Kapitel 34 - Countdown

Judith

Der Wind, der uns über den Landungsbrücken entgegenweht, ist kalt und feucht und treibt mir Tränen in die Augen. Für einen Spaziergang hätten wir uns echt besseres Wetter, oder wenigstens einen etwas geschützteren Ort aussuchen können, denke ich und blinzle die Tränen weg. Meine gefütterte Regenjacke hält mich inzwischen auch nicht mehr richtig warm, weshalb ich ein Stück weit bereue, diesem Ausflug zugestimmt zu haben.

Freddy scheinen die Kälte und der feine Nieselregen nichts auszumachen, ich frage mich sogar, ob er beides überhaupt wahrnimmt. Sein Blick geht in so weite Ferne, als ob er bis zur Nordsee schauen wollte. Gesprochen hat er schon eine ganze Weile nicht mehr.

Wenn ich nicht seine Hand in meiner spüren würde, könnte ich glauben, dass wir gar nicht gemeinsam hier sind, sondern nur zufällig nebeneinander herlaufen. 

Ich bin Schweigen gewöhnt,

 

in der Klinik habe ich schon einmal anderthalb Stunden neben einer Patientin gesessen, ohne dass ein Wort zwischen uns fiel, aber die Stille, die Freddy gerade um sich ausbreitet, macht mich mit jeder Minute unruhiger.

Ich weiß, was ihn beschäftigt, welche schweren Gedanken ihm durch den Kopf gehen, er muss es mir nicht sagen. Morgen bekommt seine Mutter ihre erste Chemo. Ich müsste blind und naiv sein, zu glauben, dass ihm das keine Sorgen macht. Aber wieso kann er seine Angst nicht endlich einmal rausschreien, weinen oder wenigstens seufzen? Stattdessen nichts. Ich gehe mit einem Zombie spazieren.

 

Vor einer Weile habe ich ihm schon stumm Gesprächsbereitschaft signalisiert, indem ich seine Hand etwas fester gedrückt habe, aber er ist nur ein Stück zur Seite gewichen. Ich rufe mir alles, was ich in der Krankenhausseelsorge gelernt habe, in Erinnerung. Nicht drängen, nicht verurteilen, wertschätzen, den anderen annehmen. Bislang ist mir das immer gut gelungen. Doch das mit Freddy ist anders. Er ist nicht einer von vielen Patienten. Er ist mein Freund. Wie soll ich ihm professionell beistehen?

 

Zwei Möwen flattern kreischend vor uns auf, zanken sich um ein Brötchen, und reißen mich aus meinen Gedanken. Abrupt bleibe ich stehen und zwinge so auch Freddy zum Anhalten.

 

„Was?“ Er sieht mich irritiert an, als ob er erst jetzt realisieren würde, wo wir sind.

 

Vielleicht ist es auch genau so.

Ich mache einen Schritt auf ihn zu, umschließe auch seine andere Hand mit meinen Fingern und suche seinen Blick. Er weicht mir nicht aus, und in den glasigen, grünen Augen sehe ich all den Schmerz und die Angst, die ich schon vermutet habe.

 

„Freddy“, sage ich leise und ziehe ihn in eine Umarmung.

Er lehnt seinen Kopf auf meine Schulter und ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr vorbeistreichen.

 

„Ich bin da, okay?“, wiederhole ich mein Versprechen, das ich ihm schon oft gegeben habe.

 

Sein Kopf reibt langsam an meiner Schulter hin und her, ein Nicken. „Ich weiß“, flüstert er. Sonst nichts. Das muss ich akzeptieren, auch wenn ich glaube, dass es ihm guttun würde, seine Gefühle auszusprechen. Aber jetzt hat er immerhin schon einmal reagiert und weiß, dass er reden darf, wenn er es möchte. Er schließt seine Arme um meinen Oberkörper und zieht mich noch enger an sich. Seine Finger wandern über meinen Rücken, ich spüre den Druck durch das Futter meiner Jacke, und langsam wird mir wieder wärmer. Nicht nur, weil Freddy mich im Arm hält, sondern weil er wieder hier bei mir ist, körperlich, vor allem aber mit seinem Herzen.

 

Er lächelt zaghaft und küsst mich, nur kurz, aber es reicht, um mir ein wohliges Kribbeln über die Haut fahren zu lassen. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, seine Lippen auf meinen zu spüren, ihm auf diese Art nahe sein zu dürfen.

 

„Dir ist kalt“, stellt er fest und fährt mit dem Handrücken über meine Wange.

 

„Ein bisschen“, sage ich, obwohl es längst nicht mehr so schlimm ist wie vor unserem Kuss.

 

Freddy nimmt meine Hand und führt mich weg vom Wasser. Gemeinsam tauchen wir ein in Straßen, wo zwar immer noch Nieselregen fällt, es aber wenigstens windgeschützt ist.

 

„Sorry, darüber hätte ich vorher nachdenken können“, sagt er.

 

„Schon okay.“ Ich weiß, warum er heute die frische Luft braucht und habe dafür gern ein bisschen frieren in Kauf genommen. Trotzdem bin ich froh, dem Wind jetzt nicht mehr so ausgesetzt zu sein. „Bist du gespannt auf Freitag?“, frage ich, um von dem nicht ausgesprochenen Thema abzulenken. Im selben Moment, wie ich es ausspreche, schlägt mein Herz schneller. Ich kann kaum glauben, dass es nur noch zwei Tage sind, bis das Video zu Girl in the Crowd online geht und es theoretisch jeder sehen kann. Gefühlt habe ich es schon tausendmal angesehen, seit Ben es mir mit der Bitte um meine Freigabe geschickt hat. Nicht, weil ich mich darin bewundern will, auch wenn ich mit mir und meiner schauspielerischen Leistung sehr zufrieden bin, sondern weil ich dieses Lied liebe. Weil es so 1000% Freddy ist. Weil ich ihn in jedem Ton und jeder Silbe spüre.

