Kapitel 4 - Manchmal reicht ein Lächeln

judith

Keep on fighting, you’ll fly high. Wie ein Mantra singe ich in Gedanken die Worte mit, die Escape mir durch die Kopfhörer ins Ohr spült. Im Rhythmus der Musik trete ich in die Pedale, schaue zu, wie die Straße unter mir hinweggleitet, die mich weiter weg von der Schule bringt. Run ist in den letzten Tagen zu meinem Lieblingssong geworden. Ich wünschte bloß, ich könnte ihn allein wegen des coolen Beats genießen. Aber heute kann ich die Gedanken an die Schule noch weniger ausblenden als sonst. Wahrscheinlich wäre es gesünder, dem Ganzen keine Beachtung zu schenken.

Das sagt sich jedoch so leicht.

Über das Schweigen und Ignorieren könnte ich fast hinwegsehen, auch wenn es mich irritiert. Aber die Sprüche …

Ich schließe die Augen, als ich an einer Ampel anhalten muss. Atme tief durch. Nicht daran denken.

 

Ein Hupen von rechts. „Bescheuert, oder was?“

 

Ich schrecke auf. Nein, diesmal bin zum Glück nicht ich gemeint. Ein Fahrradkurier gestikuliert wild hinter einem davonbrausenden Auto her. Vielleicht war er im Recht und wurde von dem Autofahrer abgedrängt. Sein Fluch schiebt mir jedoch die Worte unbarmherzig ins Gedächtnis, die ich unbedingt verdrängen wollte.

Bescheuert. Das hat Kilian heute auch gesagt. Und er meinte mich. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, es Moritz leise zuzuflüstern, sondern hat laut genug gesprochen, dass alle in der Klasse es hören konnten. Sogar unsere Geschichtslehrerin Dr. Bennemann, die Kilian daraufhin zwar einen Rüffel erteilt hat, aber da hatte der ganze Kurs schon gegrinst und zustimmend genickt.

Verdammter 30-jähriger Krieg, verdammter König von Schweden. Warum musste Dr. Bennemann auch erwähnen, dass Königin Kristina, die Tochter von Gustav II Adolf, zum Katholizismus konvertierte und abdankte?

„Wieso wird man denn freiwillig Mitglied der katholischen Kirche?“, hatte Moritz fassungslos gemurmelt.

„Frag Judith, die sagt dir, wie man so bescheuert sein kann.“

Die Tränen brennen in meiner Kehle, während Kilians Satz die Musik aus den Kopfhörern lauthals übertönt. Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass ich jetzt immerhin weiß, was er gegen mich zu haben scheint. Deshalb tut es aber nicht weniger weh. Und dass scheinbar die ganze Stufe sich auf Kilians Seite stellt und mich ebenfalls belächelt oder zumindest nichts gegen Kilians Sprüche sagt, macht es nicht besser.

 

Sie wissen nicht, was es dir bedeutet. Sie kennen nur die Klischees und Horrorgeschichten, versuche ich mir einzureden.

 

Trotzdem laufen die Tränen weiter meine Wangen hinunter. Ich muss dringend aufhören zu weinen. Wer auch immer von meiner Familie gleich zuhause sein wird, stellt sonst nur Fragen, die ich nicht beantworten will.

 

I’ll walk with you through every storm …

 

Ich habe keine Ahnung, ob den Sängern von Escape die christliche Botschaft hinter dieser Songzeile bewusst ist. Eigentlich ist es ein Liebeslied. Mich erinnert der Text in diesem Moment daran, dass ich nicht so allein bin, wie ich mich gerade fühle. Kilian und die anderen mögen das bescheuert finden und nicht nachvollziehen können. Mir hilft es.

Ich wische mit dem Handrücken über meine Wangen, als ich mein Rad vor der Haustür anschließe und schlucke den Rest Trauer runter. Danke, Escape!

„Hi Judith, kannst du mir mit Englisch helfen?“

Mein kleiner Bruder Elias stürmt in den Flur, ehe ich noch die Jacke aufgehängt und meine Schultasche abgestellt habe.

„Was musst du denn machen?“

Elias zuckt die Schultern und verzieht missmutig das Gesicht.

