Kapitel 34 - Zwischen den Zeilen

Noah

Kristinas Stimme klingt dünn und zittert. Das passt nicht zu den bunten Festivalbildern, die nur so von Leben und guter Laune sprühen.

„Hey, was ist denn los?“

„Nichts, was soll sein?“ Wenn sie neben mir säße, würde sie sich jetzt wegdrehen und meinem Blick ausweichen. Aber wenn sie hofft, mich austricksen zu können, weil wir nur telefonieren, liegt sie falsch.

Ich kann mir ein Seufzen nicht verkneifen. „Kristina, ich kann über den Ärmelkanal hinweg hören, dass es dir nicht gutgeht. Was ist passiert?“

Stille. Oder nein, keine Stille, aber Schweigen.

 

Ihr unregelmäßiges Atmen dringt an mein Ohr, im Hintergrund ein monotones Brummen, hin und wieder Fetzen von Stimmen. Vermutlich ist sie im Tourbus und sitzt abseits der anderen, oder liegt in ihrer Koje. Wieso ist sie nicht mit dem Rest der Band zusammen?

 

Ein Schniefen dringt an mein Ohr und ich balle unwillkürlich die Hand zur Faust. Meine Fingernägel drücken sich tief ins Fleisch, aber ich lasse nicht los. Der Schmerz ist besser auszuhalten als die Ohnmacht, Kristina jetzt nicht umarmen zu können.

 

„Ich habe eine Nachricht bekommen, die mich beschäftigt“, sagt Kristina endlich.

 

„Okay, willst du darüber reden?“ Blöde Frage, wahrscheinlich nicht, sonst hätte sie sich längst konkreter ausgedrückt.

 

Wieder ein Schniefen, gefolgt von einem energischen Räuspern. „Eigentlich möchte ich die Nachricht lieber vergessen.“

 

„Meinst du, das funktioniert?“

 

„Lenk mich ab, Noah. Erzähl mir was Schönes.“

 

Ratlos sehe ich mich in der Garderobe um. Sofa, Spiegel, Kleiderständer. Es ist eine andere Garderobe als heute Vormittag, aber sie ist nur unwesentlich gemütlicher. Das Beste daran ist, dass ich sie ganz für mich allein habe, und wenn es gut läuft, wird mich hier in den nächsten zehn Minuten auch niemand stören. Eine Viertelstunde Privatsphäre, ist das wirklich das Schönste, was mir an diesem Tag widerfahren ist?

 

„Ich mag das Bild von der Hüpfburg. Ich hätte sie auf jeden Fall ausprobiert“, sage ich.

 

Kristina lacht auf. „Ich wusste, du würdest das sagen. Eines Tages holen wir das nach.“

 

„Versprochen, und dann hüpfen wir einen ganzen Tag lang und machen nur Pause, um Eis zu essen.“

 

„Guter Plan. Wo stellen wir die Hüpfburg auf?“

 

Solang ich mit Kristina zusammen auf dieser fiktiven Hüpfburg sein kann, wäre mir der Standort herzlich egal, aber mit ihr herumzuspinnen, macht Spaß und lenkt mich von der tristen Garderobeneinrichtung ab. „Was hältst du vom Regenwald? Haushohe Bäume und knallbunte Orchideen um uns herum?“

 

„Dann sind wir ja schon nassgeschwitzt, bevor wir überhaupt anfangen zu toben“, gibt Kristina zu bedenken. „Aber das Waldsetting gefällt mir. Wie wäre es mit dem Schwarzwald?“

 

„Nie gehört, wo ist das?“

 

„In Süddeutschland, du Banause.“ Kristina lacht und klingt viel froher als noch vor ein paar Minuten, weshalb ich ihr die Spitze verzeihe. Sie schickt mir das Foto einer Berglandschaft, die in mystisches Licht getaucht ist.

 

„Gefällt mir“, sage ich. „Da können wir unsere Burg aufbauen.“ Um ehrlich zu sein, würde es mir sogar reichen, wenn es keine Hüpfburg gäbe, sondern Kristina und ich einfach nur nebeneinander auf einem dieser Gipfel sitzen und uns den Sonnenuntergang ansehen könnten.

 

„Ich check unsere Kalender und werde Piet sagen, dass wir dort vorbeifahren müssen“, sagt Kristina todernst.

 

„Tu das“, erwidere ich, muss mich zu dem begleitenden Lachen allerdings zwingen. Bei der Erwähnung ihres Managers fällt das Bild unseres Luftschlosses buchstäblich in sich zusammen, als ob das Ventil gezogen worden wäre.

 

Und als wäre das nicht genug, fliegt in diesem Moment die Tür auf und Scott steckt den Kopf in den Raum. „Fünf Minuten noch. Beeil dich, du musst noch verkabelt werden.“

 

„Ich komme.“

 

„Immer noch nicht fertig mit Arbeiten?“

 

Ich schlucke und schließe die Augen. Kristina soll mich nicht bemitleiden, auch wenn ich weiß, dass sie es gut meint. „Unser Streaming-Konzert geht gleich los.“

 

„Ach so“, sie klingt so enttäuscht wie ich mich fühle. Zehnminütige Telefonate sind einfach viel zu kurz und kein Ersatz für eine Umarmung. „Schickst du mir einen Link?“

 

Mein Herz wird etwas leichter. „Klar.“ Das Konzert ist zwar nur für ausgewählte Fans, aber nirgendwo steht geschrieben, dass ich nicht auch jemanden auswählen darf. Ich kopiere den Link aus der Dispo und leite ihn an Kristina weiter.

