Kristina

Die weißen und schwarzen Tasten lösen sich in Töne auf, tanzen vor meinen geschlossenen Augen. Die Musik lindert die Hitze, die in mir tobt, bis meine Seele sich aus meinem Körper löst und über mir zu schweben scheint.
Sometimes love feels like a memory
that hurts too much to keep
In diesem Moment schmerzt es jedoch nicht mehr. Das, was weh tat, ist weit weg. Ich bin frei. Meine Finger gleiten blind über die Klaviatur.
What can I hold on to?
Feel the pain.
If I let go
What will I gain?
If my memories are fading
Tell me, what will remain?
Ich singe lauter als sonst, schreie die Worte beinahe heraus, bis sie das Klavier fast übertönen.
Für die Backingvocals in unseren Songs bin ich stimmlich nicht so sehr gefordert, aber das hier ist mein Song. All das, was sich in den letzten Wochen in mir aufgestaut hat, drängt nun mit aller Macht nach draußen. Ich wiederhole den Refrain, schlage die Tasten härter an als notwendig wäre, lasse der lang nicht mehr gekannten Power Raum.
Der letzte Ton verklingt, meine Finger legen sich in einem A-Mollseptakkord zur Ruhe. Ein ungewöhnlicher Schlussakkord für einen Song, aber genau so soll es sein.
Langsam öffne ich die Augen – und verschlucke mich an meinem eigenen Atem, als ich Freddy mir gegenüber erblicke.
Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Sitzsack und sieht verträumt vor sich hin, auf seinen Lippen liegt ein schmales Lächeln. Kaum merklich schüttelt er den Kopf.
„Mann, Kris, dieser Song ist der Hammer.“
„Danke.“ Als ich den Song vorgestern mit ihm im Backstage des Festivals gespielt habe, war es nur die Musik. Den Text habe ich für mich behalten. Wer weiß, ob ich jetzt gesungen hätte, wenn ich gewusst hätte, dass Freddy zuhört.
„Das mit Noah ist nicht einfach, oder?“
Ich nehme die Hände von den Tasten, balle sie zu Fäusten und weiche auf dem Hocker ein Stück zurück. „Wie kommst du darauf?“
Freddy beugt sich über seinen Gitarrenkoffer und öffnet die Schnappverschlüsse. „Five2Seven werden ganz schon gehyped. Ihr habt kaum Zeit füreinander, niemand darf von euch wissen. Das stell ich mir hart vor.“
Er nimmt die Gitarre auf seinen Schoß und sieht mich an. „Und, nimm’s mir nicht übel, aber seit Like a Mirror im Radio rauf und runter läuft, stehst du ziemlich neben dir.“
Ich sinke auf dem Hocker in mich zusammen. Seit die Musik nicht mehr spielt, ist der Schmerz wieder zurück, pocht wie gewohnt in meinen Adern. Unsicher erwidere ich Freddys Blick. Wie habe ich glauben können, dass außer Joshie niemand etwas bemerkt? Ob Ben den anderen erzählt hat, was ich ihm neulich in meiner Verzweiflung über Noahs und meinen Beziehungsstatus an den Kopf geworfen habe?
„Da ist nichts mehr zwischen uns.“ Versuche ich hier ihn oder mich zu überzeugen?
Zumindest bei Freddy gelingt es mir jedenfalls nicht. Er verzieht den Mund und legt die Stirn in Falten. „Ja, so klingt das. Aber wie auch immer. Der Song ist mega.“
Er spielt die Akkorde des Refrains, wirft einzelne Töne der Melodie mit ein. Ich lege die Hände zurück auf die Tasten, spiele mit. Spielen ist besser als reden.
„Der Song hätte sich auf dem Album auch gut gemacht“, sagt Freddy über die Musik hinweg.
„Tja, zu spät.“ Wie so vieles. Ich spiele eine kleine Extraschleife.
„Für das Album schon. Aber vielleicht nicht für die übrigen Festivals und die Tour?“ Freddy greift die Schleife auf.
„Bist du verrückt?“
„Was, Freddy ist verrückt? Ist ja ganz was Neues.“ Johnny kommt mit Ben und Joshie im Schlepptau in den Proberaum.
Freddy holt aus und will ihm wohl das Plektrum an den Kopf werfen, zielt aber einen guten Meter daneben.
Johnny grinst. „Na hoffentlich triffst du die Saiten besser“, sagt er und wirft das Stück Plastik gekonnt vor Freddys Füße. „Also, Kris, sag an. Was hat Freddy für komische Ideen?“
„Ach, vergiss es, nichts.“
„Habt ihr etwa Geheimnisse vor uns?“ Joshie hat mich im Vorbeigehen kurz umarmt, sitzt nun hinter ihren Drums und lässt die Drumsticks in ihren Händen kreisen, während sie mit gespitzten Lippen zwischen Freddy und mir hin und her sieht.
„Nein“, sage ich.
„Ja“, sagt Freddy gleichzeitig.
