Kapitel 38 - Endgültig?

Judith

Ich muss mich verhört haben. Das hat Freddy nicht gesagt!

Kopfschüttelnd stütze ich die Hände auf die Knie und sehe schließlich besorgt zu Freddy. „Was?“, bringe ich leise hervor.

Mein Freund hält den Kopf gesenkt und schiebt die Fingernägel von Daumen- und Zeigefinger übereinander. „Ich mach keine Musik mehr.“

Wenn ich nicht schon sitzen würde, würde ich mich spätestens jetzt auf den Stein fallen lassen. Zweimal hat Freddy es jetzt gesagt, aber kapieren kann ich es trotzdem nicht. Das kann er einfach nicht ernst meinen.

„Freddy, was soll das? Das ist doch irre!“

Er hebt den Kopf, sieht mich mit versteinerter, ausdrucksloser Miene an. „Ist wohl meine Entscheidung, oder?“

„Natürlich ist es deine Entscheidung, aber ich verstehe nicht, warum? Wieso gerade jetzt?“

Freddy lacht freudlos auf und zuckt mit den Schultern, und ich frage mich, ob er wirklich so gleichgültig ist wie er sich gibt. „Ist das so schwer zu verstehen? Ich muss mich für die Ausbildung mehr anstrengen, Mama braucht mich – und Finn. Ich hab ihn viel zu lang vernachlässigt und gedacht, dass er schon klarkommt. Aber, verdammt, er ist erst dreizehn.“

 

Mit jedem Satz fällt seine Fassade mehr in sich zusammen,

 

aber es erleichtert mich nicht, dass er nicht gleichgültig ist. Stattdessen ziehen mein Herz, meine Lunge, meine Kehle sich zusammen, dass es weh tut. Ich will mir nicht anmaßen, dass ich ihn verstehe, denn zum Glück war ich noch nie in Freddys Situation, aber ich ahne, was er meint. Trotzdem hilft es nicht, im Gegenteil. Es macht alles nur schlimmer.

 

„Bitte, Freddy, denk noch mal darüber nach. Die Musik ist dein Leben.“

 

Er lässt die Schultern hängen und schüttelt mit gesenktem Blick den Kopf. „Nein, meine Familie ist mein Leben. Die Musik, die Band, das war nicht mehr als ein Zeitvertreib.“

 

Sein Ernst? Es dauert eine Weile, bis ich ihn nicht nur mit offenem Mund anstarren, sondern auch Worte für meine Gefühle finden kann.

„Zeitvertreib? Freddy, du hast dir, wo es ging, Zeit frei geschaufelt, um mit der Band zu spielen, und jetzt habt ihr den ersten Erfolg!“

 

„Ja, vielleicht war das ein Fehler. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen.“

 

„Das glaube ich dir nicht. Wenn du spielst, auf der Bühne stehst … du bist in deinem Element. Es ist schön, dich dort so glücklich zu sehen.“

 

Mit einem Satz springt Freddy von dem Stein und macht ein paar Schritte den Wanderweg hinauf.  „Ach ja? Den coolen Frontman kannst du also anhimmeln, aber der Typ, der seine Mutter pflegt, ist uninteressant?“

 

Ich starre ihn an, habe das Gefühl, als würde der Stein, auf dem ich sitze, in mich übergehen, ich bin wie gelähmt. Das Einzige, das sich an mir bewegt, sind Tränen, die sich aus meinen Augen lösen und heiß über meine Wangen laufen. Freddy steht da, die Züge verhärtet und die Hände zu Fäusten geballt, und sieht gar nicht aus wie der Junge, neben dem ich heute Nacht eingeschlafen bin. Dem ich mich so nah gefühlt habe. Jetzt ist da eine Mauer zwischen uns, hochgezogen aus kalten Worten.

 

„Du weißt, dass das nicht wahr ist“, flüstere ich, ohne zu wissen, ob meine Stimme überhaupt die fünf, sechs Meter bis zu ihm überbrücken. Aber ich kann mich noch immer nicht bewegen. Die letzten Minuten sind so furchtbar falsch gelaufen. Vielleicht habe ich Freddy zu sehr gedrängt.

 

Plötzlich kniet er vor mir, so wie ich zuvor vor ihm. Er nimmt meine Hände, führt sie auf meinem Schoß zusammen und hält sie fest, bis ich wieder ein bisschen Wärme spüre.

