Kapitel 39 - So leer

Freddy

Hi Freddy, kannst du mir neue Sticks besorgen? Schaffe es nach der Schule leider nicht mehr. Geb dir das Geld dann nachher bei der Probe. LG

An Joshies Nachricht ist ein Link angefügt zu den Drumsticks, von denen ich weiß, dass wir sie hier im ProTone vorrätig haben. Ich antworte mit einem Daumen hoch und stecke das Handy mit leisem Seufzen zurück in die Hosentasche, ehe ich meine Mittagspause beende. Noch knapp vier Stunden bis Feierabend. Bis zur Bandprobe. Die Probe für das Konzert. Für das ich noch immer nicht abgesagt habe. Obwohl mich der Gedanke daran mit jedem Tag mehr quält, besonders seit ich wieder zurück in Hamburg bin und sehe, wie schlecht es meiner Mutter geht, und wie sehr Finn unter allem leidet. 

Ich bekomme es einfach nicht geschissen, der Band zu sagen, dass ich das alles nicht mehr kann, dass ich an anderer Stelle gebraucht werde.

 

Ich bin so ein verdammter Feigling.

 

Kaum bin ich zurück im Verkaufsraum, betritt ein Typ in meinem Alter den Laden und steuert zielstrebig auf den Ständer mit den Saiten für Gitarren und Bässe zu. Er scheint genau zu wissen, was er braucht, denn nur eine knappe Minute später legt er zwei Sets Gitarrensaiten vor mir auf den Tresen. Vernickelte, dicke Stahlsaiten, gute Marke, ich sehe kurz von den Saitensets zu dem Typen auf. Langer dunkler Zopf und eine aufwändige Tätowierung, die aus seinem Jackenärmel bis aufs Handgelenk kriecht. Ein Metaler, vermute ich.

 

„Kann ich noch etwas für dich tun?“, frage ich ihn, sobald ich die Saiten über den Scanner gezogen habe.

 

Der Typ nickt. „Kann ich ein Plakat für unser Konzert bei euch aufhängen?“

 

Ich schaue an das Schwarze Brett neben dem Eingang, wo sich Suche-/Biete-Zettel neben Plakaten für Konzerte und Workshops tummeln. Sven und ich müssten dringend mal wieder aufräumen.

 

„Klar, wenn du noch einen Platz findest“, sage ich und reiche ihm ein Päckchen mit Reißzwecken.

 

Der Typ zieht seinen Rucksack von der Schulter, reicht mir das Geld für die Saiten und zieht ein zusammengerolltes Plakat hervor, das er auf dem Tresen ausbreitet, während ich das Wechselgeld zusammenzähle. Schwarze Buchstaben mit unscharfen Konturen bilden einen Namen, der über fünf Männern in düsterer Moorlandschaft steht. Mooor Sacrifice. Offenbar lag ich richtig mit meiner Vermutung, was die Musikrichtung angeht.

 

„Death Metal?“, frage ich, um sicherzugehen.

 

Seine Augen weiten sich. „Ja. Spielst du auch?“

 

„Gitarre, ja. Aber Indie-Rock, kein Metal.“ Und eigentlich höre ich auf, füge ich in Gedanken hinzu.

 

„Na, wenn du Bock hast, kannst ja trotzdem vorbeikommen.“ Er drückt mir eine Freikarte in die Hand und ich lese das Datum. 9. Februar. Ein Tag vor unserem Konzert. Vor dem Konzert, bei dem ich nicht mitspielen sollte.

 

„Danke. Mal schauen. Hab gerade ziemlich viel um die Ohren“, sage ich und gebe mich kurz der Hoffnung hin, er könnte es nicht sofort als das Nein interpretieren als dass es gemeint ist.

 

„Na, dann lohnt sich das Konzert umso mehr. Ich sag dir, Death Metal ist das beste, um jeden Scheiß für einen Moment zu vergessen“, erwidert er und geht mit dem Plakat und den Reißzwecken zum Schwarzen Brett, sodass er mein kurzes Nicken nicht sehen kann.

