Kapitel 33 - Happy New Year?

Freddy

You’re more than just a girl in the crowd.

Judith lächelt, sieht vollkommen glücklich aus, und auch auf meine Lippen legt sich ein entspanntes Lächeln, während ich mit der Gitarre den Saal verlasse. Das Bild stoppt. Wow. Unser erstes richtiges Musikvideo. Mein Song, meine Stimme, mein Gesicht – und Judiths. Das ist abgefahren. Ich drücke noch einmal auf Play und sehe gebannt zu, wie Bild und Musik ineinandergreifen, und obwohl ich alles nur auf meinem Handybildschirm sehe, bin ich einfach nur geflashed. Ben muss über die Feiertage nur geschnitten haben, um das Musikvideo fertigzubekommen. Als der Clip zum zweiten Mal durchgelaufen ist, lese ich die Nachricht, die Ben uns zusammen mit dem Video geschickt hat.

Fertig. Wenn ihr keine Einwände habt, geht das nächste Woche so raus.

 

Johnny hat bereits geantwortet. Einwände? R u crazy? Das ist oscarverdächtig!

 

Tanzende Punkte zeigen an, dass auch Kris eine Nachricht tippt. Ich warte ab, doch Kristina scheint einen halben Roman zu verfassen. Mein Herzschlag beschleunigt sich? Gefällt ihr das Video etwa nicht? Schließlich verschwinden die tanzenden Punkte. Aber statt einer langen Nachricht taucht eine GIF-Datei im Chat auf. Ein staunender Minion, unter dem in Großbuchstaben das Wort Wow aufblinkt. Ich muss grinsen. Zwar ist mir schleierhaft, warum sie dafür so ewig gebraucht hat, aber der Gesichtsausdruck der animierten Figur trifft es ziemlich gut.

 

Mega, schreibt sie schließlich doch noch erklärend hinzu.

 

Mein Finger schwebt suchend über den Buchstaben. Was soll ich schreiben? Dieser irrwitzige Gefühlsmix aus Stolz, Begeisterung und ungläubiger Fassungslosigkeit, der mir einen Schauer nach dem nächsten über die Haut treibt, lässt sich nicht in Worte fassen.

 

Ich versuche es mit Dito und finde, dass das am ehesten passt, doch bevor ich meinen Kommentar abschicken kann, kommt eine Nachricht von Judith rein, und ich lösche das Wort wieder aus meinem Feld.

 

Hast du das Video schon gesehen?

 

Judiths Frage wird begleitet von einem Emoji mit in Tränen schwimmenden Augen und in mein Gefühlswirrwarr mischt sich Freude darüber, dass Judith das Video offenbar gefällt. Bei ihr muss ich über meine Antwort nicht lang nachdenken, mein Daumen tippt sie automatisch.

 

Ja. Ist der Hammer! Du bist perfekt. Kussemoji.

 

Danke. Ihr kommt auch richtig gut rüber. Fühlt sich nur irgendwie unwirklich an, dass das bald alle sehen können.

 

Ich lasse das Smartphone sinken und fahre mit den Augen die Rillen zwischen dem Lattenrost von Finns Bett über mir nach, während ein weiteres Gefühl sich unbarmherzig aus der Tiefe meiner Seele an die Oberfläche drängt. Zuerst kann ich es noch nicht erkennen, ich fühle nur einen ziehenden Schmerz und ein unangenehmes Brennen in meiner Kehle. Ich hebe das Handy wieder ein Stück an, schaue auf Judiths letzte Nachricht. Bald werden alle das Video sehen können. Sie werden das Publikum sehen, uns auf der Bühne, wie wir lachen und spielen.

 

In diesem Moment begreife ich, dass das neue Gefühl Heimweh ist.