 

„Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast.“

 

Ich schlucke. „Und du? Hast du es so gemeint?“

 

„Nein. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe.“

 

Ich weiß es, oder ahne es zumindest, aber diesmal halte ich mich zurück. Freddy hockt vor mir wie ein geprügelter Hund und dieser Anblick macht mich einfach nur fertig. Trotzdem schaffe ich es irgendwie aufzustehen, ihn mit hochzuziehen und ihn in den Arm zu nehmen. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, trockne die Tränen an seiner Jacke und als er sich an mich drückt und ich seinen Herzschlag an meiner Brust spüre, weiß ich, dass ich recht hatte. Er hat eine Entscheidung aus Verzweiflung getroffen.

 

Schweigend stehen wir da, in diesem Augenblick bringt uns das näher zusammen als jedes Wort.

 

Die ersten Windböen ignorieren wir, doch irgendwann dringt die Kälte durch unsere Klamotten und ich zittere.

 

„Ich fürchte, mit der Schneewanderung wird es heute nichts mehr“, sagt Freddy.

 

„Das ist okay.“ Ich vergrabe meine Finger in seinem Zopf und hauche einen Kuss auf seine Wange.

Als wir Hand in Hand, und wieder schweigend, den Weg zurückgehen, durchbricht plötzlich ein lautes Summen die Stille. Freddy bleibt stehen, zieht sein Handy aus der Tasche, den Blick erwartungsvoll aufs Display gerichtet. Vermutlich erwartet er einen Anruf seiner Mutter oder von Finn. Innerhalb von einem Bruchteil einer Sekunde verdüstert sich seine Miene jedoch und mir scheint, als würde er ernsthaft in Erwägung ziehen, den Anruf abzulehnen. Aber dann nimmt er das Gespräch doch entgegen.

 

„Johnny, hi.“

 

Ich höre Johnnys Stimme kann aber keine Worte verstehen, sehe nur an Freddys Gesicht, dass ihm das Thema, das sein bester Freund anspricht, offenbar nicht gefällt.

 

„Judith ist zu Besuch, wir sind gerade unterwegs … Ja, war spontan …“ Freddy lächelt mich an.

„Schon cool, ja …“, sagt er dann, und ich bin einmal mehr erstaunt, dass er eine recht glaubwürdigen unbeschwerten Ton anschlagen kann, während gleichzeitig tiefe Falten auf seiner Stirn liegen. „Ich muss noch ein paar Termine checken, ich melde mich okay?“

 

Das lässt mich aufhorchen. Gerade klang es doch so, als wollte er sich nichts Neues vornehmen.

 

„Danke, mach’s gut, ciao.“ Er legt auf und lässt das Handy wieder in seine Hosentasche gleiten. „Grüße von Johnny.“

 

„Danke. Ist alles okay?“

 

Freddy beginnt mit einem Nicken, das in ein Kopfschütteln übergeht, und zuckt mit den Schultern.

„Kris hat heute Morgen geschrieben, dass wir in vier Wochen im Alsterkeller spielen könnten. Die anderen sind schon ganz heiß …“

 

Mir entfährt ein Seufzen. „Aber du nicht.“

 

Wieder zuckt Freddy mit den Schultern. „Es wär schon nice, aber …“ Er räuspert sich, streckt den Rücken durch und spannt die Kiefer an. „Es geht nicht.“

 

Er klingt hart und entschlossen, nur seine Augen verraten mir, wie schwer es ihm fällt, und es macht mich wahnsinnig. Ich möchte ihm so gern helfen, nach Möglichkeiten suchen, dass er weiterhin Musik machen kann, aber im Moment ist er dafür nicht zugänglich.

 

„Wann wirst du es den anderen sagen?“

 

Freddy seufzt und schaut über die schmutziggrünen Talwiesen. „Bald.“

 

Es dämmert schon, als wir wieder an der WG ankommen, die verlassen ist. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel.

 

Wir sind schon drüben bei Patrick. Gibt was zu essen, kommt dazu.

 

„Wer ist Patrick?“, frage ich.

 

„Einer aus unserer Klasse. Die WG ist zwei Straßen weiter. Offenbar steigt die Jamsession bei ihm.“

 

Ich lasse den Zettel zurück auf den Tisch sinken und sehe Freddy abwartend an. „Gehen wir hin?“

 

Nicht weil ich ihn zwingen will, zu spielen, oder weil ich keine Lust hätte, selbst zu kochen, ich kann mir einfach vorstellen, dass es ein schöner Abend mit den Leuten aus Freddys Klasse werden könnte.

