Kapitel 30 - Noah ohne Hammond

Noah

Es ist spät, als ich wieder nach Hause komme. Wir haben heute im Studio noch einmal alles gegeben, um die Chöre für weitere Songs einzusingen und noch das eine oder andere Solo aufzunehmen. Gut zwölf Stunden im Studio. Dass es draußen wohl ein schöner Tag war, lässt sich nur noch an der warmen Fassade unserer Villa erahnen. Wahrscheinlich wäre es auch im Garten noch ganz schön, aber als ich Dad auf der Terrasse telefonieren sehe, mache ich gleich wieder kehrt. 

Auch wenn unser Garten groß genug ist, um ihm aus dem Weg zu gehen, bin ich nicht scharf darauf, in seiner Nähe zu sein. Seit ich mit Mum nach Brighton zu Marble gefahren bin, habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Und er nicht mit mir. Mir fehlt es nicht. Er hat ja wenn sowieso kein freundliches Wort für mich übrig.

 

Viel wichtiger ist, dass Marble wieder mit mir redet, weshalb mich mein Weg nach einem kurzen Abstecher in die Küche, zu ihrem Zimmer führt.

 

„Komm rein, Noah“, ruft sie auf mein Anklopfen hin.

 

„Woher wusstest du, dass ich es bin?“

 

Marble grinst mich an. „Mum ist noch unterwegs, und Dad …“

 

Sie spricht nicht weiter, aber ich weiß auch so, was sie meint. Dad hat es nicht einmal für nötig gehalten, zu ihr zu fahren, als sie in Brighton im Krankenhaus war. Unwillkürlich spannen sich meine Wangenmuskeln. Allein bei dem Gedanken, dass Dad nichts gesagt hat, verspüre ich den Wunsch, irgendetwas zu zerschlagen.

 

Marble klopft neben sich aufs Bett und ich lege mich neben sie. „Wie war’s im Studio?“

 

„Anstrengend. Wir mussten vor den Dreharbeiten alles noch fertigbekommen.“

 

„Freus du dich? Das is dein Song.“

 

Ich fahre mit dem Daumen am kühlen Hals der Limoflasche entlang, die ich aus der Küche mitgenommen habe. In den nächsten drei Tagen wird es nicht entspannter zugehen, wenn wir das Musikvideo zu Like a Mirror drehen. Marble sieht mich erwartungsvoll an und ich horche in mich hinein. Aber das, was ich fühle, ist keine Vorfreude.

 

„Nervös trifft es eher.“

 

„Traus dich nich?“, neckt sie mich und zwickt mich in den Arm. Obwohl es wehtut, entlockt sie mir damit ein Lachen.

 

„Das ist es nicht. Aber nach dem Scheiß, der mit Fiona passiert ist, müssen der Song und das Video einfach perfekt werden.“

 

Auch wenn nirgendwo ihr Name fällt und das Drehbuch für das Video sehr abstrakt bleibt, will ich doch, dass Kristina es als Botschaft versteht. Besonders nach diesem verdammten Kuss mit Fiona. Noch ein Grund, warum ich nicht gut auf Dad zu sprechen bin. Er hätte die Szene rausschneiden können. Stattdessen spekuliert jetzt die halbe Welt über eine Beziehung zwischen Fiona und mir. Ich an Kristinas Stelle hätte das wohl auch in den falschen Hals bekommen.

 

„Für wen is der Song?“, fragt Marble, bevor meine schlechte Laune wieder überhandnehmen kann.

 

„Für … ein Mädchen.“

 

Marble stöhnt. „Wie heißt sie?“

 

Ich zögere. Noch habe ich niemandem etwas erzählt. Andererseits ist auf Marble Verlass, sie würde mich niemals verpetzen. „Kristina. Sie spielt Klavier in einer deutschen Indie-Band.“

 

„Woher kennt ihr euch?“

 

Ich fahre mir mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen. Marble zieht eine Schnute und sieht mich so lang durchdringend an, bis ich einknicke und ihr von unserem ersten Treffen erzähle. Den Kuss lasse ich jedoch aus. Ein bisschen muss ich auch für mich behalten dürfen.

 

„Is sie hübsch?“, bohrt Marble weiter. Verdammt, wie konnte ich vergessen, dass meine Zwillingsschwester sich so gut darauf versteht, mich nach allen Regeln der Kunst zu verhören? Ein Blick von ihr genügt, sodass ich mein Smartphone aus der Tasche ziehe, Instagram öffne und ihr erst Bilder vom offiziellen Escape-Account zeige und schließlich von Kristinas privatem Account.

