich nicht mehr treffen können, wenn sie mich angebrüllt hätte.

„Ach ja? Und wie hast du dir das vorgestellt? Morgens Chemo und nachmittags lernst du mit mir Betriebswirtschaft als wenn nichts wäre?“

Tränen laufen über Mamas Gesicht, aber ich bin so in meiner Wut gefangen, dass sie mich nicht rühren. 

„Sind Finn und ich die einzigen, die es nicht wissen sollten?“

Mama streckt die Hand nach meinem Arm aus, aber ich schüttle sie ab. „Ich habe nur mit Judith darüber gesprochen.“

Eiseskälte überzieht meinen Körper und ich kann nicht anders als Mama anzustarren. „Judith?“

„Ein Mädchen vom Seelsorgeteam in der Klinik.“

Nein, nein, nein. Das ist alles nicht wahr. Es muss ein Fehler sein. Mama und Judith können unmöglich …

„Freddy, bitte, lass uns nachher in Ruhe darüber reden.“

Die Wut kehrt heiß und heftig zurück und löst mich aus meiner Erstarrung.

„Vergiss es“, zische ich, schnappe mir die Gitarre, die nach der Probe gestern immer noch im Flur steht, und knalle die Wohnungstür hinter mir zu.

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