Kapitel 36 - Warten, hoffen, funktionieren

Noah

 Der Horrortrip hält mich noch immer gefangen. Anders ist das hier nicht zu erklären. Wieder und wieder lese ich die Nachricht auf dem Display, aber ich checke sie trotzdem nicht.

Ich kann das nicht. Was soll das heißen?

Die Kommentare in den Social Media überschlagen sich vor Begeisterung zu Like a Mirror. Auch mein Postfach auf Instagram quillt über von Nachrichten, in denen Fans mir schreiben, wie sehr sie den Song lieben. Doch ich kann mich nicht darüber freuen. Diese eine Nachricht von Kristina stellt alles andere in einen diffusen Schatten. 

Was kann sie nicht? Mir fehlt ein Vollverb in ihrem Satz.

 

Eine faule Ausrede. Als ob ich besser auf diese Hiobsbotschaft klarkommen würde, wenn Kristinas Satz nur ein Stück länger wäre. Ich würde nicht hören oder lesen wollen, dass sie den Song nicht leiden kann, oder dass sie meine Liebe nicht annehmen kann. Dass sie nicht mit mir zusammen sein kann.

 

Fuck. Allein bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um. Ich springe aus dem Bett und taumle ins Bad.

 

Ich hocke noch immer auf den kühlen Fliesen, als es an der Zimmertür klopft. Richtig sicher fühle ich mich auf meinen Beinen nicht, aber irgendwie gelingt es mir, aufzustehen und die Tür zu öffnen. Andy sieht mich mit großen Augen an.

 

„Alter, wie siehst du denn aus?“

 

Keine Ahnung. Für den Blick in den Spiegel hatte ich weder Lust noch Gelegenheit. Aber wenn ich so aussehe wie ich mich fühle, entspreche ich wohl nicht dem Bild, das man von dem Mädchenschwarm einer angesagten Boygroup erwartet.

 

Schulterzuckend drehe ich mich um und gehe zurück in mein Zimmer. Andy läuft mir nach, packt mich an der Schulter.

 

„Ey, Noah, was soll der Scheiß? Zieh dich an, los. Scott springt im Dreieck, wenn du nach der Nummer bei der Fernsehshow jetzt auch noch zu den Interviews zu spät kommst.“

 

Wer redet denn von zu spät kommen? Ich könnte gleich ganz hierbleiben. Regungslos stehe ich vor Andy, schaue ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen.

 

„Boah, Noah. Mach hin!“ Er wirft mir Klamotten zu, die vor mir auf den Boden fallen.

Ich will nicht.

 

Auch hier fehlt ein Vollverb im Satz. Ich ergänze. Ich will mich nicht anziehen. Ich will keine Interviews geben. Ich will nicht von einem Termin zum nächsten hetzen. Ich will nicht wissen, was Scott denkt.

Aber ich will mit Kristina reden. Will wissen, was sie meint, fühlt, wie es ihr geht.

Etwas Nasses trifft mich im Gesicht und fällt dann ebenso zu Boden wie zuvor meine Klamotten. Kurz darauf drückt ein nasser Lappen auf meine Nase und meinen Mund. Ich schnappe nach Luft.

„Andy, was soll der Scheiß?“

 

„Das frage ich dich, Mann. Hängst du wirklich noch so durch von dem Trip?“

 

Kopfschüttelnd nehme ich den triefenden Waschlappen aus meinem Gesicht. Ich wünschte, ich würde noch kaleidoskopisch tanzende Lichter und Wirbel sehen. Surreal und verstörend, aber immer noch besser zu ertragen als Kristinas Nachricht.

 

Andy scheint mein Kopfschütteln als Antwort zu reichen. Er bückt sich nach der Hose und dem T-Shirt zu meinen Füßen, diesmal halte ich sie fest.

„Gut, dann beeil dich. Fünf Minuten kann ich Scott noch hinhalten. Länger nicht.“

 

„Okay. Ich muss noch schnell telefonieren“, nuschle ich.

 

Andy tippt sich mit zwei Fingern gegen die Stirn und verschwindet. Noch ehe die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, wähle ich Kristinas Nummer und schlüpfe gleichzeitig in Hose und T-Shirt.

 

Viermal ertönt das Freizeichen, dann bricht die Verbindung ab. Fuck. Wieso geht sie nicht ran? Ich zwinge mich, mich an dem naheliegendsten Grund festzuhalten. Kristina hat Promo-Termine, genau wie ich. Wahrscheinlich sitzt sie auch schon wieder in irgendeiner Maske eines Fernsehstudios oder bei einem Radiosender.

 

Doch obwohl ich mir dieses Szenario immer wieder vorsage und in allen Details ausmale, während ich mein Zeug in meine Reisetasche stopfe, ist mir immer noch übel, als ich das Hotelzimmer verlasse.

 

Die Visagisten sind wahre Zauberer.

 

Wenn ich nicht wüsste, wie müde ich bin und welche Unruhe in mir herrscht, würde ich es angesichts meines Spiegelbilds nicht ahnen. Ich sehe aus wie Noah Hammond auszusehen hat. Ordentlich gestutzter Bart, das Haar wie zufällig in die Stirn gekämmt, leicht rosige Wangen.