 

„Also, ich würd mich freuen“, sagt er kurz darauf, als er das Päckchen mit den Reißzwecken zurück zum Tresen bringt. Er deutet ein Winken an und verlässt das ProTone. Vergessen klingt verlockend. Aber Death Metal ist echt nicht meins.

 

Irgendetwas stimmt nicht.

 

Ich weiß es in dem Moment, in dem ich die Wohnungstür aufschließe und den Flur betrete, doch noch kann ich nicht genau sagen, was es ist. Erst als ich im Wohnzimmer beinahe über Finns Schultasche stolpere und meinen Bruder durch die geöffnete Zimmertür auf dem Boden unseres Zimmers knien sehe, schwant mir etwas. Ich gehe näher, bleibe an der Türschwelle stehen und schaue auf Finn, der Klamotten aus dem Schrank in eine Reisetasche legt. Mein Mund ist mit einem Mal trocken.

 

„Finn? Was machst du?“

 

„Ich packe, siehst du doch“, sagt er und stopft ein paar Boxershorts in ein Seitenfach der Tasche.

 

„Ja, aber wieso? Gehst du wieder zu Anton?“ Er war so lang bei seinem besten Freund, vielleicht hat er Finn eingeladen, noch länger zu bleiben. In zwei Wochen würde er ja ohnehin wieder zu ihm gehen, wenn ich zum letzten Mal nach Bayern muss.

Mein Bruder legt seine Basketballklamotten oben auf seine T-Shirts und schließt den Reißverschluss der Tasche, ehe er mich fest ansieht und schließlich sagt:

 

„Nein. Ich ziehe zu … Papa.“

 

Ich taumle gegen den Türrahmen, starre von der Reisetasche zu meinem Bruder und versuche die Worte zu begreifen, die gerade aus seinem Mund gekommen sind. „Zu Lennart?“

 

Das kann er nicht ernst meinen!

 

„Du weißt schon, dass er uns hängen gelassen hat?“

 

Finn zuckt mit den Schultern. „Ich weiß, aber er will es wieder gut machen.“

 

Ich schnaube verächtlich. Das, was Lennart unserer Familie angetan hat, ist nicht wieder gutzumachen. „Jetzt? Nach all den Jahren? Wie kommst du darauf?“

 

„Er meint es ernst“, sagt Finn statt einer richtigen Antwort auf meine Frage. „Er hat schon den Beitrag fürs Camp in den Osterferien bezahlt und er kommt seit Dezember zu allen Spielen.“

 

„Was für ein Camp? Wieso hast du …“

 

„Was? Nichts gesagt?“, ruft Finn. Er senkt den Blick, schüttelt den Kopf und schultert die Reisetasche. „Du hattest doch eh keine Zeit zum Zuhören.“

Er schiebt sich an mir vorbei ins Wohnzimmer, wo er nach seiner Jacke greift, die über der Stuhllehne hängt.

 

„Und was ist mit Mama?“

 

„Sie weiß Bescheid, sie ist einverstanden.“

 

Mama weiß es. Wie lang schon? Wieso hat sie nicht wenigstens etwas gesagt? Warum sind wieder einmal hinter meinem Rücken Dinge entschieden worden, als ob sie mich nicht betreffen würden? Heiße Wut lodert in mir auf, verliert aber sofort wieder an Kraft, sodass es mir kaum gelingt, den Arm nach Finn auszustrecken.

 

„Bitte, Finn, überleg es dir nochmal. Lennart war noch nie verlässlich.“

 

Er sieht mich an. Zögert er oder ist das nur Wunschdenken? Ehe ich zu einem Ergebnis kommen kann, klingelt es und Finn greift nach seiner Schultasche.

 

„Da ist er. Ich muss los.“

 

Wie im Film sehe ich ihn mit seinem Gepäck in den Flur gehen, die Tür öffnen. Auf der Schwelle wendet er sich noch einmal kurz um, lächelt halb, wie wir es immer tun, dann zieht er die Tür hinter sich zu.