Freddy greift nach dem Wasserkocher, füllt zwei Teetassen mit dem sprudelnden Wasser und reicht mir eine Tasse. „Okay“, sagt er lächelnd.

 

Eine gute Stunde später weiß ich, dass ich bayerischem Leberkäs nicht allzu viel abgewinnen kann, aber aus Höflichkeit esse ich trotzdem auf. Ich sitze zwischen einem guten Dutzend Berufsschüler, von denen fast alle irgendein Instrument in der Hand halten, oder diese abwechselnd bedienen. Peter spielt Akkordeon, Debbie hat ihre Bratsche dabei und Patrick begleitet auf der Gitarre, irgendein Lied, das ich nicht kenne, das aber gute Laune macht.

 

„Willst du mitspielen?“, fragt Sascha mich.

 

„Oh, ich kann kein Instrument spielen“, antworte ich und komme mir kurz wie ein Außerirdischer vor. Aber Sascha drückt mir ein Rassel-Ei in die Hand und grinst.

„Damit kannst du nicht viel falsch machen.“

 

Wenn er meint. Ich rassle drauf los und schaffe es immerhin, im Rhythmus zu bleiben. Als große musikalische Bereicherung würde ich meinen Beitrag trotzdem nicht bezeichnen, aber das scheint niemanden in dieser Runde zu kümmern.

 

Nachdem das Lied zu Ende ist, stellt Patrick die Gitarre neben sich, um einen Schluck zu trinken. Ich sehe Debbies Augen aufblitzen. Sie schnappt sich die Gitarre und drückt sie Freddy in die Hand, der sie geistesgegenwärtig festhält.

 

„Komm, einmal Girl in the Crowd, bitte.“

 

Freddy zögert und ich halte die Luft an. Ich bin mir sicher, dass er seinen Mitbewohnern nichts von seinen Plänen bezüglich der Band erzählt hat, Debbie kann also nicht wissen, was ihn beschäftigt. Wird er trotzdem ablehnen?

 

Sein Blick trifft mich, fragend, als ob er von mir eine Erlaubnis einholen müsste. Ich lächle ihn aufmunternd an, er lächelt zurück und legt die Gitarre auf sein Knie.

 

„Okay.“

 

Seine Finger gleiten über die Saiten, als er die ersten Akkorde anschlägt, und obwohl ich dieses Lied nun schon so oft gehört habe, trifft es mich diesmal tiefer als je zuvor, als Freddy anfängt zu singen.

 

Well, here we are again

Back on stage, another gig.

The cheers are killing all my pain

For this moment I may leave the brig.

 

Was wird ihm zukünftig diesen Ausbruch aus seinen inneren Zwängen geben, wenn er die Musik hinter sich lässt? Kann er das wirklich wollen? Debbie spielt eine wunderschöne Begleitung auf der Bratsche und treibt mir damit endgültig die Tränen in die Augen. Ich halte das Rassel-Ei fester als notwendig wäre und schaue auf den Boden unter meinen Füßen, kann Freddy jetzt nicht ansehen. Vielleicht legen die anderen es als Interpretation zum Refrain aus. Shy like the sun behind a cloud.

Beim Refrain singen Lena und Debbie, und sogar Peter und ein paar andere mit. Verdammt, wenn das so weitergeht, zerdrücke ich dieses Rassel-Ei noch. Ich schlucke heftig, um nicht hemmungslos zu schluchzen, denn das würde nicht nur mich, sondern in letzter Konsequenz auch Freddy in Erklärungsnot bringen.

Als die anderen applaudieren, sehe ich auf. Zum Glück habe ich mich einigermaßen im Griff und es fällt niemandem mein Gefühlschaos auf. Niemandem außer Freddy. Er reicht Patrick die Gitarre zurück und sieht zu mir rüber. Ein zaghaftes Lächeln liegt auf seinen Lippen, doch als ich es zu erwidern versuche, deutete er ein Kopfschütteln an und presst die Lippen aufeinander, als ob er sagen wollte: Das war das letzte Mal.

 

vorheriges Kapitel                                                                               nächstes Kapitel

Kommentar schreiben

Kommentare: 0