 

Marble scrollt durch den Feed, öffnet ein Bild nach dem anderen und nickt. „Sie is hübsch. Aber sie is traurig.“

 

Als ob sie mir einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt hätte, fahre ich zusammen. „Was? Wie kommst du darauf?“

 

Marble hält mir das Handy hin, auf dem ein Foto leuchtet, das vor etwas mehr als einer Woche auf dem Escape-Profil gepostet wurde. „Sie guckt wie du.“

 

Und noch ein Eimer Eiswasser. Nicht genug, dass Marble auf dem Foto das gleiche sieht wie ich, sie hat auch mich völlig durchschaut. Ich nehme ihr das Smartphone aus der Hand und stecke es zurück in die Tasche.

 

„Sie hat neulich eine unschöne Begegnung gehabt, deshalb sieht sie unglücklich aus.“

 

Zumindest ist es das, was Kristina mir erzählt hat. Ich wüsste gern, was mehr dahintersteckt, auch wenn ich ihr zugesichert habe, dass sie mir nichts sagen muss, wenn sie nicht kann.

 

„Un wieso bis du traurig?“

 

Eine einfache Frage. Grundheraus. Ehrlich. Typisch Marble. Mein Herz verkrampft sich, während mir gleichzeitig Tränen in die Augen schießen.

„Weil ich sie nicht haben kann. Nicht so, wie ich gern würde.“

 

„Wie wills du sie haben?“

 

Ich versuche mich an einem Lächeln, aber es verrutscht schon auf der Hälfte, weil allein die Vorstellung wegen ihrer Unerreichbarkeit schmerzt. „Ich will mit ihr sprechen, ohne Angst zu haben, belauscht zu werden. Ich will sie besuchen, ohne dämlichen Klavierunterricht als Ausrede benutzen zu müssen. Ich will sie küssen und in den Arm nehmen, ohne Sorge zu haben, wer das mitbekommt. Mit ihr irgendwo Pizza essen oder ins Kino gehen. Ich will einfach eine ganz normale Beziehung mit Kristina.“

 

Marble rückt ein Stück näher an mich heran und legt ihren Arm um mich. Schließlich fliegt ein Grinsen über ihr Gesicht. „Du bis voll verknallt.“

 

„Ja.“ Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen, aber ich lasse Marbles Satz erstmal so stehen.

 

„Dann sag ihr das doch. Fahr sie besuchn.“

 

Ich lache auf. Von Marble klingt das so einfach. Als ob da nicht mein beknackter Vertrag, tausend Paparazzi, Social Media und nicht zuletzt Dads Ansprüche wären.

„Du sagst das so, als wäre das alles kein Problem.“

 

„Is es nich“, bestätigt sie. „Einfach machn. Wird schon gutgehn.“

 

Sie drückt mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Und als ob sie damit eine Portion ihres unerschütterlichen Optimismus auf mich übertragen würde, fühle ich mich ein wenig leichter.

 

„Danke. Ich liebe dich, Marble.“

 

„So wie Kristina?“

 

Mit gespielter Empörung boxe ich ihr sanft in die Rippen. „Du bist unmöglich.“

 

Der Druck in meiner Brust wird stärker und stärker, bis ich keuchend nach Luft schnappe.

 

Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich den Atem angehalten habe, seit ich Kristina eine Nachricht geschickt habe. Es ist kurz vor Mitternacht, in Deutschland also eine Stunde später. Eher unwahrscheinlich, dass ich innerhalb der nächsten Minuten, vermutlich sogar Stunden, eine Antwort darauf erhalte, ob ich Kristina besuchen darf. Trotzdem liege ich auf meinem Bett und starre wie hypnotisiert auf das Display. Ich habe keine Klavierstunde vorgeschoben. Nach unserem Telefonat gestern Abend habe ich mir insgeheim vorgenommen, nur noch ehrlich zu Kristina zu sein, und die Wahrheit ist, dass sie recht hat.