Mein Freund macht im Moment allerdings ein Gesicht, als wüsste er nicht, wovon ich rede.

 

„Euer Video.“

 

„Ach so.“ Er hat es tatsächlich vergessen. Verdammt, er ist echt komplett in düstere Gedanken und Sorgen abgetaucht. „Ja, doch, bin gespannt, wie es ankommt.“

 

Klar. Ich kann mir gerade noch verkneifen, mit den Augen zu rollen, aber ich glaube Freddy kein Wort. Seine Antwort klang wie aus einem Buch mit Textbausteinen geklaut. Natürlich ist mir klar, dass ein Musikvideo im Vergleich zum Gesundheitszustand seiner Mutter völlig unwichtig ist. Aber dass es ihn so wenig interessiert, erschreckt mich doch. Es ist schließlich sein Song. Er hat so viel Herzblut hineingesteckt und es war ihm wichtig, dass nicht irgendjemand in dem Video das Mädchen in der Menge ist, sondern dass ich es bin. Kann ihm das Ergebnis jetzt wirklich egal sein? Vielleicht muss ich ihn nur daran erinnern, wie toll das Video geworden ist.

 

 „Eure Fans werden es lieben.“

 

Freddy lacht auf. „Fans. Das klingt, als wären wir wer weiß was für eine Band.“

 

„Na und? Ich bin euer Fan. Und ich liebe das Video.“

 

„Du bist voreingenommen. Du spielst mit.“

 

„Ich hätte es auch scheiße finden können“, erwidere ich. „Und meine Familie findet es auch super.“

 

„Möglicherweise sind die auch voreingenommen“, gibt Freddy zu Bedenken.

 

Ich stöhne laut auf, sodass sich zwei Passanten irritiert nach uns umdrehen. „Und du bist unmöglich.“

 

„Sorry.“ Freddy bleibt mit hängenden Schultern stehen und senkt den Kopf. „Wie geht es dir damit? Bist du nervös?“

 

„Nur ein bisschen. Manchmal habe ich Angst, was sie in der Schule sagen werden. Aber ich glaube trotzdem, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.“ Noch vor drei Wochen wäre meine Antwort ganz anders ausgefallen, als mich an den Tagen nach dem Videodreh immer wieder die Panik überfiel und ich nicht glauben konnte, dass ich zugestimmt habe. Ich konnte Melanies und Kilians Sprüche förmlich hören. Okay, das kann ich immer noch. Zu oft, um ehrlich zu sein. Aber ich übe mich darin, sie zu verdrängen. Ein gewisses Lied eignet sich dazu am besten.

 

Freddy streichelt mir mit dem Daumen über die Finger und sieht mich ernst an. „Das hast du. Du warst wundervoll.“

 

„Wer ist jetzt voreingenommen?“, necke ich ihn. Ich liebe jedes seiner Worte, sie gehen runter wie Butter, und ich weiß, dass er sie ernst meint. Aber ich möchte ihn so gern wieder lachen sehen.

 

Es gelingt. Seine Mundwinkel wandern nach oben und um seine Augen bilden sich schmale Fältchen. „Ja, ich gestehe. Trotzdem, glaub mir. Du bist großartig. Im Video … und hier. Und wenn dir irgendjemand blöd kommt, dann glaub das bitte nicht.“

 

Oh Mist, ich glaube, da ist gerade ein fetter Regentropfen in meine Augen gefallen. Mein Blick verschleiert und meine Augenlider flattern synchron zu meinem Herz. Die Sorge über die möglichen Reaktionen in der Schule fällt von mir ab und zurück bleibt unendliche Dankbarkeit für diese Worte. Wir sind eins, als wir uns küssen und unsere Zungenspitzen vorsichtig umeinanderkreisen. Völlig egal, dass uns jeder zusehen kann. Wobei, vielleicht auch ganz gut, denn sonst würde ich noch viel mehr tun wollen, als Freddy nur zu küssen.

 

Danke für heute. Es war schön mit dir. Ist es immer.

 

Freddys Nachricht ploppt auf, kaum dass ich wieder zu Hause bin. Es ist erst zehn Minuten her, dass wir uns in der U-Bahn voneinander verabschiedet haben, und trotzdem schreibt er schon wieder.

 

In einer unfassbar kitschigen Geste presse ich das Handy an mein Herz, und bin ein bisschen froh, dass von meiner Familie gerade niemand da ist und mich beobachtet. Ungeniert vor mich hin grinsend gehe ich in die Küche, mache mir einen Tee und angle einen Schokoriegel aus dem Vorratsschrank und verziehe mich mit beidem auf mein Zimmer. Die Teetasse in der einen, das Handy in der anderen Hand tippe ich meine Antwort.

 

Danke. Ich bin froh, dass es dich gibt. Und dass wir uns gefunden haben.

 

Erst als ich die Nachricht abgeschickt habe, fällt mir auf, dass das Mail-Symbol aufleuchtet. Da Freddy gerade nicht online ist, schließe ich unseren Chat und öffne stattdessen meine Mails und für einen kurzen Moment scheint mein Herz auszusetzen, als ich die Betreffzeile sehe.

 

Einladung zum Auswahlwochenende Südamerika.

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