
Ein Blick in Freddys Gesicht genügt, um zu wissen, dass alles noch genauso beschissen ist wie gestern. Vielleicht sogar noch schlimmer. Mit hängenden Schultern, dunkel geränderten Augen und schmalen Lippen betritt er grußlos den Proberaum. Verdammt, so scheiße hat er nicht einmal ausgesehen, als es seiner Mutter vor zwei Jahren so schlecht ging und er seinen Ausbildungsplatz verloren hat. Es tut weh, ihn so zu sehen.
Seit vier Tagen wache ich morgens auf und springe voller Tatendrang aus dem Bett, nur um nach einem Blick in unseren Gruppenchat brutal auf den Boden der Tatsachen gerissen zu werden. Johnny ist weg.
Außer der lumpigen Botschaft auf dem Hotelpapier hat er nichts von sich hören lassen.
Manchmal überkommt mich heiße Wut, dass er uns hängen lässt. Meistens nagt jedoch die Sorge in mir. Schweigen ist kein gutes Zeichen. Mama hat auch viel zu lang geschwiegen. Bis es ganz still war.
Hastig zähle ich die schwarzen Tasten auf dem E-Piano. Eins, zwei, drei, eins, zwei, eins, zwei drei. So regelmäßig wie eh und je. Sie sind da und weisen die aufsteigende Panik in Grenzen aus Halbtönen. Aber gegen Freddys traurige Miene können sie nichts ausrichten.
„Hat Johnnys Onkel etwas von ihm gehört?“ Piets Stimme klingt gepresst. Vermutlich muss auch er sich beherrschen, um nicht völlig durchzudrehen.
Freddy lässt sich auf den Sitzsack fallen, stützt die Stirn in die Hände und schüttelt den Kopf. „Nichts. Alex ist genauso ratlos wie wir.“
„Fuck“, entfährt es Joshie.
„Was ist in Regensburg bloß passiert, dass er einfach alles stehen und liegen lässt?“, fragt Piet und massiert mal wieder seine Nasenwurzel, während er auf und ab läuft. Vier Schritte in die eine Richtung, vier Schritte zurück. Wie ein Tiger im Käfig. Es macht mich irre. Nicht nur dieses Hin- und Herlaufen. Auch die Frage. Seit vier Tagen wälzen wir sie immer wieder. Wir sind den Tag in Regensburg minutiös durchgegangen, aber niemand von uns kann sich an etwas erinnern, was Johnny so aus der Bahn geworfen haben könnte. Nur, dass er mitten im Gig plötzlich nicht mehr gespielt hat. Aber deswegen würde er doch nicht die Band verlassen?
„Ich hätte ihn nach dem Konzert nicht so anblaffen dürfen“, sagt Joshie, auch schon zum dritten Mal.
„Ich glaube nicht, dass er deswegen abgehauen ist“, erwidert Piet. „Er wird während der Ausbildung ganz andere Sachen zu hören bekommen haben.“
„Nicht nur da“, murmelt Ben. „Vielleicht haben ihm die Kommentare bei Insta und so doch tiefer getroffen als er zugeben wollte.“
Überrascht sehe ich zu ihm rüber. So viel Einfühlungsvermögen bin ich von Ben gar nicht gewohnt. Andererseits habe ich auch keinen einzigen dieser Kommentare gelesen. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Vielleicht hätte ich mehr für Johnny da sein können.
„Was stand denn da?“
Ben schüttelt seufzend den Kopf, zieht sein Handy hervor und reicht es mir nach einem Moment. In dem geöffneten Dokument sind Bilder und Kommentare mit Usernamen und Daten aufgeführt. Es sind ausschließlich Bilder von Johnny, auf der Bühne, im Studio oder Backstage. Gute, professionelle Aufnahmen wie es auch von uns viele gibt. Schon bei den ersten beiden Kommentaren ziehen sich meine Eingeweide zusammen.
Wenn aus Scheiße Geld wird … Glänzt von außen, aber es bleibt Dreck.
Wozu eigentlich immer diese Kappe? Glaubst du, du kannst deine hässliche Visage darunter verstecken?
So hässlich der Typ.
Unter einem Bild, auf dem Johnny mit der Crew zusammensteht, lautet der Spruch:
Schön brav funktionieren. Manche hören echt nie auf zu kuschen.
Ein Foto von der Membran-Verleihung.
Komisch, dass du’s geschafft hast, ohne dass man dich in den Keller gesperrt hat.