 

Ich stehe wie festgewachsen neben dem Esstisch und starre auf die Tür, warte darauf, dass sie sich wieder öffnet. Aber nichts passiert. Die Wohnung ist ruhig, nein still. Still und leer. Ohrenbetäubend still und erdrückend leer. Mama ist weg. Finn ist weg. Ich habe versagt. Die Erkenntnis nimmt mir die Kraft und ich sinke neben dem Tisch auf den Boden, strecke alle Viere von mir, schließe die Augen und warte darauf, dass mich die Leere verschlingt.  

 

Der Weg zu Mamas Krankenzimmer kommt mir kürzer vor als sonst.

 

Zum ersten Mal will ich nicht, dass er endet, sondern wünschte, der Flur läge noch ein Stockwerk höher, wäre noch zwanzig Meter länger. Aber jetzt stehe ich hier vor der breiten Tür und muss mich zwingen zu klopfen.

Meine Mutter liegt im Bett, ein Buch in den Händen, und sieht auf, als ich das Zimmer betrete. Doch sobald sie mein Gesicht sieht, verschwindet der Hauch eines Lächelns, das eben noch kurz auf ihren Lippen lag.

 

„Hallo Freddy“, sagt sie leise.

 

Liegt es eigentlich an Krankenhäusern, dass man ständig flüstert? Ich habe jedenfalls keine Lust, meine Stimme zu senken.

 

„Warum lässt du das zu?“, frage ich ohne jede Vorrede.

 

Mama schließt die Augen und seufzt, natürlich weiß sie, wovon ich rede. Sie greift nach meiner Hand, doch ich ziehe sie weg.

„Glaub nicht, dass mir das leicht gefallen ist. Aber ich schaff das nicht alles, die Schmerzen, die Chemo, die Sorge, was aus euch werden soll …“

 

Kalte Angst schließt sich wie eine Faust um mein Herz. Angst, die ich nicht will, die ich nicht brauchen kann, weil sie meine Wut betäuben könnte. Wut, die mir die Kraft gibt, überhaupt hier zu sein.

 

„Ich bin doch da“, presse ich hervor. „Für dich, für Finn. Stattdessen vertraust du Finn diesem Wichser an, der sich die letzten Jahre einen Scheiß für ihn interessiert hat.“

 

Mama zieht bei meinem Fluch die Stirn in Falten, sagt aber nichts dazu. Sie seufzt nur. „Trotzdem bleibt Lennart sein Vater. Und wenn Finn ihn jetzt besser kennenlernen möchte, kann ich ihm das nicht verbieten.“

 

Ich drehe mich zum Fenster um, schaue in das regentrübe Grau und balle in den Hostentaschen die Hände zu Fäusten. Sie hätte es verbieten können, schließlich ist Mama allein sorgeberechtigt. Oder hat sie das auch schon ändern lassen?

 

„Warum hast du mir nichts gesagt?“

 

„Finn wollte es dir selbst sagen.“

 

Ich halte mich reflexartig an der Fensterbank fest, weil ich plötzlich das Gefühl habe, als würde der Boden unter mir sich in Luft auflösen. Finn hat nicht mit mir gesprochen, er hat mich vor vollendete Tatsachen gestellt.

„Fuck.“ Ich schlage mit der Faust aufs Fensterbrett.

 

„Freddy, bitte. Das ist doch nicht für immer.“

 

Ich schüttle den Kopf. Vielleicht glaubt Mama das, vielleicht hofft sie es. Vielleicht hat sie sogar recht und Finn kommt tatsächlich früher oder später wieder zurück. Aber der Graben, der sich gestern aufgetan hat, als mein Bruder gegangen ist, wird bleiben. Für immer.

 

Vor dem Wohnzimmerfenster hängt Nebel oder irgendein anderer Dunst. Schwer zu sagen, ob es Vormittag oder Abend ist. Spielt aber auch keine Rolle.

