Kristina

Zwischen einem senfgelben Cordsofa, drei passenden Sesseln und einer Theke, die über und über mit Stickern beklebt ist, tummeln sich gefühlt tausend Menschen. Tatsächlich sind es wohl nicht mehr als zwanzig, trotzdem ist es mir schon zu voll. Freddys Mutter sitzt neben Judith auf dem Sofa. Sie lächelt, aber nur mit dem Mund, ihre Pupillen wandern in den angestrengt zusammengekniffenen Augen hektisch hin und her. Ich schlucke, schwanke zwischen Bewunderung, dass sie sich für ihren Sohn aufrafft, hier zu sein, und dem Wunsch, sie hier wegzubringen. Oder interpretiere ich zu viel, nach dem, was Freddy neulich erzählt hat? Vielleicht sollte ich mich eher für ihn und seine Mutter freuen, dass sie gerade offenbar eine halbwegs gute Phase hat. Aber es kann auch eine trügerische Ruhe sein.
Für eine Sekunde bleibt mir die Luft weg und energisch schiebe ich die Bilder, die sich mir aufdrängen wollen, in die schwarze Kiste, die ich mir vor zehn Jahren in meinem Bewusstsein eingerichtet habe.
Fokus!
Freddys Bruder Finn ist mit Joshies Bruder Kieron in ein Gespräch vertieft. Martin quatscht mit irgendjemandem, den Ben angeschleppt hat. Überall um mich herum öffnen und schließen sich Münder, spucken Worte aus, die ineinander verschwimmen, ohne dass ich ein einzelnes fassen kann. Schweiß läuft mir den Rücken hinab.
Als drei unserer Crewmitglieder den Backstage betreten, ergreife ich die Flucht. Ich brauche dringend Luft.
Draußen ist es zwar nicht kühler, aber wenigstens kann ich drei Schritte machen, ohne sofort jemandem auf die Füße zu steigen. Johnny und Ben lehnen rauchend an der Mauer. Irgendwie irritiert mich das bei Ben immer noch.
„Hat er dich auch noch mal belästigt?“, fragt Ben.
Johnny senkt den Kopf. „Nee, hab mein Profil auf privat gestellt.“
Geht es immer noch um die Kommentare, die in den Social Media gegen Johnny schießen? Seit einer Woche habe ich nicht mehr auf Instagram geschaut. Aus Gründen. Aber obwohl ich die Bilder nicht mehr ständig vor Augen haben, verschwinden sie nicht aus meinem Kopf. Der dumpfe Schmerz, der mich zerteilt, sagt mir seit Tagen, dass etwas fehlt. Jemand.
Noah.
Ich versuche, seinen Namen nicht zu nennen. Weder laut noch in Gedanken. Mit mäßigem Erfolg. Faktisch kann ich an nichts anderes denken.
„Hey, Kris, was machst’n da alleine?“
Johnnys Stimme reißt mich aus meiner starren Haltung, die ich unbewusst eingenommen habe. Ein bisschen steif gehe ich zu ihm und Ben rüber und rümpfe unwillkürlich die Nase, als mir das in die Nase steigt, was ich für Zigarettenqualm gehalten habe.
„Bäh, was ist das für Zeug?“
„Astreines Gras. Probieren?“ Johnny hält mir den Joint hin.
Ich verziehe das Gesicht. „Danke, nein. Was soll das?“
„Das entspannt. Nimmt ein bisschen von der Nervosität“, sagt Ben und nimmt demonstrativ einen Zug.
„Echt, du solltest es mal versuchen, du wirkst auch etwas angespannt“, sagt Johnny, zieht an dem Joint und hält ihn mir wieder hin.
Ich zögere. Ich habe noch nie geraucht. Andererseits kann ich nicht verleugnen, dass Johnny recht hat. Ich bin angespannt. Und nervös. In einer Viertelstunde öffnen sich die Toren des Clubs für die geladenen Fans und die Presse, um mit uns den Release unseres zweiten Albums zu feiern. Aber meine größte Sorge ist nicht, ob Everything is fine (we think) gut ankommen wird. Ich weiß nicht, ob ich überzeugend lächeln kann. In den Radio- und Fernsehstudios war es schon anstrengend genug, und da waren nur halb so viele Leute. Wie soll ich gleich gegen den Schmerz in meinem Innern ankämpfen und gleichzeitig Stimmen, Gerüche, Bewegungen und Emotionen von über hundert Leuten filtern? Vielleicht haben die Jungs ja recht und ein bisschen Gras hilft tatsächlich? Schlimmer werden kann es wohl kaum.
