Kapitel 35 - Feuer und Scherben

Kristina

Im treibenden Viervierteltakt des Allegro non molto von Vivaldis Winter laufe ich durch den Englischen Garten. Es ist gerade einmal kurz nach sechs und die einzigen Lebewesen, denen ich bislang begegnet bin, sind ein paar Enten, Tauben und Eichhörnchen. Schon in ein oder zwei Stunden wird es hier ganz anders aussehen. Oder heute Nachmittag. Ich jogge den Weg zum Monopteros hinauf und wie früher laufe ich zwischen den Säulen im Slalom. Stufe runter, Stufe hoch.

„Irgendwann brichst du dir noch die Beine“, hat Elisabeth immer gesagt, wenn ich damals mit sechs oder sieben Runde um Runde gedreht habe. Aber sie hat dabei gelacht und mich gewähren lassen, und ich habe mir nie die Beine gebrochen.

 

Auch heute stolpere ich nicht einmal, während die Stimme meines ehemaligen Kindermädchens durch meine Gedanken geistert. Zu schade, dass Elisabeth ausgerechnet diese Woche im Italienurlaub ist. Ich hätte sie gern wiedergesehen.

 

Zu den Klängen des Largos in meinen Kopfhörern lasse ich den Blick über die Wiese um den Tempel wandern. In meiner Erinnerung war das Gras grüner. Allerdings hat es in den letzten Wochen kaum geregnet, selbst jetzt so früh am Morgen ist es schon unnormal warm. Als Grashalm hätte ich vermutlich auch kapituliert.

 

Aber ich bin die verrückte Musikerin, die noch vor dem ersten Interview des Tages durch den Park rennt. Ich grinse über meine eigenen Gedanken, drehe noch eine Runde um eine der Säulen und laufe zu Vivaldis La Folia zurück zu meinem AirBnB.

 

Ein paar Wassertropfen perlen von meinen Haarspitzen und saugen sich in den Leinenstoff meiner Hose.

 

Trotzdem lasse ich mir noch Zeit mit dem Föhnen. Ich gieße mir einen Tee auf und setze mich an den schmalen Küchentresen, das Handy neben der Tasse. Noah hat noch nicht geschrieben, was mich in Anbetracht der Uhrzeit nicht sonderlich überrascht. Dennoch wallt Enttäuschung in mir auf. Er hat sich auch gestern nur kurz gemeldet. Ist der Promo-Plan von Five2Seven wirklich so voll, dass er nicht mal fünf Minuten Zeit hat, eine Nachricht zu schreiben? Ist er, ich weiß. Schließlich habe ich noch immer Zugriff auf Noahs Kalender. Leider ist mein Herz nicht bereit, auf meinen Verstand zu hören. Es sehnt sich nach Noah, so sehr, dass es schmerzt. Seit wir gestern hier in München angekommen sind, ist es noch ein wenig schlimmer geworden. Das alte Heimweh nach einer längst vergangenen Vertrautheit brennt wieder unter meiner Haut. Wenn ich wenigstens Noahs Hand halten dürfte, würde es weniger wehtun. Die neue Vertrautheit würde die alte Wunde vielleicht schließen können.

 

Ich wische über das Display, öffne Instagram. Direkt das erste Bild schreit es mir entgegen.

 

Like a Mirror – New Single – Out now

 

Unter dem Bild von Five2Seven tummeln sich schon die Likes und Kommentare. Verwundert klicke ich auf den Beitrag und folge dem Link in der Story. Noah hat gar nichts davon erzählt, dass sie schon wieder eine neue Single veröffentlichen. Ist nicht gerade erst ein neuer Song von Liam erschienen?

 

Das Thumbnail auf YouTube sieht düster aus. Grauverregnete Landschaft. Mittendrin; Noah.

 

Ich verschlucke mich am Tee. Ist der Song von ihm? Ich drücke auf Play.

 

Ein Klavier tropft Töne in Moll aus dem Off, während die Kamera über eine verlassene Landstraße schwenkt, bis sie Noah erfasst, der über ein Feld auf eine alte Scheune zuläuft. Er versucht, die Tür zu öffnen, die jedoch verschlossen scheint. Er schaut durch das schmutzige Scheunenfenster.

 

The evening I saw you sitting there

A silent spark lit up the air

 

Langsam setze ich die Teetasse ab. Meine Finger zittern.

 

No words were spoken, none were needed

Still, my heart finally felt kind of completed.

 

Das Video springt in eine neue Szene. Noah läuft an einem Gebäude mit verspiegelter Fassade vorbei, scheint es eilig zu haben. Sein Spiegelbild verschwimmt in Regentropfen, die am Glas hinabfließen.

 

Your eyes, they told me everything,

A song without a voice to sing.

Ever since you read my soul so clear,

Like you've known me for a thousand years.

 

Ich würde gern schlucken, aber der Mechanismus funktioniert nicht.

 

Etwas steckt mir im Hals und kann weder vor noch zurück. Ich balle meine Hand zur Faust, um wenigstens meine zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen. Noah betritt regennass eine Backstagegarderobe, wo auch die anderen Bandmitglieder versammelt sind. Jeder in einer anderen Ecke, scheinbar mit sich selbst beschäftigt.