 

„Wir sollen diese blöde Geschichte aus dem Buch in dieses komische Simple Cast setzen.“

 

Ich verkneife mir ein Grinsen. „Simple Past, meinst du wohl.“

„Meinetwegen. Hilfst du mir? Ich kapier das nicht.“

Durch die offenstehende Küchentür werfe ich einen Blick auf die Uhr. Halb drei. Viel Zeit habe ich nicht, bevor ich wieder losmuss.

„Ich muss in einer Stunde zur Klinik. Aber wenn du mit in die Küche kommst, kann ich dir helfen.“

Ein strahlendes Lächeln breitet sich auf dem Gesicht meines Bruders aus und er flitzt in sein Zimmer. Ich schneide ein paar Scheiben frisches Brot ab, nehme Aufstrich und Gurke aus dem Kühlschrank und setze mich an den Küchentisch. Kaum, dass ich den ersten Bissen von meinem Imbiss genommen habe, pfeffert Elias sein Englischbuch und seinen Hefter auf den Tisch, wobei das Buch nur knapp vor meinem Teller mit der aufgeschnittenen Gurke zu liegen kommt.

„Hey, Elias, pass ein bisschen besser auf. Zeig, welche Geschichte sollst du umschreiben?“

Er zieht das Buch ein Stück zu sich, blättert darin und schiebt es mir schließlich mit einer aufgeschlagenen Doppelseite hin. Ich überfliege die Geschichte über einen Bauernhof und eine dramatische Nacht, in der ein Lämmchen geboren werden soll, das aber im Leib des Mutterschafs feststeckt. Habe ich so etwas auch schon in der sechsten Klasse gelesen? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

„Womit hast du Schwierigkeiten?“

„Ich hab keine Ahnung, wie ich das in dieses Simple-Dings bringen soll“, sagt mein Bruder mit finsterer Miene. Auf meine Nachfrage, ob er wüsste, was das Simple Past ist, sieht er mich nur ratlos an.

 

Wo ist er im Unterricht nur mit seinen Gedanken gewesen?

 

Ich blättere im Buch zwei Seiten zurück, während ich mir das Gurkenbrot in den Mund schiebe, und versuche anschließend, Elias die Grundzüge der englischen Grammatik zu erläutern.

„Fang am besten damit an, dass du alle Verben im Text unterstreichst“, sage ich am Ende meiner Ausführungen.

„Was sind Verben?“

Mir fällt das Stück Gurke, das ich gerade essen will, aus der Hand und klatscht auf den Teller. Ist das sein Ernst? Elias ist in der sechsten Klasse am Gymnasium. Allerdings war Sprachunterricht schon in der Grundschule nicht so sein Ding, und seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hat er heute zusätzlich keine Lust darauf.

„Tu-Wörter“, versuche ich es, „die, die ihr auf die blauen Karteikarten geschrieben habt.“

Elias‘ Gesicht hellt sich etwas auf und ich danke im Stillen, dass wir bei der gleichen Grundschullehrerin gelernt haben, Wörter zu sortieren. Mein Bruder liest mit Bleistift in der Hand erneut die Geschichte und ich ziehe meinen eigenen Englischhefter aus meiner Schultasche. Dummerweise liegt oben auf noch immer mein Los für die Projektarbeit. Sofort fallen mir Kilians Spruch und die Abweisung der anderen wieder ein. Als ob es irgendetwas ändern könnte, zerknülle ich den Zettel mit der Gloucester Cathedral Aufschrift und werfe ihn in die Box mit den alten Zeitungen.

 

Wieso hat es Kilian so auf mich abgesehen?

 

Zwar mache ich kein Geheimnis aus meinem Glauben, aber ich habe noch nie versucht, jemanden zu missionieren. Und mit Kilian hatte ich bislang auch kaum etwas zu tun, außer dass ich seit dem Frühjahr ein paar Kurse mit ihm gemeinsam habe. Ist er einfach jemand, der andere klein machen muss, um sich selbst groß zu fühlen? Oder ist mein Glaube tatsächlich nicht mehr zeitgemäß? Biete ich meinen Schulkameraden schon rein äußerlich Anlass für Spott? Ich sehe an mir herunter. Enganliegende Jeans, modisches Top. Nicht das, was man als super sexy bezeichnen würde, aber auch keinesfalls spießig. Ich trage ähnliche Klamotten wie viele aus meiner Stufe. Und auch der kleine Kreuzanhänger, den ich schon seit meiner Erstkommunion an einer Halskette trage, ist weit davon entfernt auffällig zu sein. Wieso also hat Kilian sich so auf mich eingeschossen?