 

„Danke. Ich denk an dich.“

 

Und es sind diese Worte, die mich die folgende Stunde beflügeln und so unbeschwert wie schon lang nicht mehr über die Bühne tanzen lassen.

 

Coole Show, ich hoffe, ich darf dich bald mal live erleben.

 

Kristinas Nachricht folgt ein Kuss-Emoji, der mich mit dem frühen Start in den Tag versöhnt. Mit fliegendem Daumen schreibe ich meine Antwort, während ich Andy, Suma und Liam in das Fernsehstudio folge, wo wir gleich eine Aufzeichnung für eine TV-Show haben.

 

Sag mir wann und ich setz dich auf die Gästeliste 😉

 

Ein Typ in schwarzem T-Shirt mit Logo der TV-Show kommt auf uns zu, begrüßt zuerst Scott, dann uns nacheinander mit Handschlag.

 

„Ich bin Will, guten Morgen. Schön, dass ihr da seid. Ich bringe euch gleich zu euren Garderoben, in einer halben Stunde habt ihr euren Slot in der Maske. Anschließend hole ich euch ab und bringe euch zur Halle.“

 

Er rattert die Punkte im Staccato herunter und läuft bereits vor, einen breiten Gang hinunter auf eine schwere Stahltür zu. Will scheint davon auszugehen, dass wir keine Fragen haben, und liegt damit wohl richtig. Es ist schließlich nicht die erste TV-Show, in der wir auftreten. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir sogar vor ein paar Monaten schon einmal hier. Damals war es noch aufregend, jetzt ist es Routine, und ich für meinen Teil bin froh, dass Will uns nicht zutextet. Für unnötigen Smalltalk bin ich eindeutig noch nicht wach genug.

 

Auf den Gängen vor und hinter der Stahltür, durch die Will uns zügigen Schrittes führt, herrscht geschäftiges Treiben. Manche Leute grüßen Will oder uns im Vorbeigehen, die meisten jedoch beachten uns gar nicht.

 

„So, hier ist es“, sagt Will schließlich und zeigt auf vier Türen, an denen Zettel mit unseren Namen hängen.

 

Wow, ich hätte nicht gedacht, dass jeder von uns seine eigene Garderobe bekommt. Bei unserem ersten Auftritt hier hatten wir noch gemeinsam einen Raum. Sumas Garderobe ist die erste in der Reihe. Er winkt uns kurz zu und ist schon hinter der Tür verschwunden. Liams Garderobe liegt daneben, meine ist die dritte. Andy läuft an mir vorbei zu seiner Umkleide, ich lege die Hand an die Klinke der Tür vor mir.

 

Ich betrete den Raum und will die Tür schon schließen, als Scott sich in Windeseile durch den Spalt schiebt.

 

„Ey Mann, Scott, was soll das?“

 

Scott drückt die Tür ins Schloss und lehnt sich mit verschränkten Armen dagegen. „Wir müssen reden, Noah.“

 

„Ausgerechnet jetzt? Lass mich doch erstmal wach werden?“ Ich schiele zu dem Arrangement aus Getränken, Obstschale und Müsliriegeln, das auf dem Tisch aufgebaut ist. Leider ist kein Kaffee dabei, also schnappe ich mir die Colaflasche und heble den Kronkorken an der Tischkante auf. Der Deckel fällt klappernd zu Boden.

 

„Noah, weißt du noch, was deine Aufgabe bei Five2Seven ist?“ Scott mustert mich wie ein Raubtier seine anvisierte Beute. Vor einem Jahr habe ich mich unter diesem Blick auch genauso gefühlt, aber inzwischen macht er mir keine Angst mehr. Ich trinke einen Schluck aus der Flasche, wende mich halb von Scott ab.

 

„Klar. Singen, tanzen, charmant sein“, sage ich schulterzuckend.

 

„Richtig. Nur habe ich das Gefühl, dass dein Charme sich in letzter Zeit auf eine ganz bestimmte Person konzentriert.“

 

Die Flasche gleitet mir aus der Hand und ein Schwall Cola ergießt sich über den Tisch. „Fuck. Hat Liam gequatscht?“

 

Scott atmet laut aus.  „Noah, halt mich nicht für bescheuert. Liam hat nichts gesagt. Braucht er auch nicht. Ich sehe selbst, dass du dich verändert hast.“

 

„Ach ja? Und was ist so schlimm daran?“ Ich schnappe mir zwei Servietten und werfe sie über die Colapfütze. Dabei ist es mir völlig egal, dass sich das süße Zeug zwischen dem Obst und den Müsliriegeln ausbreitet. Ich will nur Scotts Blick ausweichen. Seine Stimme kann ich hingegen nicht ausblenden, obwohl ich mir alle Mühe gebe, mich aufs Aufwischen zu konzentrieren.