 

Mir ist das Klavier komplett egal, außer in den Momenten, wenn sie es zum Klingen bringt. Ich will Kristina. Ihre Nähe, physisch, aber vor allem auch seelisch. Dieses Gefühl, verstanden zu werden, wertvoll zu sein. Nicht der Noah Hammond sein zu müssen, sondern einfach Noah sein zu dürfen. Noah, der …

 

Ja, was eigentlich? Was bleibt von mir noch übrig, wenn ich nicht Noah Hammond bin?

 

Das Display vor mir wird schwarz und verschwindet in der Dunkelheit meines Zimmers. Ich atme schneller, schalte das Display wieder ein. Das helle Licht sticht mir in die Augen, während ich hastig den Bildschirm entsperre und meine Fotogalerie öffne. Bilder aus dem Studio, von Andy, Suma und Liam, von mir allein und von uns zusammen. Hotelzimmer, Fernsehstudios, Radiosender. Wenn es nicht angezeigt würde, hätte ich keine Ahnung, wo ich die Bilder aufgenommen habe. Wieso habe ich sie überhaupt gemacht? Ist nicht so, als wären die Studios besonders interessant oder die Hotelzimmer über die Maßen hübsch eingerichtet. Ich tippe die Bilder an und klicke auf Löschen.

 

463 Bilder gelöscht.

 

Was übrig bleibt ist ernüchternd. Ein paar Bilder von Marble und die Fotos, die Kristina und ich uns zu unseren Tages-Challenges hin und her geschickt haben. Coladosen, Backstagepass, Regentropfen, Schnürsenkel und Filzstiftkappen. Wow. Selbst in diesen Bildern steckt mehr Hammond als Noah.

 

Schluckend schließe ich die Galerie und wechsle zu Tiktok, wo ich wahllos durch die Videos scrolle, bis ich bei Eichhörnchen hängen bleibe. Ich schaue zu, wie sie Bäume rauf und runter flitzen, auf Balkonen Nüsse in Pflanzkästen verbuddeln, sich neugierig auf Terrassen umschauen oder ihre Nasen in Blütenkelche stecken. Das ist niedlich und beruhigend zugleich.

 

Mitten über das Video von einem Eichhörnchen, das jemandem eine Walnuss aus der Hand frisst, schiebt sich eine neue Nachricht und ich richte mich ruckartig auf.

 

Würde dich auch gern sehen, aber unser Plan ist so voll die nächsten Tage. Hab nie mehr als zwei Stunden Zeit.

 

Ein weinender Smiley folgt Kristinas Nachricht, trotzdem macht mein Herz einen Hüpfer. Sie hat geantwortet, und noch viel besser; sie will mich sehen. Mein Blick fällt auf die Zeitanzeige. 4:36 Uhr.

 

Fuck, habe ich tatsächlich die ganze Nacht hier gelegen und Eichhörnchen-Videos geguckt? In zwei Stunden ist Abflug Richtung Cardiff zum Videodreh und ich habe kein bisschen geschlafen. Von Kristina zu hören setzt in mir jedoch ausreichend Adrenalin frei, sodass es sich fast so anfühlt, als wäre ich hellwach.

 

Ich komme auch für zwei Stunden, schreibe ich. Wenn du es willst.

 

Keine Ahnung, wie, aber irgendwie muss ich das schaffen. Das Handy fest umklammert

Lasse ich mich zurück aufs Kissen fallen. Marble hatte unrecht. Ich bin nicht verknallt. Ich bin verzweifelt. Aber vielleicht liegt beides auch gar nicht so weit auseinander.

 

Auf den Tragflächen des Flugzeugs leuchtet hellgelb die Abendsonne.

 

Zwischen den Wolkenfetzen erkenne ich Häuser, einen Fluss. Ist das schon die Elbe? In zwanzig Minuten lande ich in Hamburg. Könnte also hinkommen. Allerdings ist auf mein Hirn nur wenig Verlass. Ich bin so unfassbar müde. In den vergangenen drei Tagen habe ich kaum fünf Stunden am Stück geschlafen, dafür literweise Kaffee getrunken, sodass bei einer Blutabnahme wahrscheinlich schwarzer Kaffee in die Kanülen fließen würde. Genützt hat es nichts. Wenn ich gleich bei Kristina ankomme, werde ich in vermutlich in ihren Armen einschlafen, was vielleicht ein bisschen peinlich ist. Ich kann mir trotzdem nichts Schöneres vorstellen.  