Ich strecke meine Hand aus, ergreife den Joint, inhaliere.
Es schmeckt so scheiße, wie ich mir vorgestellt habe. Hustend gebe ich Johnny den Joint zurück. „Danke, ich glaube, ich mache dann doch lieber Yoga oder so.“
Johnny zuckt mit den Schultern und lehnt sich mit geschlossenen Augen an die Mauer. Ich kehre widerwillig in den Backstage zurück, um ein Stück Schokolade zu suchen. Damit werde ich hoffentlich den ekligen Nachgeschmack los.
Joshie hat mir Ohrstöpsel gegeben, wie sie sie sonst beim Schlagzeugüben trägt.
Sie dämpfen das Stimmengewirr um mich herum, sind aber nicht so auffällig wie meine Noisecancelling Kopfhörer. Das hätte wahrscheinlich eine reißerische Headline gegeben:
Kristina (Esape) hört auf Release-Party andere Musik.
Nein, so etwas müssen wir nicht provozieren. Allerdings habe ich jetzt zwei Stellen, die ich immer wieder überprüfen muss. Den Sitz meiner Haarnadeln und den Sitz des Schaumstoffs in meinen Ohren. Meine Hand wandert tastend von meinem Scheitel zu den aufgedrehten Buns bis zu meinen Ohren. Alles an Ort und Stelle. Nur gegen die Wärme, den Geruch und den Schmerz können die Ohrstöpsel nichts ausrichten.
Ich trete näher an Joshie heran, bis unsere Handrücken sich berühren und ihr Duft sich gegen die übrigen Reize um mich herum durchsetzt. Limette. Vertraut.
Ich schließe die Augen, speichere den Geruch ab. Atme. Ein. Aus. Ich weiß, wie das geht. Ich kann das.
Piet tritt auf die Clubbühne, während wir uns im Hintergrund halten. „Moin“, begrüßt er das Publikum. „Und willkommen zur Release-Party. Euch stehen Aufregung und Erwartung buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Aber soll ich euch etwas verraten? – Hier hinter mir steht eine Band, die noch viel nervöser ist.“
Gutmütiges Lachen.
„Na gut, ich habe genug gequatscht, ihr seid schließlich zum Musikhören hier, oder?“
Applaus.
„Dann geht’s los“, ruft Piet wie ein Karussellführer auf dem Dom. „Viel Spaß mit Escape und Everything is fine (we think).“
Während das Publikum johlend applaudiert, verteilen wir uns zwischen den Leuten. Wir wollen nicht von der Bühne aus die Reaktionen auf die Songs erleben, sondern mittendrin sein. Die Jungs gehen in unterschiedliche Richtungen, ich bleibe jedoch nah bei Joshie.
Ich brauche sie, um wenigstens so zu tun, als wäre ich unbeschwert. Dabei rast mein Herz und mir ist schlecht. Bestimmt nur die Aufregung, versuche ich mich zu beruhigen.
Zwei Mädchen um die sechzehn schauen uns überrascht an, als wir uns neben sie stellen, sagen aber nichts. Wir lächeln uns einvernehmlich zu und schon geht es los.
Aus den Boxen dringt der erste Akkord. G-Dur. Das tiefe Wummern der Basedrum, der helle Klang der Snare.
Someone’s calling, is it you?
Someone’s answering, but is it true?
Everybody’s waiting
But no one knows what for
Like waves rolling back and forth
On an empty endless shore
Freddys Stimme dringt klar durch den Raum, und als ob auf der Bühne ein Zauberer einen besonders spannenden Trick vorführen würde, hält das Publikum den Atem an. Compass haben wir bislang nur auf ein paar Konzerten gespielt, aber trotz vereinzelter Liveaufnahmen ist der Song noch nicht sehr verbreitet unter den Fans.
Die beiden Mädchen neben Joshie und mir nicken im Takt, werfen sich immer wieder begeisterte Blicke zu. Als das Lied endet, fallen sie in den Applaus der anderen mit ein.
Der nächste Song, eine Ballade von Ben, ist bereits bekannt. Das Musikvideo zu All you’ve been kommt gut bei den Fans an, womit sich zumindest das Frieren im Regen im April gelohnt hat.