 

„Du verlierst den Fokus. Es geht dir nur noch um dieses Mädchen.“

 

Sie heißt Kristina, will ich rufen, halte aber die Klappe. Stattdessen drücke ich meine Hand auf die klatschnassen Servietten.

 

„Was ist falsch daran?“ Ich weiß es genau, aber ich will es von Scott hören. Wenn er mir die Beziehung mit Kristina verbieten will, soll er es mir ins Gesicht sagen. Trotzig, die Hand nass und klebrig von der Cola, sehe ich ihn an.

 

„Da draußen sind Millionen Mädels, die verrückt nach dir sind und die sich in deine Arme träumen. Das hast du hoffentlich nicht vergessen.“

 

Wie könnte ich? Das Gedränge und Geschrei, das uns auch heute Morgen erwartete, als wir aus dem Van stiegen, war nicht zu übersehen.

 

„Dein Job ist es, ihnen die Illusion zu geben, dass sie irgendwann das Mädchen an deiner Seite sein könnten.“ Scotts Tonfall und Mimik erinnern mich in diesem Moment stark an Dad. Das Gutmütige, was ihm sonst im Umgang mit uns oft anhaftet, ist verschwunden. Vor mir steht der knallharte Manager, der darauf aus ist, sein Produkt bestmöglich zu verkaufen.

 

Ich will die nassen Servietten in den Papierkorb werfen, aber sie kleben an meinen Fingern. Verdammt.

 

„Und was ist mit meinen Illusionen?“

 

Scott seufzt theatralisch. „Du weißt doch, wie das mit Illusionen ist. In der Regel sind sie nichts als Hirngespinste, denen man hinterherjagt.“

 

„Aber Kristina ist kein Hirngespinst. Ich liebe sie.“

 

Einen Moment lang starren Scott und ich uns an. In seinen Mundwinkeln zuckt es, beinahe sieht es so aus, als würde er weich werden. Aber dann kehrt der harte Ausdruck zurück auf sein Gesicht. Ich kann nicht glauben, was ich da eben gesagt habe. Ich liebe Kristina. Mein Herz rast, das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich hätte diese Worte zuerst zu ihr sagen müssen. Nicht zu Scott. Aber jetzt ist es zu spät. Ich kann sie nicht mehr zurücknehmen, und das will ich auch gar nicht.

 

Ich liebe Kristina. Sie bedeutet mir die Welt. Kein noch so liebevoll gemalter Fanbrief, tosender Applaus oder One-Night-Stand mit einem Groupie kann das ersetzen, was sich zwischen ihr und mir in den letzten Monaten entwickelt hat.

 

Scott kommt auf mich zu, legt mir eine Hand auf die Schulter und sieht mich eindringlich an. „Noah, du bist gut. Dir liegt die halbe Welt zu Füßen und wenn die Single morgen ein Erfolg wird, stehen dir alle Wege offen. Mach dir das wegen ein bisschen Herzklopfen nicht kaputt.“

 

Er klopft mir zweimal auf die Schulter, dann dreht er sich um und lässt mich allein in der Garderobe zurück. Wie betäubt taumle ich auf den Stuhl zu, der neben dem Tisch steht. Die Serviette klebt noch immer an meiner Hand. Stück für Stück zupfe ich sie von der Haut und lasse die Fitzel auf den Boden fallen.

 

Schließlich sieht es aus wie auf einem Bahnhofsklo. Nur dass es nach Cola statt nach Fäkalien und Drogen riecht. Was gäbe ich jetzt für …

 

Ich lasse den letzten Rest nasser Serviette fallen, springe auf und greife nach meiner Tasche, in der ich die Klamotten für den Auftritt habe. Zwischen Socken, frischen Boxershorts und Deo finde ich nach kurzem Wühlen das kleine Plastiktütchen mit der blauen Pille. Wie gut, dass ich den Trip neulich nicht eingeworfen habe.

Ich lege mir die Pille auf die Zunge und spüle sie mit dem Rest Cola runter. Scott will, dass ich die Fans verrückt mache? Das kann er haben.

 

Das Licht ist grell, teilt sich in gelbe, rote, lila und grüne Pixel.

 

Der Bühnenrand ist seltsam kurvig und bewegt sich auf und ab. Davor im Halbdunkel Gesichter. Sie lachen. Winken. Mit Armen, die sich wie Spaghetti in alle Richtungen bewegen. Witzig.

 

Ich folge ihren Bewegungen. Noch nie ist mir die Choreo so leichtgefallen.

 

Have you ever seen me?

Have you ever felt the pain

Of not even getting close

To what you deeply long for?

 

Plötzlich verändern sich die Gesichter. Sie werden zu Fratzen mit großen Augen und weitaufgerissenen Mündern. Ich tanze schneller, muss hier weg. Weg von den Monstern, die ihre Hände nach mir ausstrecken.

Dröhnen. Flackern.

 

Not even getting close to what I deeply long for.

 

Kristina. 

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