Lustig, wie du glaubst, dass du anderen was vormachen kannst. Aber du bist und bleibst ein Nichts.
Angewidert gebe ich Ben sein Handy zurück. Es gäbe noch weitere Kommentare, aber ich will nichts mehr davon lesen. Wie kommt nur jemand dazu, so etwas zu schreiben? Und wie konnte Johnny das so lang damit abtun, dass das der Preis für den Erfolg sei? Jetzt war das Fass offenbar voll. Aber wo ist er nur?
Ich schiebe Zeigefinger und Mittelfinger in die Zwischenräume der schwarzen Tasten. Es kühlt ein bisschen.
„Was wir uns trotz allem auch fragen müssen, ist, wie es weitergehen soll“, sagt Piet in unser Schweigen hinein. „In zehn Tagen steht der nächste Festival-Gig an. Wer soll da Bass spielen?“
Aus Freddys Augen scheinen tödliche Blitze zu schießen. Ich beiße mir auf die Lippe und fokussiere den kleinen Spalt zwischen e und f. Die Vorstellung, dass nicht Johnny in Cuxhaven mit uns auf der Bühne stehen könnte, gefällt mir nicht, macht Piets Frage aber leider nicht unwichtig.
Scheiß Business. So hat es bei Mama auch angefangen. Irgendwie durchkommen, damit die Verträge erfüllt sind. Tun, als ob nichts wäre, damit die Kritiker nichts merken. Keine Schwäche zeigen, sonst ist man weg vom Fenster. Aber jetzt ist Johnny weg. Was, wenn ich die nächste bin?
Hinter dem Publikum liegt die Nordsee oder besser gesagt das Watt.
Vielleicht können wir am Horizont etwas vom Meer sehen, wenn wir gleich auf der Bühne stehen. Es hätte etwas Versöhnliches, dass wenigstens etwas nicht völlig verschwunden ist. Nicht so wie Johnny. Weder auf unsere Anrufe noch auf Nachrichten, sich bitte zu melden, hat er reagiert. Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass immerhin bislang keine Leiche gefunden wurde. Dann muss ich mir in den Handrücken kneifen, um die Panik niederzukämpfen. Johnny hat sich nicht umgebracht. Ganz bestimmt nicht.
Aber er ist nicht hier. Stattdessen steht Svante neben uns im Backstage und rutscht mit seinen Fingern den Hals seines Basses rauf und runter. Johnny kennt ihn aus der Ausbildung zum Veranstaltungstechniker, seit unserer letzten Tour unterstützt er uns als Backliner. Und jetzt eben auch auf der Bühne. Es war eine pragmatische Entscheidung nach einer längeren Diskussion. Svante ist zuverlässig und spielt ganz gut, wenn auch nicht so gut wie Johnny. Ich habe in den letzten Tagen und Nächten einige unserer Songs neu arrangiert, damit Svante sich nicht alle ausgefeilten Bassfiguren von Johnny draufschaffen muss, unser Klang aber trotzdem nicht verloren geht.
„Schaut mal, was ich gefunden habe“, sagt Ben. Er hält eine Postkarte in die Höhe.
Svante schaut irritiert, aber mir entlocken die gelben und grünen Farbwirbel trotz allem ein Lächeln.
„Ist das die Karte für den Wettbewerb?“
„Yes.“ Grinsend reicht Ben Svante die Karte, der sie eingehend betrachtet. Joshie schaut ihm über die Schulter.
„Schon krass. Vor drei Jahren wollten wir uns als Newcomer bewerben, jetzt sind wir als Headliner gebucht.“
Freddy gibt ein bitteres Lachen von sich und reicht die Postkarte an mich weiter ohne einen Blick darauf geworfen zu haben. Noch nie habe ich ihn vor einem Konzert so lustlos gesehen, und wenn es mir nicht zutiefst widerstreben würde, würde ich ihm vorschlagen, irgendetwas einzuwerfen. Ich suche nach tröstenden Worten, doch ehe mir etwas einfällt, ruft Ben dazwischen.
„Als Newcomer gescheitert, als Headliner gebucht – das ist geil. Kommt, lasst uns ein Selfie mit der Postkarte machen.“
Weil es ohnehin keinen Zweck hat, Ben zu widersprechen, rücken wir etwas näher zusammen, er geht vor uns in die Hocke, hält die Postkarte hoch und streckt die andere Hand weit von sich. „Nice.“
Er öffnet sofort Instagram und lädt das Foto in unseren Status. Ich wende mich ab, gehe zum Kaffeevollautomaten rüber und drücke auf den Knopf für heißes Wasser. Bis zu unserem Gig bleibt noch genug Zeit für einen Tee. Die entspannende Wirkung meiner Lieblingsmischung bleibt diesmal jedoch aus.