 

Heimweh nach der Bühne. Ich will wieder dort oben stehen, mit Ben, Kris, Joshie und Johnny, will Musik machen, und Judith irgendwo in der Menge lächeln sehen, will die Energie spüren, die wir gemeinsam mit dem Publikum freisetzen, das Flattern im Bauch …

 

Ich schlucke und balle meine freie Hand zur Faust. Verbotener Wunsch. Ich sollte zusehen, dass ich ihn schnellstmöglich begrabe. Warum mein Herz an etwas hängen, was ich nicht haben kann?

 

Eine weitere Nachricht ploppt auf. Diesmal von Joshie.

 

I’m speechless, Master Ben.

 

Jetzt fehlt nur noch meine Antwort. Die anderen ahnen bestimmt, dass auch ich das Video längst gesehen habe. Wenn ich nicht bald reagiere, werden sie Fragen stellen. Unangenehme Fragen. Fragen, die ich nicht beantworten könnte, weil mich der Schmerz schon jetzt zerreißt. Langsam setze ich meinen zitternden Daumen auf die Tastatur.

 

Einfach genial. Bin überwältigt.

 

Wow, zum Glück ist das kein Songtext. Ich habe mich echt schonmal besser ausgedrückt. Da die anderen sich allerdings auch nur auf kurze Sätze beschränkt haben, wird es wohl niemandem auffallen. Trotzdem schließe ich den Chat mit schlechtem Gewissen. Früher oder später werde ich es der Band sagen müssen, dass ich … Fuck, ich kann es momentan nicht einmal denken.

 

Ausgerechnet jetzt öffnet sich die Zimmertür und mein Bruder steckt den Kopf durch den Spalt.

 

„Pennst du mitten am Tag?“

 

Noch vor zwei Wochen hätte ich Finn jetzt einen Spruch gedrückt und vermutlich hätten wir uns wieder in die Wolle gekriegt. Aber die Wogen zwischen uns haben sich wieder geglättet, vielleicht ist es auch nur ein Waffenstillstand, ganz sicher bin ich mir nicht. Ich will den Frieden nicht gefährden und schüttle daher nur den Kopf und richte mich auf.

 

„Mama will einen Spaziergang mit uns machen. Kommst du mit?“

 

Eine rein rhetorische Frage, natürlich begleite ich meine Familie zu unserem traditionellen Silvesterspaziergang. Das Wetter ist zur Abwechslung gar nicht so schlecht und meine Mutter reckt ihr Gesicht Richtung Himmel, während wir langsam durch unseren Wohnblock gehen.

 

„Ist das schön“, sagt sie und schließt für einen Moment die Augen.

 

Ja, es ist schön. Gutes Wetter, und wir eine glückliche Familie, die die letzten Stunden des Jahres gemeinsam verbringt. So wird es von außen wohl aussehen. Aber niemand sieht den stechenden Schmerz, der mich begleitet, seit ich unser Musikvideo gesehen und Judiths Nachricht gelesen habe. Und niemandem wird auffallen, dass Finn meinen Blicken ausweicht, als wir am Sportplatz mit dem Basketballkorb vorbeikommen. Ich habe ihm zu Weihnachten neue Sportschuhe geschenkt, auch wenn das ein ziemliches Loch in meine Kasse gerissen hat. Für meinen Bruder habe ich es trotzdem gern getan, die Freude in seinen Augen war unbezahlbar. Daran, dass er nur das Nötigste mit mir redet und auch sonst sehr schweigsam ist, hat sich trotzdem nichts geändert. Vielleicht ist das ein normales Verhalten für sein Alter. Das Ding ist bloß, dass Finn seit er fünf Jahre alt war, nicht wie andere gleichaltrige Kinder ist.

