Kristina

Im Bus herrscht mehr Gewusel als sonst. Dauernd läuft einer von uns von oben nach unten, von hinten nach vorn und wieder zurück. Ben checkt alle zwanzig Minuten den Wetterbericht und gibt ihn an uns weiter. Leicht bewölkt, 25 Grad. Freddy lehnt neben Judith, hat seine E-Gitarre auf dem Schoß und übt ein Gitarrensolo, wobei ich mir sicher bin, dass er schneller spielt als in den Proben. Aber ich sage nichts dazu. In meinen Ohren läuft Beethovens viertes Klavierkonzert. Mark und Tommy, die für unseren Merch-Verkauf zuständig sind, stellen sich immer absurdere Kopfrechenaufgaben.
„Dreißig mal neunundzwanzig fünfundneunzig“, ruft Tommy und übertönt damit das Crescendo des Orchesters in meinen Kopfhörern.
Ich kann nicht anders, ich fange selbst an zu rechnen.
Dreißig mal dreißig sind 900. Minus dreißig mal null Komma null fünf. Keine Ahnung. Was mache ich hier?
„Leute, hört auf mit dem Scheiß. Erstens haben wir nur runde Preise und zweitens wird niemand einen Klassensatz T-Shirts kaufen.“ Elisa, die dritte im Merch-Team, kommt hinter Johnny den Gang entlang und zieht eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank. Sie trinkt einen Schluck, bietet auch Johnny die Flasche an. Er nimmt sie und streichelt dabei ihren Handrücken. Beinahe schüchtern lächeln sie sich an.
Ich verstehe nicht ganz, was da zwischen den beiden ist. Johnny ist backstage oft mit der Crew beschäftigt, was aber niemand von uns hinterfragt, schließlich ist das sein Verantwortungsbereich. Aber was ist mit dem Kuss, den Joshie neulich beobachtet hat? Eine einmalige Sache? Oder wollen sie es nicht offen zeigen, was sie füreinander empfinden? Die zarte Berührung und die Tatsache, dass Johnny ohne weiteres aus Elisas Flasche trinkt, zeigen doch, dass da mehr ist als nur ein kollegialer Kontakt. Oder?
Ich schaue aus dem Fenster und versuche, meinen Fokus von meinen Gedanken zurück auf die Musik zu lenken. Es geht mich nichts an, ob und was für eine Beziehung Johnny und Elisa haben oder nicht haben. Solange es beiden damit gutgeht. Er redet mir in meine Beziehung mit Noah nicht rein, also lasse ich auch ihn sein Ding machen.
Noah.
Was würde ich dafür geben, wenn ich ihn sehen könnte. Ihn berühren, und wenn auch nur so flüchtig, wie die Geste zwischen Elisa und Johnny. Aber er steckt mitten in Promo-Terminen und ich bin auf dem Weg zum Festival.
Ich hüpfe auf meinem Platz auf und ab. Ablenkung ist zwecklos. Wir spielen unser erstes Festival und ich bin genauso nervös wie der Rest der Band. Zwar haben wir bei Hallen- oder Clubkonzerten auch Zeitpläne einzuhalten, aber auf dem Festival ist alles noch viel enger getaktet. Zwischen dem Auftritt der Band vor uns und unserem Slot liegt nur eine halbe Stunde. Dreißig Minuten, in der wir aufbauen und Soundcheck im wahrsten Sinne des Wortes über die Bühne bringen müssen. Und das, während die Leute schon zusehen und -hören.
Johnny, der durch seine Ausbildung als Veranstaltungstechniker immerhin Backstage-Festival-Erfahrung hat, ist während der vergangenen Probentage nicht müde geworden, uns einzuschärfen, dass wir tip top vorbereitet sein müssen. Er ist gestern Abend und sogar heute Morgen noch einmal unser Equipment durchgegangen und hat gecheckt, ob wir alles haben.
Um die fiese Stimme zu übertönen, die mir dennoch Zweifel einreden will, schreibe ich Noah eine Nachricht. Wer weiß, ob ich im Laufe des Tages noch dazu komme?
Wir sind noch nicht mal auf dem Festivalgelände und ich bin jetzt schon nervös.
Es tut gut, es auszuschreiben. Jedes Gefühl hat Berechtigung.
Lampenfieber darf sein.
Noch besser geht es mir, als Noah kurz darauf zurückschreibt.
Du wirst definitiv mehr Spaß haben als ich heute. You’ll rock!
Er schickt ein Foto von einer Garderobe. Kamm, Haarspray, Make-Up vor einem hell erleuchteten Spiegel, im Hintergrund eine Kleiderstange mit verschiedenen Outfits. Mir entfährt ein mitleidiges Seufzen. Noah hat mir von dem Fotoshooting mit einem internationalen Musikmagazin erzählt.