Ein paar Leute singen mit, und obwohl ich den Song, wie alle Lieder auf dem Album, mindestens tausendmal gehört habe, ist es mir, als hörte ich den Text heute zum ersten Mal.
Should I’ve known, should I’ve seen?
What is it that I’ve missed?
It’s kind of way too easy
To say, we’re not supposed to be
Ich habe keine Ahnung, für wen Ben diesen Song geschrieben hat oder ob er darin über seine eigenen Gefühle spricht.
In mir bricht ein Sturm aus.
Es tobt in meiner Brust, brennt in meiner Kehle, als ob sich mein Inneres nach außen kehren wollte. Und wie mit Neonbuchstaben über die Clubbühne gepinnt, flackert sein Name vor meinen Augen.
Noah. Noah. Noah.
Ich greife nach Joshies Hand. Ihr Blick überrascht, besorgt. Ihr Mund öffnet und schließt sich, aber ich höre nichts. Sie zieht mich mit sich, näher an den Rand, Richtung Backstage.
Nein, das geht nicht.
Der Gedanke durchzuckt mich so heiß und plötzlich, dass ich stehenbleibe und Joshies Hand loslasse. Sie geht noch einen Schritt, bleibt ebenfalls stehen, sieht mich irritiert an.
„Was ist los?“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihre Frage wirklich höre, oder ob ich gut im Lippenlesen bin, weil ich es schon so oft von ihr gehört habe.
„Lass uns bleiben“, sage ich.
Ihre Augen werden schmal, aber ich bleibe an Ort und Stelle stehen. Ich muss bleiben. Wenn ich einmal gehe, ist es der Anfang vom Ende. Ich werde immer wieder Entschuldigungen finden. Atmen. Ein. Aus. Lächeln. Bleiben. Ich kann das. Ich weiß, wie das geht.
Joshie bleibt mit mir am Rand stehen, wirft mir immer wieder forschende Blicke zu, unternimmt aber keinen weiteren Versuch, mich doch noch in den Backstagebereich zu ziehen. Ich konzentriere mich auf zwei Personen in der Nähe, beobachte ihre Regungen und Mimik. Sie lachen, formen Worte, wiegen sich im Takt, klatschen, umarmen sich hin und wieder, stehen mit geschlossenen Augen da.
Nach einundfünfzig Minuten und vierundzwanzig Sekunden ist es vorbei. Alle dreizehn Songs sind gespielt. Das Publikum tobt. Das Pärchen neben mir strahlt, zeigt mir den ausgestreckten Daumen, ruft wohl so etwas wie „Mega“ in den Applaus.
„Danke“, sage ich, meine es ehrlich und hoffe, dass mein Lächeln gelingt.
Zusammen mit den anderen stehe ich zwei Minuten später auf der Bühne. Rhythmisches Klatschen, Jubelrufe, Pfiffe – wie nach unseren Konzerten. Lauter glückliche Gesichter. In meinen Ohren rauscht es, Gänsehaut auf meinen Armen und Adrenalin, dass kribbelnd durch meine Adern kickt.
Es war richtig, zu bleiben. Hier gehöre ich hin.
Piet liest uns ein paar Fragen vor, die die Fans beim Reinkommen auf kleine Zettel schreiben und in eine Box werfen konnten. Ziemlich oldschool, aber es sind viele Fragen zusammengekommen.
Lieblingssongs, lustige Momente im Studio, anstrengende Tage …
Piet entfaltet den nächsten Zettel. „Wer von euch hat am meisten Arbeit ins Album gesteckt?“
„Kris“, sagen die anderen wie aus einem Mund.
„Ohne Scheiß, für euch sieht das vielleicht so aus, als würden Ben und ich super viel machen, weil wir die Soli singen und die meisten Songs geschrieben haben. Aber Kris war bei jeder Aufnahme dabei, hat mit Martin sämtliche Takes durchgehört, von links auf rechts gedreht, gemischt, gemastert … Ich glaube, sie kommt allein auf so viele Studiostunden wie wir anderen zusammen.“
Freddy schiebt mich ein Stück nach vorne. „Einen Extraapplaus für Kristina, bitte.“
Der Applaus hüllt mich ein, legt sich wie eine warme Decke um mich, und ja, für diesen einen wunderbaren Moment überlagert er sogar den Schmerz. Lachend verbeuge ich mich in einer übertriebenen Geste und trete wieder zurück in die Reihe zwischen Ben und Joshie.