 

Ich habe keine Ahnung, wann ich zuletzt aufgestanden bin oder geduscht habe.

 

Auch das ist egal. Ich wünschte, ich könnte in einen endlosen Schlaf verfallen, in dem ich nicht diese verdammte Wohnung sehen muss, die ich schon so lang kenne, und die mir trotzdem fremd geworden ist. Aber ein quälendes Ziehen in meinem Bauch hält mich davon ab, wieder einzuschlafen. Ich muss etwas essen. Meine Muskeln protestieren, als ich aufstehe, im Gegensatz zu mir schlafen sie wohl noch immer. Im Kühlschrank liegt nur noch eine halbe, verschrumpelte Gurke im Gemüsefach, und ich erinnere mich dunkel, dass ich irgendwann hatte einkaufen wollen. Das werde ich jetzt wohl tun müssen. Ich schlüpfe also in Schuhe und Jacke, schultere meinen Rucksack und gehe die paar Meter zum Supermarkt an der Ecke. Als ich meine Einkäufe, hauptsächlich bestehend aus Tiefkühlpizza, kurz darauf in der Küche auspacke, fällt mir ein Stück Papier in die Hände.

 

Mooor Sacrifice. 9.02. 20 Uhr.

 

Das Metal-Konzert hatte ich schon vergessen. War mir ja auch egal. Aber während die Salami-Pizza im Ofen backt, fällt mir ein, was der Typ im ProTone neulich gesagt hat.

 

Death Metal ist das beste, um jeden Scheiß für einen Moment zu vergessen.

 

Was, wenn es stimmt? Mir ist gerade jedes Mittel recht. Ich weiß nicht, wann ich mein Handy zuletzt in der Hand hatte, und es dauert, bis ich es unter dem Sofa finde, mit totem Akku. Nachdem ich es angeschlossen und wieder eingeschaltet habe, hört es gar nicht mehr auf zu bimmeln. 23 Anrufe in Abwesenheit. 146 Nachrichten. Scheiße. Ich schalte das Smartphone wieder aus, ohne mir auch nur eine der Nachrichten anzusehen. Es gibt genug Scheiß, den ich vergessen will. Auf zusätzlichen Mist kann ich gut verzichten. Immerhin weiß ich jetzt, dass es der 9. Februar ist. Ich schlinge die Pizza herunter und mache mich auf den Weg in die Stadt.

 

Der Club ist nur spärlich beleuchtet, es ist stickig und ziemlich voll.

 

Die Leute, die sich vor der Bühne tummeln sehen dem Typ, dem ich die Gitarrensaiten verkauft habe, sehr ähnlich und erfüllen fast alle gängige Metal-Klischees. Lange, oft sehr glatte Haare, Tätowierungen und schwarze T-Shirts mit Aufdrucken, die ich in dem diffusen Licht nicht richtig erkennen kann. Ich muss auffallen wie ein bunter Hund. Aber noch bevor ich mir darüber Gedanken machen kann, geht das Licht aus und nur eine Sekunde später hämmern eine Basedrum, Trommelwirbel und aggressive Gitarrenriffs auf mich ein. Die Typen und ein paar Mädels um mich herum bewegen sich sofort im wilden Takt hin und her, werfen die Arme in die Luft, während der Frontman ins Mikro shoutet. Es ist verdammt laut. Die Schallwellen drücken unbarmherzig auf meine Ohren, meinen Brustkorb und in meine Magengrube. Lichtblitze zucken in aberwitziger Geschwindigkeit von links nach rechts, kreisen um meinen Kopf.

 

Keine Ahnung, worum es in den Songs geht, ich verstehe kein Wort. Ist auch egal. Ich folge den Bewegungen der Leute um mich herum, versuche, meine Atmung anzupassen, an den Druckwellen vorbei, bis sich ein Pfeifen wie Watte um mich legt.

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