Ich schick dir Festival-Vibes, verspreche ich. Ob ihn das aufheitert?
Es ist noch immer leicht bewölkt und angenehm warm, als wir auf dem Festivalgelände ankommen. Laut Bens fünf verschiedener Wetter-Apps soll das auch so bleiben. Daran wird es also nicht scheitern.
Da wir ausreichend Zeit haben, erkunden wir erstmal das Festivalgelände. Es gibt laut Plan zwei Bühnen, auf denen auch jetzt schon Programm ist, Zelte, in denen Workshops stattfinden, dazwischen Foodtrucks, Hüpfburgen und eine Kletterwand, weiter hinten das Campinggelände, auf dem Zelte in allen möglichen Farben leuchten.
„So’n bisschen Bock auf Zelten hätte ich ja schon“, sagt Freddy und sieht etwas verträumt in die Ferne. „Ich war noch nie campen.“
„Wenn du das nachher auf der Bühne verkündest, hast du garantiert 120 Übernachtungsangebote“, kommt es lässig von Joshie.
Judith stößt einen dramatischen Seufzer aus. „Und ich bekomme dann heute Nacht einen Anruf, dass der kleine Freddy aus dem Campingparadies abgeholt werden möchte.“
Freddy stürzt sich lachend auf sie. Ein heißer Schmerz sticht mir in die Brust und ich schaue schnell in die andere Richtung.
Zum Glück lenken mich schon kurz darauf Fans ab, die uns ansprechen und Fotos mit uns machen wollen. Eine von ihnen trägt ein Escape-T-Shirt.
„Wow, das ist ja noch aus unserer ersten Kollektion“, sagt Ben anerkennend. „Davon hatten wir, glaube ich, nur fünfhundert Stück gedruckt.“
„Ich hab vor zwei Jahren meine Cousine in Hamburg besucht und sie hat mich auf eins eurer Konzerte mitgenommen. Da hab ich es gekauft“, erzählt das Mädel stolz.
„Cool, ist deine Cousine heute auch mit dabei?“, frage ich und sehe die anderen Mädchen aus der Gruppe fragend an. Aber die schütteln den Kopf.
„Nein, ihre beste Freundin heiratet heute.“
„Okay, der Grund ist gut genug, um ein Festival zu verpassen“, sagt Ben gönnerhaft. „Wir haben einen Haufen neue T-Shirts mit dabei. Da kannst du ihr zum Trost eins mitbringen.“
„Das mach ich“, erwidert sie lachend. Dann verabschieden sie und ihre Freunde sich, um zu einem der Workshops zu gehen, und wir setzen unseren Weg über das Gelände fort. Tommy und Mark entdecken die Merch-Stände und bleiben mit Elisa gleich da, um sich mit den Leuten dort zu besprechen.
Wir kommen an den riesigen Hüpfburgen vorbei, eine davon tatsächlich in Form einer mittelalterlichen Ritterburg, und auch hier ist schon gut etwas los. Die Leute springen ausgelassen auf und ab, lassen sich auf die bebenden Luftkissen fallen, lachen.
In meinem Bauch kribbelt es.
Wann war ich das letzte Mal auf einer Hüpfburg?
Allein, dass ich mir die Frage stelle, ist eigentlich Antwort genug. Einfach mal wieder Kind sein, dem Stress davonhüpfen …
„Vergiss es. Keine Knochenbrüche vor der Show.“ Johnny hält mich am Arm und erst jetzt bemerke ich, dass ich schon halb auf dem Teppich vor der Gummiburg stehe, wo die anderen Besucher ihre Schuhe abgelegt haben.
„Ich habe mir noch nie etwas gebrochen“, sage ich entrüstet.
„Irgendwann ist immer das erste Mal“, hält Johnny dagegen. „Und es wäre scheiße, wenn es ausgerechnet heute wäre.“
Seit wann ist Johnny so verdammt vernünftig? Insgeheim muss ich ihm jedoch leider recht geben und belasse es bei einem sehnsüchtigen Blick auf die tobenden Festivalbesucher. Ehe ich den anderen folge, mache ich noch ein Foto und schicke es an Noah.
Wenn ich nicht zum Arbeiten hier wäre …
Er wäre bestimmt mit mir bis auf die Spitze der Hüpfburg geklettert. Eines Tages werden wir es tun, beschließe ich in diesem Moment. Wir werden frei sein und losgelöst.