Das Grinsen in Johnnys Gesicht wird noch breiter. „Oh, jetzt wird es richtig interessant.“
„Kris hat einen geilen Song geschrieben, aber sie findet es verrückt, ihn in die Setlist aufzunehmen.“
„Weil die Setlist schon geschrieben ist.“ Wieso reagiere ich so abweisend? Ich habe bereits Songs geschrieben und der Band vorgespielt. Aber da war ich vorbereitet.
„Na ja, wir wollten die Setlist doch sowieso anpassen,“ sagt Ben und dreht an den Stimmwirbeln seiner Gitarre.
Das D ist noch immer zu tief, aber ich sage nichts. Ben hat recht. Nach den ersten beiden Festivals wissen wir, welche Songs gut funktionieren und welche nicht. Always, except every time, ein Song, der auf den Club-Konzerten super lief, funktioniert beim Festivalpublikum interessanterweise nicht, also werden wir ihn ersetzen. Aber muss es mein Song sein?
„Lass doch mal hören“, sagt Johnny und macht es sich schon auf seinem Platz bequem.
Ich kaue auf meiner Unterlippe. Irgendetwas in meinem Bauch scheint sich zu verknoten. Aus dieser Nummer komme ich schlecht raus. Es ist ja auch nicht so, dass ich von meinem Song nicht überzeugt wäre. Vielleicht bin ich zu überzeugt. Jede Note, jede Zeile – alles ist genau so wie es sein soll. Was wird es mit der Energie machen, die ich aus dem Lied gewonnen habe, wenn es den anderen nicht gefällt? Meine Zeigefinger zittern leicht über den Tasten. Wann ist mir das zum letzten Mal passiert?
„Ich spiel mit“, sagt Freddy und nickt mir zu.
Mein Bauch entspannt sich, das Zittern hört auf, und ich spiele meinen Song zum zweiten Mal heute. Ich bin nicht so leicht wie vorhin, schwebe nicht über allem, dazu ist mir die Gegenwart der anderen zu bewusst. Aber mit jedem Takt, jeder Zeile, entspanne ich mich mehr. Der Schmerz ist da, aber die Musik, Freddys Begleitung, macht ihn aushaltbar.
It’s not about you
But all the things I didn’t say
That old voice keeps telling me to run
Though I wish I knew how to stay.
„Holy Shit.“
Ben bleibt der Mund offen stehen. Seine Arme hängen wie bei einer leblosen Marionette an seinen Seiten herunter. Ein paar Mal bewegt er die Lippen, aber es kommt kein Laut heraus.
„Kris, das ist … keine Ahnung, mir fehlt ein Adjektiv“, sagt Johnny.
„Ja, genau das gleiche suche ich auch“, sagt Freddy.
„Ne, du hast gesagt, Kris hätte einen geilen Song geschrieben, aber das trifft es nicht.“
Meine Mundwinkel wandern nach oben, der Knoten in meinem Bauch hat sich vollständig aufgelöst.
„Kristina, lass uns diesen Song spielen.“ Ben hat endlich seine Sprache wiedergefunden und gibt seinen worten einen so flehenden Klang, dass es mich wundert, dass er dabei nicht auf die Knie geht.
Ein Lachen steigt in meiner Kehle auf, wo sich jedoch im nächsten Moment ein faustgroßer Kloß bildet und dem Lachen den Weg versperrt. Hier im Proberaum vor den anderen zu singen, war das eine. Hier bin ich sicher. Draußen auf den Bühnen habe ich kaum noch Einfluss auf das, was mit dem Song passiert.
Ich schnappe nach Luft, zwinge die aufkeimende Panik nieder. „Unter eine Bedingung. Ich singe nicht selbst.“
Nach der Probe sitze ich neben Joshie bei ihr auf dem Sofa und halte eine Styroporschale mit Reis und scharfem Linsencurry auf dem Schoß.
Joshie dippt Naanbrot in eine Schachtel mit Minzjoghurt.
„Manchmal wünschte ich, meine Großeltern hätten meine Mutter nicht nach England ins Internat geschickt, oder ihr wenigstens jemanden an die Seite gestellt, der ihr kochen beibringt.“
„Und was hättest du davon?“, frage ich heiser, während mir vor Schärfe Tränen in die Augen schießen.
„Ich müsste nicht ständig beim Inder bestellen, sondern könnte die Gerichte meiner Vorfahren selbst kochen.“
„Ja klar, ich sehe dich auch total mit Schürze vorm Herd in einem Reistopf rühren. Du bist doch schon genervt, wenn du Tiefkühlpizza in den Ofen schieben musst.“
Joshie lässt seufzend das Brot sinken und grinst mich an. „Na gut, erwischt. Essen macht halt mehr Spaß als kochen.“
Wo sie recht hat, hat sie recht, und besonders bei unserem Lieblingsinder wäre es grob fahrlässig zu versuchen, die fantastischen Gerichte selbst zu kochen.