 

I don’t know how, I don’t know why,

But when I look at you, I just can't deny…

 

Das Klavier dominiert nun über die anderen Instrumente. Meine Hand zuckt. Polternd fällt die Tasse zu Boden, verteilt den Tee auf Tresen und Küchenboden. Diese Melodie in diesem Song. Ein Rauschen mischt sich in den Sound aus dem Handylautsprecher. Nur Bruchstücke des Textes erreichen mein Ohr.

 

… shows my heart what my mind doesn’t get …

 

Ich presse eine Hand auf die Brust, die andere auf meinen Mund. Aber ich kann nicht verhindern, dass mein Herz mit jedem weiteren Ton in Fetzen gerissen wird.

 

… still I know it's real …

 

Ja, verdammt. Es ist real. Obwohl schon Jahre vergangen sind. Jeder Ton vertraut, in Moll und in Dur, als Marsch und als Ballade. Und dazwischen die Spuren des Volkslieds. Das Video auf dem Bildschirm verschwimmt vor meinen Augen.

 

Ich lasse es laufen, ohne wirklich zu hören, schaue darauf, ohne wirklich zu sehen. Schließlich wird das Display dunkel. Ein schwarzer Spiegel. Regungslos sitze ich da. In mir verzehrender Schmerz, als ob jemand ein Feuer in mir angezündet hätte. Jedoch keines, das wärmt, sondern eins, das erbarmungslos alles vernichtet. Um mich herum neblige Watte. In mir das Rauschen, um mich alles dumpf.

 

Die Watte hält die Feuersbrunst in mir. Das Feuer kann nicht heraus, aber die Watte erstickt es auch nicht. Zehn Jahre lang habe ich gedacht, gehofft, das Feuer wäre erloschen. Aber es war nie weg, hat immer noch geglommen. Jetzt hat es neue Nahrung bekommen. Ich werde es nicht los. Ich muss mich wie einer Feuerwehrfrau durch die Flammen bewegen und irgendwie den Weg nach draußen finden. Ich habe es schon einmal geschafft. Ich kann das.

 

Ich finde ein Handtuch, werfe es über die Teepfütze. Kalt. Nass. Ich gehe ins Bad, trockne meine Haare. Drehe sie auf. Ich packe meine Reisetasche. Ich ziehe einen Schokoriegel hervor. 80 Prozent Kakaoanteil. Ich breche ein Stück ab. Bitter. Trocken.

Ich atme. Ein. Aus. Ich esse noch ein Stück. Ich schlüpfe in die Schuhe.

 

Vor dem Haus steht der Van.

 

Piet grinst. „Moin, Kristina. Alles klar?“

 

„Ja.“ Ich kenne meinen Text. Ich weiß, wie das geht. Ich grinse. Ich umarme Joshie über den Gurt.

 

Das Rauschen bleibt. Die Watte auch. Dazwischen Bruchstücke von Unterhaltungen. Freddys Stimme. Bens. Irgendjemand lacht.

 

… shows my heart, what my mind doesn’t get …

 

Noah. Irgendwo zwischen all dem. Verschwommen im Regen und Rauschen. Tief unter meinem Schmerz blitzt etwas auf. Eine Erinnerung an Nähe, Liebe, Vertrauen. Doch kaum habe ich erahnt, was es ist, begräbt der Schmerz es wieder unter seinen Fängen.

 

„Da sind wir.“ Piet öffnet die Tür des Vans.

 

Johnny steigt aus. Freddy steigt aus. Ich folge ihnen.

 

Menschen kommen auf uns zu. Lachen, rufen, zücken ihre Handykameras. Die Watte dämpft ihre Stimmen. Wenigstens etwas Gutes. Der Schmerz dröhnt in mir. Er wird bleiben, das weiß ich. Atmen. So wie immer. Ein. Aus. Lächeln.

 

„Hi, wie heißt du denn?“ Wieso klingt meine Stimme so verdammt normal?

 

„Isabelle.“

 

„Schön, dass du hier bist, Isabelle.“ Ich kritzle meine Unterschrift auf das Foto, das sie mir entgegenhält.

 

„Danke. Voll lieb.“ Isabelle umarmt mich. Freude. Lachen. Duft nach Bretze.

 

Lachen. Klick. Danke. Umarmungen. Ich wiederhole die Abläufe. Ich weiß, wie das geht.

 

„Wir müssen los.“ Ben winkt.

 

Ich folge ihm in das Gebäude des Radiosenders. Jemand begrüßt uns. Ich lächle. Ich schüttle Hände.

 

„Wollt ihr was trinken?“

 

„Grünen Tee, bitte, wenn ihr habt.“ Den ersten habe ich ja verschüttet.

 

Ich trinke den Tee, der viereinhalb Minuten vor mir steht. Heiß. Jasmin.

Vorbesprechung des Interviews. Noch zehn Minuten bis zur Sendung. Konzentration. Ich kann das. Ich weiß, wie das geht.