Die Zeit bis zu unserem Auftritt vergeht wie im Flug. Wir tauschen uns mit den anderen Bands im Backstage aus, bekommen Anweisungen von der örtlichen Crew, gehen unsere Abläufe noch einmal durch. Schließlich haben wir noch ein Interview für den YouTube-Kanal des Festivals. Maike, die Moderatorin, hat sich gut auf uns vorbereitet und überrascht uns mit unseren Lieblingsgetränken.
„Und schon bist du unsere Lieblingsinterviewerin“, sagt Joshie und rührt mit dem Trinkrohr aus Metall zwischen den Eiswürfeln.
„Yeah, Ziel erreicht“, jubelt Maike. Das Eis ist gebrochen und so wird es trotz unseres Lampenfiebers eines der entspanntesten Interviews seit langem. Maike ist cool und locker drauf, so wie es dem Publikum, das uns auch hier zuschaut, gefällt. Aber sie wirkt dabei nicht überdreht oder anbiedernd. Sie rückt nicht näher an uns heran als notwendig, tätschelt nicht unsere Knie oder Schultern, wie wir es sonst schon oft erlebt haben, und sie sieht uns direkt in die Augen, wenn sie ihre Fragen stellt. Maike hat nicht Bock auf das Interview, weil es ihr Job ist. Sie hat Lust, uns kennenzulernen. Ich bin mir sicher, sie hätte uns auch Mate, Cola, Eistee und grünen Tee serviert, wenn niemand zusehen würde.
„Jetzt ist es nicht mehr lang bis zu eurem Auftritt“, sagt sie schließlich. „Wie ist der Lampenfieberpegel?“
Okay, bis eben war ich kurzfristig tiefenentspannt. Als ob Maike mit ihrer Frage einen Schalter umgelegt hätte, kickt das Adrenalin explosionsartig.
„Zwölf von zehn“, sage ich und die anderen nicken zustimmend.
„Oha, ich hoffe, das ist ein gutes Zeichen. Habt ihr ein bestimmtes Ritual kurz vorm Auftritt?“
„So zwanzig bis zehn Minuten vorher nimmt sich jeder Zeit für sich. Ich stell mir da immer den ersten Akkord vor, den ich spiele“, sagt Freddy.
„Ah, cool, damit der auf jeden Fall sitzt.“
„Genau, ich könnte den dann auch ohne Gitarre spielen.“
„Und habt ihr dann noch ein gemeinsames Ritual? Oder ist das geheim?“
„Nö, das nicht. Es ist nur ein bisschen albern“, sagt Joshie. „Wir stehen alle im Kreis und tun so als wären wir eine Silvesterrakete. Wir gehen in die Knie, klopfen uns auf die Beine und die Brust und atmen dabei so aus, als ob eine Zündschnur abfackelt, und dann springen wir gleichzeitig hoch und rufen Bang!“
„Das würde ich gern mal sehen“, sagt Maike schmunzelnd.
Ben räuspert sich. „Aus Gründen machen wir das nur für uns.“
Ganz für uns allein sind wir eine Stunde später natürlich nicht, als wir raketenmäßig neben dem Bühnenaufgang in die Höhe schießen. Aber unsere Backliner sind es gewöhnt und die Leute vom Festival haben vermutlich schon ganz anderes gesehen. Wir sind bereit für den Gig. Ein paar Leute vor der Bühne haben uns schon während des Change-Overs zugejubelt. Die anderen werden wir nun in der nächsten Stunde von uns überzeugen.
„Hier sind für euch Escape!“
Applaus, Jubel. Mein Puls schießt kurz in die Höhe. Im nächsten Moment laufe ich hinter Joshie die Stufen zur Bühne hoch, winke dem Publikum zu und stelle mich hinters Klavier.
Joshie gibt das Tempo vor und sobald ich den ersten Ton gespielt habe, fällt das Lampenfieber von mir ab. Die Musik durchströmt mich, übernimmt meinen Körper. Im Publikum entdecke ich einige Leute, die T-Shirts mit unserem Bandlogo tragen und schon ab dem ersten Takt hüpfen und klatschen. Ein wohliger Schauer jagt mir über den Rücken.
Es war eine gute Entscheidung Run als Opener zu nehmen. Zum zweiten Refrain ist der Großteil des Publikums mit dabei und rockt mit uns.
„Wow, das sieht gut aus“, ruft Freddy.
Wir gehen von Run direkt in den nächsten Song über. Won’t keep calm hat genau den Effekt, den der Titel verheißen lässt. Das Publikum hüpft einfach weiter. Ein paar Leute singen den Text sicher mit.