„Wieso hast du eigentlich darauf bestanden, dass Freddy deinen Song singt?“
Zum Glück kann ich mein Husten auf die Chiliflocken schieben, die an meinem Gaumen kleben. „Er ist unser Leadsänger, wäre doch Quatsch, das für ein Lied zu ändern.“
„Kris, damit kannst du Ben vielleicht noch überzeugen. Aber selbst Freddy hat diese Erklärung eben nur geschluckt, weil er dir die Diskussion ersparen wollte.“
Ganz im Gegensatz zu meiner eigentlich besten Freundin, die jetzt auf genau dieser Diskussion besteht, obwohl sie, so wie sie fragt, die Antwort ohnehin schon kennt.
Ich rühre mit dem Löffel durch den Reis, zeichne orange Kreise in das Weiß. „Das ist noch so nah. Was wenn jemand nach der Story fragt? Ich könnte nicht lügen.“
Joshie zupft das Brot in kleine Happen. „Hm. Glaubst du, Freddy kann das besser?“
„Wir können uns etwas ausdenken. Wenn alles Fake ist, passt es wieder.“
„Minus mal Minus gibt Plus?“ Joshie verzieht skeptisch das Gesicht. „Deine Gefühle sind kein Fake. Ich habe dich lang nicht mehr so spielen und singen hören wie heute. Das war schön.“
Ich zucke mit den Schultern, starre auf das Curry. „Vielleicht mag ich meine Gefühle einfach noch eine Weile für mich behalten“, murmle ich.
„Das ist okay.“ Joshie lächelt und taucht ihren Löffel in mein Curry. „Noah wird auch so kapieren, dass der Song von dir ist.“
Empört öffne ich den Mund, sage aber nichts. Was hat es für einen Zweck, es zu leugnen? Selbst Freddy hat kapiert, dass es in dem Song um Noah geht.
Joshie hebt abwehrend die Hände und lehnt sich zurück. „Ich finde zwar, ihr könntet es einfacher haben, wenn ihr miteinander reden würdet, statt euch über Ecken irgendwelche Liebesbotschaften in Songs zu verstecken … Aber das müsst ihr selbst wissen.“
So wie Joshie es darstellt, klingt es wirklich so, als hätten Noah und ich einen Schaden. Vermutlich hat sie auch in dieser Hinsicht wieder recht. Aber auch sie weiß, dass sich mit Musik alles viel leichter sagt. Wenn man sich davor fürchtet, dem anderen gegenüberzutreten, weil da zu viel ist, was man sagen müsste.
Ob Noah überhaupt noch auf eine Reaktion von mir wartet? Ich habe mich so lang nicht mehr bei ihm gemeldet. Wenn er vernünftig ist, hat er mich in den Wind geschossen. Der Gedanke tut weh. Ich bin nicht so vernünftig. Will es gar nicht sein.
Ich stelle die Styroporschale auf den Couchtisch und greife nach meinem Smartphone. Zum ersten Mal seit Wochen öffne ich Instagram wieder. Als ob die App es gewusst hätte, zeigt sie mir direkt ein Bild von Five2Seven. Andy, Liam, Suma und Noah mit einem Typ in modischem Jackett an einer Theke, die an eine Bar erinnert, ganz offensichtlich aber in einem Fernsehstudio aufgebaut ist.
Having fun with @adam_miller_offical Thank you for having us
Statt dem Link zu diesem Adam zu folgen, gehe ich auf Noahs Profil, schaue mir jedoch nicht die letzten Fotos an, sondern klicke auf sein Profilbild.
Eine Story von gestern Abend, offenbar aus einem Hotelzimmer fotografiert. London von oben. Die nächste Story lässt mich erstarren. Das Bild einer Faust. Die Fingerknöchel sind gerötet, rotbraune Blutflecken stechen zwischen gelber Farbe, vermutlich von einer Jodsalbe, hervor. Die unteren Fingerglieder zieren jeweils schwarze Linien mit zwei oder drei Querstreifen.
Mein Herz rast. Was hat Noah angestellt, dass seine Hand genäht werden musste? Der Halbsatz, den er über die Story geschrieben hat, ist wenig aufschlussreich.
Wenn du versuchst, durch Wände zu gehen …
Hat er sich nicht neulich erst verbrannt? Jetzt auch noch Schnittwunden?
Joshie schaut mir über die Schulter. „Krass, mit wem hat der sich denn geprügelt?“
„Angeblich mit einer Wand.“ In der nächsten Story ist Noahs Hand ordentlich verbunden.
Er hält sie neben seinem Kopf in die Höhe und lächelt tapfer in die Kamera.
Tut nicht weh. Keine Sorge.
Ist das auch Marketing? Mehrere zehntausend Likes hat diese Story erhalten, am unteren Bildschirmrand leuchten erschrockene und mitleidsbekundende Kommentare auf. Wenn Noah beruhigen wollte, hat er das Ziel verfehlt. In mir zieht sich alles zusammen.
Schlimmer als zuvor. Tonnenschwere Gewichte, die von allen Seiten ziehen und mir die Luft aus den Lungen pressen. Wie damals.
Er und ich. Sein Schmerz. Meine Scham. Meine Schuld.
Wo sind die Tränen, die ich brauche, um all das wegzuspülen? Sie kommen nicht. Meine Augen, meine Wangen bleiben trocken, während das altbekannte Feuer in mir tobt.
Das Handy fällt mir aus der Hand.
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