 

Obwohl der Hoodie viel zu warm ist, ziehe ich mir nach der Landung zusätzlich zum Basecap noch die Kapuze über und schaffe es so ohne erkannt zu werden zum Taxistand. Während der Fahrt massiere ich mir unablässig die Ohrläppchen, um nicht einzuschlafen.

 

„Hier sind wir“, verkündet der Fahrer schließlich, als ich fast schon Löcher in meine Ohren massiert habe. Er zeigt auf ein flaches Gebäude, das von der Straße ein Stück zurückspringt und hinter der recht schmalen Einfahrt nur teilweise zu erkennen ist.

 

„Danke.“ Ich bezahle, zögere aber noch, auszusteigen. Kristina hat mich zu ihrem Proberaum bestellt, mit dem Hinweis, dass Escape bis heute Abend probt. Sind sie schon fertig?

 

Der Taxifahrer sieht mich erwartungsvoll an. „Alles in Ordnung?“

 

Rasch schaue ich aufs Handy.

 

Probe vorbei. Bin allein 😉

 

Ich strecke die Hand nach dem Türgriff aus. „Alles super. Danke.“

 

Kristina steht in der offenen Tür und lächelt mich an. Nein, es ist mehr als ein Lächeln. Freude, Erleichterung, Verlangen, all das in einem Blick. Und obwohl ich es kaum erwarten kann, sie in meine Arme zu schließen, warte ich doch, bis ich eingetreten bin und die graue Tür hinter uns ins Schloss fällt.

 

Sobald sie mich an sich zieht und ich meinen Kopf auf ihre Schulter lege, die Arme eng um ihren Oberkörper geschlungen, fühle ich mich ungefähr zwanzig Kilo leichter.

 

Durchatmen war noch nie so leicht wie hier in ihrer Gegenwart.

 

An Kristina klebt der Geruch von Pizza, Zigarettenrauch und Schweiß. Eine Kombi, die ich nur zu gut kenne. Aber dazwischen hängt noch ein fruchtiger Hauch einer Bodylotion. Ich sauge diesen Duft tief in meine Lungen und drücke meine Lippen sanft auf ihren Hals.

 

Langsam zieht Kristina mir die Kapuze vom Kopf. „Schön, dass du hier bist.“

 

„Es tut so gut, dich zu sehen.“

 

Sie nimmt meine Hand, zieht mich den Flur entlang in den Proberaum, wo alles so aussieht, als sei der Rest der Band gerade erst gegangen – oder würde jeden Moment wiederkommen. Ich sehe mich um. Aber außer Kristina und mir ist niemand hier. Die Verstärker sind alle abgeschaltet, auch das Mischpult leuchtet nur im Stand-By-Modus. In einer Ecke stehen zwei breite gepolsterte Stühle, daneben liegt ein riesiger Sitzsack auf dem Boden. Kein Vergleich zu Doms durchgestyltem Proberaum, aber mir gefällt es. Wobei, mir würde im Moment so ziemlich jeder Ort recht sein, solang Kristina meine Hand hält.

 

„Magst du etwas trinken? Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee oder so gebrauchen.“

 

Ich lache gequält. „Besser nicht, mein Körper besteht schon zu neunzig Prozent aus Kaffee.“

 

„So schlimm?“ Sie sieht mich mitleidig an. Während der Dreharbeiten in den letzten Tagen blieb kaum Zeit, Kristina zu erzählen, wie es läuft, aber sie ahnt es wohl, und so nicke ich nur.

 

„Jetzt bist du ja hier“, sagt sie und zieht mich in eine weitere Umarmung.

 

„Danke, dass du mich noch sehen willst. Es tut mir leid, was in der Sendung meines Vaters passiert ist.“

 

Kurz flackert Schmerz in ihren Augen auf und in ihren Mundwinkeln zuckt es, aber dann schüttelt sie sanft den Kopf. „Du brauchst dich nicht noch einmal zu entschuldigen.“

 

„Ich weiß, aber ich wollte es dir gern persönlich sagen und dir dabei in die Augen sehen.“

 

Sie erwidert meinen Blick ohne zu blinzeln. Wir kommen einander näher, bis unsere Lippen sich treffen und wir uns endlich, endlich küssen. Vorsichtig, tastend, als ob es das erste Mal wäre. Aber es ist schnell wieder vertraut. Ihre Zunge stupst sanft gegen meine, meine Hand wandert an ihrem Rücken unter ihr Top. Sie drückt sich enger an mich.

 

„Oh, sorry.“

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