Ob es wieder gemeine Kommentare geben wird?
Nachdem wir uns entschieden haben, vorläufig Svante als Bassisten einzustellen, haben wir einen Post geteilt, in dem wir erklärt haben, dass Johnny aus privaten Gründen eine Auszeit nimmt. Das ist so nah an der Wahrheit wie nur irgend möglich. Der Rest, dass keinesfalls Streitigkeiten innerhalb der Band dahinterstecken würden und dass wir seine Entscheidung respektieren, ist nur diplomatisches Blabla.
Unsere Hoffnung, die Presse würde nicht weiter nachbohren, hat sich natürlich nicht erfüllt. Immer wieder erreichen uns Anfragen, wie lang Johnny pausieren wird, wo er sich denn aufhält und was er statt Musik macht. Wir blocken alles ab, geben unsere vorformulierte Standardantwort, werden aber mit jedem Mal verzweifelter. Ein Reporter hat Freddy vor zwei Tagen so intensiv angesehen, dass ich fürchtete, er würde jeden Moment in Tränen ausbrechen und seine Sorge und Wut in das Mikro schreien, dass der Typ ihm entgegenhielt.
Ich ziehe den Teebeutel aus der Tasse und werfe ihn in den Eimer unter dem Tisch, auf den die Social Media Icons gedruckt sind, mit der Aufforderung, das Festival in unseren Beiträgen zu taggen.
Endlich hat er’s kapiert.
Wurde ja auch Zeit.
Die Auszeit kann ruhig für immer sein.
Sogar jetzt wird noch auf Johnny gehetzt. Ich würde die Kommentare gern vergessen, aber sie haben sich mir eingebrannt. Was für eine beschissene Welt. Es geht längst nicht mehr um die Musik, auch wenn wir uns das gern einbilden. Wir schreiben Songs, stehen auf der Bühne – nicht weil wir wollen, so wie früher, sondern weil Verträge und Medien das von uns verlangen. Indie-Band hin oder her, wir sind mit einer kleinen Plattenfirma nur unwesentlich freier. Für die Leute da draußen ist es egal. Wir sollen dem Bild entsprechen, das sie sich von uns gemacht haben. Locker, fröhlich, Alltagsflucht. Aber können wir selbst noch ausbrechen?
Freddy scheint sich die gleiche Frage zu stellen.
Als er eine Stunde später vom Bühnenrand aus das Publikum begrüßt, klingt er jedenfalls nicht so, als würde er ernsthaft gemeinsam mit den Leuten ausbrechen wollen. Eher so, als würde er sich am liebsten unter einer Decke verkriechen. Vielleicht merkt es im Publikum niemand. Tausende Arme klatschen und winken, die Leute jubeln und singen mit. Aber Freddys Gitarrensoli sind langsamer als sonst, statt die Bühne zu rocken, steht er öfter still am Bühnenrand und hält den Kopf gesenkt, während seine Finger über den Gitarrenhals gleiten.
Ich bemühe mich sehr, mir nichts anmerken zu lassen, aber manchmal wird mir das Lächeln einfach zu anstrengend. Dann schaue ich auf meine Finger oder sehe zu Svante rüber. Die Töne sitzen, aber auch seine Fröhlichkeit wirkt etwas aufgesetzt. Ihm kann man es wenigstens als Nervosität vor dem ersten großen Auftritt auslegen.
„Danke, Cuxhaven, ihr seid klasse!“, ruft Freddy und breitet die Arme aus. „Wir verabschieden uns von euch mit einem Lied, das ihr alle kennt, und mit einer Bitte: Seid gut zueinander. Okay, hier ist für euch Trust.“
In dem aufkommenden Jubel geht Freddys Gitarrenintro beinahe unter. Aber vermutlich ist das nicht schlimm. Seine Schultern zittern und die Töne klingen verzerrter als sonst. Als er schließlich den Kopf hebt und ans Mikro tritt, geht seine Stimme mir durch Mark und Bein.