Ich fange Freddys Blick, seine Augen leuchten mit den Scheinwerfern um die Wette und das Lachen zieht sich über sein ganzes Gesicht. Auch meine Mundwinkel wandern immer weiter Richtung Ohren und meine Wangenmuskeln spannen sich. Es macht Bock, hier zu spielen. Ich bin voller Energie. Wir haben gute Laune, die Leute da vor der Bühne haben gute Laune, wir feiern zusammen die Musik. Es gibt nichts Schöneres.
„Okay, ihr macht das schon super mit dem Mitsingen“, ruft Freddy nach der zweiten Strophe. „Für alle, die noch nicht ganz textsicher sind, ihr braucht euch nur ein Wort zu merken, und das heißt burn.“
Unter den Fans, die diese Nummer schon kennen, brandet Jubel auf, während Freddy dem Publikum vorsingt, was es in den nächsten zwei Minuten zu tun hat. Joshie schlägt laut und vernehmlich die Basedrum, Ben, Johnny und ich beginnen den Loop und singen den Refrain. Freddy dreht die Gitarre auf den Rücken, zieht das Mikro aus dem Stativ und geht vor bis zu Bühnenkante.
„Burn, burn, burn“, singt er. „Burn, burn, burn. – Jetzt ihr!“
Der erste Versuch ist noch verhalten und kommt nur leise gegen den Mix in meinen InEars an. Freddy legt sich die Hand wie einen Trichter ans Ohr. Die Leute singen lauter. Freddy nickt, reckt die Faust in die Luft. „Burn, burn, burn.“
Die Masse folgt. Gleichzeitig verschwindet der Bass aus den InEars. Hat Johnny aufgehört zu spielen? Ich sehe zum anderen Ende der Bühne. Nein, seine Finger bearbeiten weiterhin die Saiten und er verzieht keine Miene. Offenbar hört er sich selbst noch. Im Gegensatz zu Ben, der sich nun auch verwirrt zu ihm umdreht.
Das Publikum skandiert weiter singend „Burn, burn, burn“ – uns bleibt also keine andere Wahl, als weiterzuspielen. Niemand vor der Bühne scheint etwas zu merken, oder stört sich zumindest nicht großartig daran.
Im nächsten Song, einer etwas ruhigeren Nummer von Ben, höre ich Johnnys Bass wieder. War vorhin wohl nur eine kurze Störung.
Das Bild, das sich mir bietet, ähnelt dem, das Johnny neulich an die Wand des Proberaums projiziert hat. Aber es ist noch besser. Es ist real. Ich schaue nicht darauf, ich bin ein Teil davon. Scheinwerfer und Sonne werfen wärmende Strahlen auf mein Gesicht, die Bässe vibrieren in meinem Bauch, es riecht nach warmem Gummi, Gras und Falafel. Vor der Bühne lauter entspannte, feiernde Menschen, die klatschen, sich im Takt hin und her wiegen. Und auch wenn wir es sind, denen das Publikum zujubelt, ich fühle mich nicht überlegen. Ich bin ein Teil von ihnen. Wir haben gemeinsam eine gute Zeit.
Everything is fine.
Der Gig vergeht wie im Rausch. Nach einer Stunde stehe ich mit den anderen vorn an der Bühnenkante, den Arm um Joshie gelegt, und verbeuge mich vor einem johlenden Publikum. Der Klangteppich begleitet uns, während wir in aller Eile unsere Instrumente abbauen und mit Hilfe der Stagehands Platz für die nachfolgende Band machen.
„Burn, burn, burn, it will burn, burn, burn“, singen ein paar Leute noch immer.
Neben dem Bühnenaufgang fallen wir uns in die Arme. Scheiß egal, dass uns unsere Klamotten schweißnass am Körper kleben und wir außer Atem sind. Die Arme eng um die Schultern gelegt, stecken wir die Köpfe zusammen, schauen auf unsere Schuhspitzen und halten uns einfach nur fest.
„Waahhh, geil!“, ruft Freddy schließlich. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nach einer schnellen Dusche schnappe ich mir mein Handy, um Noah wie versprochen ein paar Festivalbilder zu schicken.
Im Nachrichteneingang leuchtet eine neue Mitteilung. Mein Blickfeld verengt sich, der Backstage um mich herum verschwimmt im Nebel. Diese Nummer habe ich seit acht Jahren nicht benutzt. Ich sollte die Nachricht ungelesen löschen. Aber mein Daumen macht sich selbständig.
Hallo Kristina. Im November spiele ich mit musikalischen Gästen einen Konzertabend in der Elb-Philharmonie. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich dich an meiner Seite auf der Bühne begrüßen dürfte. Überleg es dir. Gruß, Irena.
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