 

Guten Morgen, Posterboy. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und vervollständige das perfekte Bild.

 

Das Studio ist nicht besonders groß, so bleibt uns nicht viel Platz für die Choreografie, aber das ist mir nur recht. Ich habe genug damit zu tun, mich darauf zu konzentrieren, die Lippen zum Playback zu bewegen.

 

Your eyes are like a mirror

It shows my heart, what my mind doesn’t get

 

Was habe ich übersehen? Wieso hat Kristina mir diese Nachricht geschrieben?

 

Ein Kameramann kommt dicht an mich heran, ich schaue in die Tiefe der Spiegelung des Objektivs. Ich muss die Sehnsucht nicht spielen, sie wuchert in mir wie ein Geschwür.

Charlene, Host von Music at Charlene’s, applaudiert begeistert hinter ihrem Team. Wird das hinterher rausgeschnitten? Egal.

 

Wir nehmen auf ein paar grellbunten runden Sitzkissen Platz, Charlene thront uns im Schneidersitz gegenüber.

 

„Wow, ein richtig schöner Song. Der geht echt deep.“ Sie zwinkert Liam zu und grinst dabei, damit auch jeder Depp die Anspielung versteht. Dann wendet sie sich mir zu.

„Noah, Like a Mirror stammt von dir und vermittelt richtig Gänsehautfeeling. Ging dir das beim Komponieren auch so?“

 

Du hast keine Ahnung, wie viel Gänsehaut ich im Zusammenhang mit dem Song hatte, denke ich. Aber das werde ich für mich behalten. „Klar, ich denke, wenn man glaubwürdige Songs schreiben will, dann muss man auch fühlen, worüber man schreibt“, sage ich stattdessen.

 

Charlene nickt. „Wie viel von dir steckt zwischen den Zeilen?“

 

Unwillkürlich strecke ich meinen Rücken durch. Gefährliche Frage. Ich muss so vage wie möglich bleiben und trotzdem Worte finden, die sie und die Zuschauer zufrieden stellen. „Like a Mirror ist zu hundert Prozent Noah.“

 

„Das heißt, es gibt da jemanden, für den du das Lied geschrieben hast?“

 

„Das hast du gesagt“, erwidere ich lächelnd. „Die Emotionen, die im Song stecken, sind echt, aber die Geschichte ist universell. Jeder hat doch schon mal so etwas erlebt, oder nicht?“

 

Wie leicht mir diese Lüge über die Lippen kommt. Nach außen hin ist mir vermutlich nichts anzusehen. Aber in mir drin gesellt sich zu der Übelkeit noch ein Stechen in der Brust. Kristina wird mich verstehen. Wenn sie dieses Interview überhaupt sieht. Wenn sie sich überhaupt noch für mich interessiert. Mann, wie lang dauert dieses Interview noch? Ich will nachsehen, ob sie endlich geschrieben hat.

 

„Wie sieht es bei dir aus, Andy, können wir uns auf dem neuen Album auch auf einen Song von dir freuen?“

 

Gott sei Dank, das Thema meiner möglichen Beziehung ist erstmal vom Tisch.

 

„Ja, ein, zwei Songs, in denen ich die Soloparts habe, sind dabei. Aber ich muss zugeben, dass ich nicht selbst komponiert oder getextet habe.“

 

Charlene scheint wenig überrascht, wieso sollte sie auch. Schließlich steht auf jeder zweiten Five2Seven-Fanpage, dass Andy kein Instrument spielt. „Wie muss ich mir das dann vorstellen? Schreiben eure Produzenten ein Lied und sagen dann Jetzt sing mal?“

 

Andy lacht auf. „Nein, sie achten schon darauf, dass der Song zu mir passt. Wir setzen uns auch zusammen und ich komme zum Beispiel mit einem Thema. Aber ich bin nicht so gut im Dichten.“ Er zuckt mit den Schultern. „Vielleicht hätte ich früher nicht schwänzen sollen, wenn wir Gedichte durchgenommen haben …“

 

Wir lachen wie einstudiert, dabei war dieser Spruch ausnahmsweise spontan.

 

Charlene deckt eine neue Moderationskarte auf. „Ihr habt in den letzten anderthalb Jahren ja schon so viel erlebt, wovon andere nur zu träumen wagen. Gibt es etwas, was ihr euch in musikalischer Hinsicht noch wünscht?“

 

Es ist, als ob sie mir ein Schwert ins Herz rammen und umdrehen würde. Dabei hat sie nur nach musikalischen Wünschen gefragt, nicht einmal nach persönlichen. Was soll ich darauf antworten?

 

Suma zögert keine Sekunde. „Ich würde gern einmal in einem großen Ensemble am Broadway tanzen und singen. West Side Story zum Beispiel, oder 42nd Street. Das wäre richtig nice.“

 

Seine Augen beginnen zu leuchten, wie immer, wenn er vom Tanzen spricht. Das Schwert dringt ein Stück tiefer in mich ein. Ich wünschte, ich hätte eine ähnliche Leidenschaft wie Suma. Wie durch dichten Nebel höre ich Andy von einem Konzert im Central Park fantasieren und Liam von einer Tour durch kleine Pubs.