I know I’m not easy
I might even be a lost cause
You know, I’ve always been afraid
Of them, of you and me, of us
Can you still gently take my hand
And teach me how to trust
Rau wie Schmirgelpapier streifen seine Worte meine Haut. In jeder Silbe schwingt Verzweiflung, die Freddy beinahe herausschreit. Ich schlucke die Aufsteigenden Tränen hinunter. Das ist der ehrlichste Moment des Gigs.
Ob die Leute vor der Bühne das merken, oder ob sie die neue Interpretation feiern, weiß ich nicht. Der Applaus ist jedenfalls ohrenbetäubend. Aber er betäubt keine Gefühle. Als wir uns verbeugen, zittert Freddy unter meinem Arm, der auf seinem Rücken liegt. Ein Zittern, das auch mich erfasst. In meinen Beinen kribbelt es, wie sonst nur, wenn ich meine übliche Laufrunde weit überschritten habe. Die Bühne ist zu groß, der Applaus zu laut, das Licht zu hell. Keuchend lasse ich mich zwischen Freddy und Joshie ein weiteres Mal nach vorn fallen.
„Gott sei Dank“, bricht es aus Freddy hervor, kaum dass wir von der Bühne treten.
Er sinkt in sich zusammen, lässt die Hände hängen und schüttelt immer wieder den Kopf.
Piet hockt sich neben ihn, reicht ihm eine Flasche Wasser. „Du hast das super gemacht“, sagt er und sieht in unsere erschöpften Gesichter. „Ihr alle wart gut.“
„Trotzdem, das war das anstrengendste Konzert ever“, sagt Ben und wischt sich mit dem T-Shirt-Ärmel den Schweiß von der Stirn.
„Ich kann jetzt nicht noch mal da raus“, murmelt Freddy mit kurzem Kopfnicken Richtung Festivalgelände. Nach unseren letzten Gigs sind wir immer noch rausgegangen, haben am Merch-Stand Autorgramme gegeben und mit den Fans gequatscht oder Fotos gemacht. Aber mein Körper ist schwer wie Blei, der Jubel, die Musik aus den Boxen, das Klirren, Klappern und metallische Klingen des Bühnenumbaus dröhnen in meinen Ohren.
„Ich auch nicht“, sage ich, Ben und Joshie nicken dazu. Svante schaut auf seine Schuhspitzen. Piet richtet sich wieder auf und klopft Freddy auf die Schulter.
„Ist okay. Einpacken und Abmarsch.“
Ich wünschte, du wärst hier.
Im Tourbus ist es beängstigend still. Wir haben uns jeder in eine andere Ecke verzogen und hängen unseren Gedanken nach, die zumindest in meinem Fall mindestens genauso anstrengend sind wie der Festivallärm.
Ich auch. Lust zu telefonieren?
Das Blut rauscht laut zwischen meinen Ohren. Im Leben hätte ich nicht damit gerechnet, dass Noah direkt zurückschreibt. In Singapur muss es doch mitten in der Nacht sein. Aber ich zögere keine Sekunde, sondern starte den Videochat. Viel Licht hat Noah nicht um sich herum, aber es reicht, um zu erkennen, dass er mit nacktem Oberkörper im Hotelbett liegt. Hitze schießt durch meine Venen. Was gäbe ich dafür, neben ihm zu liegen.
„Hey, bist du gar nicht müde?“
Er lächelt schief. „Immer, aber zu überdreht, um zu schlafen.“
„Ist etwas passiert?“ Ich hoffe nicht, aber es würde mich gerade ablenken.
„Nur das Übliche. Viele Termine, dazu eine ganz andere Kultur. Ist schwer, da abends runterzukommen. Aber was ist mit dir? Du siehst irgendwie fertig aus.“
Ich berichte von dem Gig, von meinen Gedanken zum Musikbusiness. Noahs Augenbrauen wandern aufeinander zu, seine Stirn legt sich in Falten. Er muss nichts sagen, aber er spricht die Worte dennoch aus. „Ich weiß genau, was du meinst. Wir sind nur Marionetten.“
Mir entfährt ein Schluchzen, weil er so recht hat und es so verdammt wehtut. „Und ist das nicht bescheuert? Musik war immer meine Zuflucht, und jetzt ist sie wie ein Gefängnis.“
„Vielleicht brauchst du einfach mal eine Pause.“
„Was? Ich kann doch nicht …“
Noah schüttelt den Kopf. „Du musst nicht gleich aus der Band aussteigen. Vielleicht reicht mal ein freies Wochenende? Zum Beispiel in London?“
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