 

„Okay, wir sind live in 3, 2, 1.“

 

Fade Out Trust. Der Moderator dreht sich zum Mikro. „Das war Trust von Escape. Der Hit, der die Band groß gemacht hat. Und jetzt sind sie hier bei uns im Studio. Herzlich Willkommen, Freddy, Joshie, Ben, Kristina und Johnny.“

 

„Ja, moin.“

 

Lachen. „Grüße nach Hamburg.“

 

Ich sehe den Mund des Moderators sich öffnen und schließen. Erste Frage. Freddy antwortet. Ich lege die Finger auf den gerundeten Tisch vor mir. Holzimitat. Hart. Glatt.

Zweite Frage. Johnny antwortet. Anmoderation nächster Song. Irgendein lokaler Act. Münchner Dialekt. Kindheitserinnerung. Schmerz. Nein, nicht jetzt. Weitermachen. Ich kann das.

 

Nächste Fragerunde. Ich antworte. Die Haarnadel drückt. Ich kratze mich am Kopf. Nächster Song. Heißer Schmerz in mir. Wärme im Studio. Weiße Buchstaben auf dem schwarzen Popschutz vor dem Mikro. Noch mehr Fragen. Noch ein Song.

 

Ich rede. Ich atme. Ich singe. Ich atme. Fester Boden unter mir.

 

Irgendwann ist es vorbei.

 

„Ich geh noch kurz aufs Klo.“ Freddy verschwindet. Wir warten.

 

Das Radioprogramm ertönt durch die Lautsprecher in den Eingangsbereich des Senders.

„Und ganz neu heute, die neue Single von Five2Seven. Like a Mirror.“

 

G-Dur vom Klavier. Meine Finger greifen den Akkord automatisch. Wechsel in D-Dur. E-Moll. Noahs Stimme.

 

The evening I saw you sitting there

A silent spark lit up the air

 

Die Worte ein Dolch. Stechender Schmerz. Nichts von der Magie unserer ersten Begegnung, die er besingt. Das Feuer in mir lodert auf, strömt heiß und nass aus meinen Augen.

 

„Kris, was ist los?“ Joshie dicht neben mir. Sie nimmt mich am Arm. Führt mich weg. Ich folge ihr. Egal wohin. „Was ist passiert?“

 

„Der Song.“ Er ist auch hier zu hören. Überall im Sender.

 

Joshie hält mich im Arm. Weiche Baumwolle. Vertraute Berührung. Sie schweigt. Hört zu. Wie ich. Ich würde die Musik gern ausblenden. Aber sie dröhnt in mir. Unbarmherzig wie das Feuer.

 

Ever since you read my soul so clear,

Like you've known me for a thousand years.

 

„Ein bisschen kitschig, aber irgendwie auch süß.“

 

Das Klavier wird lauter. Mein Herz rast. Erstaunlich, dafür dass es in Einzelteilen in mir liegt.

 

„Moment mal.“ Joshie spannt die Muskeln. „Die Melodie kenne ich doch.“

 

Ich weine. Sie versteht. Versteht, welche Musik in dem Song steckt. Versteht, wie es mir geht. Ihre Umarmung wird fester.

 

„Der Song ist nur für dich, das weißt du, oder?“ Sie flüstert.

 

Ich nicke in ihrem Arm. Ich weiß. Aber alle können ihn hören.

 

Your eyes are like a mirror,

It shows my heart what my mind doesn’t get.

 

Ein Spiegel. Ich verstehe, was Noah singt. Weiß, was er meint. Ich habe es auch gefühlt. Aber jetzt …

 

Der Song ist ein Spiegel. Er zeigt mich. Wenn jemand hineinsieht, wird er alles sehen können. Alles. Das, was ich schon so lang nicht gezeigt habe. Das, was seit drei Stunden wieder in mir tobt. Stärker denn je.

 

Mein Hals wird eng. Viel zu eng.

 

„Psst, ruhig. Ich bin da.“ Joshies Flüstern an meinem Ohr. Vertraut. Wie immer. „Atmen. Du kannst das.“

 

Atmen. Ich weiß, wie das geht. Ich kann das. Ein. Aus. Festhalten an Joshies T-Shirt. Weiteratmen. Ein. Aus. Es wird besser.

 

„Okay, weiter geht’s.“ Bens Stimme durch die Watte.

 

Joshies sanfte Frage. „Geht’s?“

 

Ich nicke. Ich folge Joshie zu den anderen. Ich verlasse das Gebäude. Ich lächle den Fans zu. Ich weiß, wie das geht.

 

„Sorry, wir müssen direkt weiter.“ Piet schirmt uns ab.

 

Ich setze mich auf meinen Platz. Joshie dicht neben mir. Wärme neben dem Feuer. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Ein Kuss-Emoji von Noah. Der Dolch fährt in mich. Ich zucke zusammen. Zu viel Schmerz. Ich beiße die Zähne zusammen. Einen Schmerz muss ich ausschalten. Ich tippe.

 

Ich kann das nicht. Tut mir leid.

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