„Vielen, vielen Dank, dass ihr hier seid. Lasst uns jetzt gemeinsam feiern“, ruft Ben nach der Fragerunde und gibt damit dem DJ den Einsatz. Zu unseren Lieblingssongs und einigen unserer eigenen Liedern kann ab jetzt getanzt werden, wozu die Fans sich nicht lang bitten lassen.
Ich brauche jetzt allerdings erst einmal etwas zu trinken. An der Bar ist es mir zu voll, also husche ich rasch in den Backstage, wo sich allerdings auch genug Leute tummeln.
Plötzlich legt sich ein Arm um meine Schulter. „Großartiges Album. Ich bin stolz auf dich.“
Papa. Sein Lächeln zieht sich beinahe über das ganze Gesicht, Lachfältchen schmücken seine Augenwinkel. Ich nehme ihn in den Arm.
„Danke. Schön, dass ihr hier seid.“ Über seine Schulter hinweg sehe ich Doro an, die fast ein wenig eingeschüchtert wirkt.
„Ich glaube, ich lasse ab morgen zum Workout nur noch euer Album laufen“, sagt sie.
„Also, ich hätte nichts dagegen einzuwenden“, erwidert Papa schmunzelnd.
„Moment, ich bin sofort wieder bei euch, ich hol mir bloß schnell etwas zu trinken“, sage ich und will schon loslaufen, da reicht Doro mir ihr Rotweinglas.
„Hier, wenn du schon mal mit deinem Vater anstoßen möchtest.“
Verblüfft sehe ich sie an. Wir haben uns in den letzten Monaten etwas besser kennengelernt, Doro ist in Ordnung, vor allem macht sie Papa glücklich. Aber aus ihrem Glas zu trinken, ist schon ziemlich intim. Andererseits habe ich wirklich Durst und Papa streckt mir sein Weinglas schon einladend entgegen. Also nehme ich Doros Glas, stoße mit Papa an und nehme sofort drei große Schlucke. Trocken und bitter, rinnt der Wein durch meine Kehle. Irgendwie kratzt er, so trocken ist er.
Im Glas ist nicht mehr viel drin und Doros Miene schwankt zwischen Überraschung und Enttäuschung. Vermutlich hat sie nicht damit gerechnet, dass ich den Wein gleich exen würde. Zugegeben, ich auch nicht.
„Sorry, ich besorg dir neuen“, sage ich und nutze die schmale Lücke, die sich in diesem Moment an der Theke auftut. Zwei Rotweinflaschen stehen auf dem vermackten Holz. Welche Sorte wohl im Glas war? Merlot oder Pinot Noir? Verdammt, ich habe keine Ahnung von Wein.
Weil mir die Flasche am nächsten steht, greife ich nach dem Merlot und gieße das Glas halb voll.
Papa und Doro stehen noch dort, wo ich sie zurückgelassen habe. Allerdings sind sie nicht mehr allein. Neben Papa steht einer der geladenen Journalisten, die beiden unterhalten sich angeregt, als würden sie sich gut kennen.
Mit einem Mal ist meine Hand schweißnass. Das Weinglas scheint um zehn Kilo schwerer. Mein Herz ist zu groß für meinen Brustkorb, die Lunge zu klein für die Luft, die ich brauche.
Nur ein falsches Wort, ein richtig gezogener Schluss, eine Überschrift, und alle Welt wird wissen, wer ich bin.
Verdammt, wieso habe ich daran nicht gedacht? Wieso war ich so leichtsinnig, Papa und Doro einzuladen? Wenn es jetzt rauskommt …
Scheiße, das packe ich nicht!
Watte um mich herum. Rauschen in meinen Adern. Atmen. Verdammt, wie ging das noch? Pelziger Geschmack von Erde auf meiner Zunge. Halskratzen. Der Rotwein schiebt sich bitter nach oben.
Joshie kommt. Langsam. Seit wann läuft die Welt in Zeitlupe? Meine Beine sind weich.
Plötzlich starke Arme um meine Hüfte.
Worte an meinem Ohr. Verschwommen. Ohne Sinn.
Dann frische Luft. Meine Beine geben nach. Der Rotwein sucht das Weite.
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