 

Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll, als Charlenes Blick an mir hängen bleibt. Die Wahrheit? Die Erkenntnis, die sich unter dem scharfen Schmerz tief in mir regt? Unmöglich. Aber die Solokarriere, in der Dad mich sieht, kann ich hier auch nicht erwähnen.

 

„Ich würde gern besser werden, in dem, was ich tue“, sage ich schließlich. „Wenn es mir gelingt, Songs zu schreiben, die man auch fühlt, selbst wenn man die Worte nicht versteht, das würde mir viel bedeuten.“

 

Liam nickt zustimmend und klopft mir anerkennend auf die Schulter. Ahnt er, was ich eigentlich meine? Ich versuche, in seiner Miene zu lesen. Aber genau wie ich, ist er zu professionell, um sich vor der Kamera etwas anmerken zu lassen.

 

Kristina hat nicht geschrieben. Sie hat auch nicht versucht, anzurufen.

 

Wie betäubt starre ich auf mein Handy, schließe die Augen, schaue wieder aufs Display. Als ob ich dadurch irgendetwas ändern könnte. Ich checke es einfach nicht. Habe ich sie überfordert? Erst die Sache mit Fiona, nach der sie an meiner Ehrlichkeit gezweifelt hat, und jetzt dieser Liebesbeweis? Vielleicht hätte ich sie vorwarnen sollen, dass ich einen S

Song für sie geschrieben habe?

 

Mein Daumen schwebt über dem Hörersymbol. Doch noch ehe ich Kristina erneut anrufen kann, ruft der Aufnahmeleiter der nächsten Fernsehshow uns ins Studio.

 

Ich singe, tanze, lächle, beantworte Fragen, überlasse Noah Hammond das Feld. Den wahren Noah schließe ich weg. Es geht. Aber es ist anstrengend.

 

Als wir am Abend nach Bristol fahren, würde ich mich am liebsten auf meinem Platz einrollen und schlafen. Aber wir nutzen die Zeit, um Fragen auf Instagram und Tiktok zu beantworten. Graham aus unserem Social Media Team hält sein Smartphone in der Hand, liest uns die Fragen vor und filmt unsere Antworten.

 

„Andy, welche Weingummi-Farbe ist die Beste?“

 

„Rot natürlich, was für eine Frage.“

 

„Wer von euch ist am unordentlichsten im Tourbus?“

 

„Wehe, du filmst jetzt hier“, ruft Suma, als Grahams Hand kurz zuckt. „Nein, im Ernst. Fragt lieber, wer so pingelig ist, dass alles wie geleckt aussehen muss.“

 

Suma und Andy zeigen gleichzeitig auf Liam. Der hebt abwehrend die Hände. „Als ob es schlimm wäre, wenn nicht überall die Käsesocken von allen rumfliegen.“

 

Andy rollt mit den Augen. „Okay, danke, das reicht. Nächste Frage.“

 

„Noah, wie bist du auf Like a Mirror gekommen?“

 

Ich zucke zusammen und stoße mir den Ellbogen unsanft an der Wand. Das Schwert, das seit heute Morgen in meiner Brust steckt, muss doch schon längst wieder hinten aus mir herausragen.

 

„Ich, äh … Fuck, kannst du noch mal neu starten?“

 

Graham löscht schulterzuckend die Aufnahme und stellt mir die Frage erneut. Nicht, dass ich jetzt eine passende Antwort wüsste. Was habe ich bei Charlene dazu gesagt? Es scheint eine Ewigkeit her zu sein.

 

„Ich hatte einen Traum von jemandem, der mich versteht, ohne dass ich mich erklären muss. Von einer Person, bei der ich mich einfach fallen lassen kann. Daraus ist der Song entstanden.“ Melancholisch gucken, lächeln nicht vergessen. Graham nickt zufrieden. Prima, wenigstens einer. Ich lehne mich zurück und überlasse es Liam und Suma, die nächsten Fragen zu beantworten.

 

Sobald im Hotel die Tür hinter mir ins Schloss fällt, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche. Kein Rückruf, keine Nachricht von Kristina.

 

Ich lasse die Tasche neben mir fallen, schleppe mich zum Bett, lasse mich auf die Matratze fallen. Jetzt kann ich nicht mehr daran glauben, dass sie in irgendeinem Promo-Termin steckt. Escape haben viel zu tun, aber in den letzten Wochen hatte Kristina immer Zeit, zwischendurch ein paar Nachrichten zu schreiben. Dass ausgerechnet jetzt seit fast vierundzwanzig Stunden Funkstille herrscht, kann kein Zufall sein.

 

Ich vermisse dich. Würde gern deine Stimme hören, tippe ich in unseren Chat. Aber ich schicke die Nachricht nicht ab.

 

Mein Song sagt alles. Sie sollte wissen, was ich fühle. 

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