 

Ich springe erschrocken zur Seite, als in einem Hauseingang ein Feuerwerksböller losgeht. Das Echo der Explosion hallt von den Hauswänden wider und halbstarkes Lachen ertönt. Ich werfe den drei Jungs, die um den qualmenden Böller herumstehen einen genervten Blick zu. Und obwohl ich ihr Verhalten bescheuert und fahrlässig finde, spüre ich einen Hauch von Eifersucht. Vielleicht wäre ich wie sie, wenn Mama nicht schon so lang krank wäre. Vielleicht würde ich auch irgendetwas Fahrlässiges machen, worüber andere nur den Kopf schütteln und sich genervt abwenden würden.

Stattdessen schiebe ich mich zwischen die Jungs und meine Mutter und Finn, nur für den Fall, dass ein weiterer Knaller direkt neben uns explodieren sollte. Ich passe auf, übernehme Verantwortung, bin vernünftig. Mann, wie mich das heute nervt!

Selbst das Stückchen blauer Himmel, das zwischen den Wolken hervorlugt, kann meine Stimmung nicht heben und ich bin froh, als wir ein paar Minuten später endlich wieder zu Hause sind.

 

Mama macht Kakao und stellt einen Teller mit Weihnachtskeksen auf den Tisch,

 

Finn lässt seinen Basketball auf der Hand kreisen und mich juckt es in den Fingern, mich in mein Zimmer zurückzuziehen und meinen Frust an der Gitarre auszulassen. Aber der Silvesternachmittag und Abend sind Mama heilig. Wir verbringen diese Zeit immer gemeinsam, und in diesem Jahr ist es ihr besonders wichtig. Wer weiß, ob es ein nächstes Mal geben wird.

Der Gedanke durchfährt mich wie ein Schwert und nur, weil ich mir rasch auf die Zunge beiße, kann ich ein lautes Aufschreien verhindern. Natürlich wird es ein nächstes Mal, ein nächstes Jahr geben. Es muss.

Nur wie dieses kommende Jahr aussehen soll, weiß ich nicht. Nächste Woche beginnt Mama mit ihrer Chemo, und ein paar Tage später muss ich wieder nach Bayern zur Berufsschule. Richtig blödes Timing mal wieder. Ich tauche einen Lebkuchen in meinen Kakao.

 

„Rommé oder Mau-Mau?“ Mama öffnet den Karton, in dem seit Jahren unsere Spielkarten lagern. Auch das gehört zu unserer Silvestertradition. Kartenspielen bis zum Abendessen. Es ist alles so scheiße normal nach außen hin.

 

„Rommé“, bestimmt Finn.

 

War klar. Aber letztlich ist es mir egal. Ich lasse meinen Bruder die Karten mischen und verteilen und nehme mein Blatt entgegen. Pik-Bube und Pik-Dame, außerdem eine Pik-Neun. Gar nicht mal so schlecht für den Anfang. Die Karten, die ich im Spielverlauf vom Stapel ziehe, sind allerdings der reinste Schrott. Mama gewinnt die erste Partie und sie strahlt Finn und mich siegessicher an. Wenn das Spiel als Neujahrsorakel gilt, gönne ich ihr den Sieg von Herzen.

 

Um Mitternacht stehen wir, auch wie jedes Jahr, auf unserem kleinen Balkon. Jeder mit einer Wunderkerze in der Hand. Die goldgelben Blitze schießen knisternd in alle Richtungen, während der Himmel über uns von roten, gelben und grünen Funken erhellt wird.

 

„Frohes neues Jahr, meine Großen“, sagt Mama und umarmt Finn und mich.

„Wünscht euch was!“

 

Es ist lange her, dass ich geglaubt habe, eine Wunderkerze könnte Wünsche erfüllen, trotzdem schließe ich die Augen, um Mama einen Gefallen zu tun. Der erste Wunsch tobt in meinem Innern, lodert so heiß wie der Kern, der sich den Stiel der Wunderkerze hinunterschiebt. Doch ein zweiter Wunsch drängt sich in mein Bewusstsein. Ich spüre den Kopf meiner Mutter auf meiner Schulter – und schicke meinen Wunsch mit den Funken der Wunderkerze in den Himmel.

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