„Fertig.“

Elias reißt mich aus meinen Gedanken und ich schlucke hastig die Tränen hinunter, die schon wieder in meiner Kehle brennen. Hastig überfliege ich die Verbliste, die mein Bruder erstellt hat, kann mich aber nicht richtig darauf konzentrieren. Außerdem muss ich schon wieder los.

„Super, machst du den Rest mit Ruth oder Mama, wenn sie wieder da ist?“

Elias seufzt, nickt aber. Ich stelle hastig mein Geschirr in die Spülmaschine, schlüpfe noch einmal ins Bad und sitze drei Minuten später wieder auf dem Rad.

 

Im Büro des Seelsorgeteams der Uniklinik treffe ich auf Petra.

 

Wie immer, wenn wir uns sehen, breitet sich ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht der Pfarrerin aus.

„Hallo Judith, wie schön, dich zu sehen.“

Wenn sie wüsste, wie gut diese Worte heute tun. Ihre kurze, aber herzliche Umarmung tut ihr Übriges. Beinahe muss ich schon wieder losheulen, aber ich blinzle die Tränen energisch weg. Hier ist alles gut.

„Gibt es etwas Besonderes?“, erkundige ich mich, sobald ich meine Jacke aufgehängt habe.

„Du weißt doch, hier ist jeder Tag etwas Besonderes“, erwidert Petra augenzwinkernd. „Frau Walther ist seit gestern wieder auf Station.“

Ich seufze in meine Teetasse, die Petra mir gerade gereicht hat. Es ist also wieder so weit. Zum ersten Mal habe ich Frau Walther vor zwei Jahren getroffen, als ich während meiner Firmvorbereitung ein Praktikum bei der Krankenhausseelsorge gemacht habe. Seitdem war sie immer mal wieder stationär hier.

„Das Übliche?“

Petra nickt. Frau Walther ist alt, ihr Herz schwächelt schon seit Längerem und immer wieder hat sie mit Wassereinlagerungen zu kämpfen. Schon seit unserem ersten Zusammentreffen haben wir einen guten Draht zueinander, und so ist es für mich auch jetzt selbstverständlich, sie zu besuchen.

Gemeinsam mit der Pfarrerin betrete ich das Krankenzimmer und weiche beim Anblick der alten Frau beinahe wieder einen Schritt zurück.

 

Seit ihrem letzten Aufenthalt hier scheint Frau Walther um Jahre gealtert zu sein.

 

Ihr Gesicht ist grau und eingefallen und die Adern auf ihren Händen treten blau-lila hervor. Ganz langsam dreht sie den Kopf, als wir eintreten, ihre Augen sehen uns müde entgegen.

„Guten Tag, Frau Walther. Schauen Sie mal, heute komme ich nicht allein.“

Petra macht einen Schritt zur Seite, sodass Frau Walther mich besser sehen kann. Ich habe mich inzwischen wieder gefangen und lächle ihr entgegen.

„Das ist aber schön“, sagt Frau Walther. Ihre Stimme ist leise und schwach, aber die Freude darin ist nicht zu überhören.

Petra wechselt ein paar Sätze mit Frau Walther und lässt uns dann allein. Ich setze mich auf den Stuhl neben dem Patientenbett. Frau Walther lächelt sanft.

„Das freut mich, dass du mich besuchst, Judith.“ Sie streckt ihre dünne, faltige Hand nach meiner aus und ich nehme vorsichtig ihre Finger zwischen meine.

„Natürlich komme ich, wenn Sie hier sind. Wie geht es Ihnen?“

Frau Walther lacht heiser. „Ich fürchte, ich bin nicht mehr in Party-Stimmung. So sagt ihr jungen Leute doch?“

Ich muss lachen. Frau Walther hat immer mal wieder Slang-Wörter, die sie aufgeschnappt hat, in ihre Sätze eingebaut. Nicht immer findet sie den richtigen Zusammenhang, aber diesmal scheint es zu passen.

„Das ist in Ordnung. Ich bin auch nicht in Party-Stimmung“, gebe ich zu.

 

„Na dann machen wir das ein andern Mal.“

 

Es klingt fast so, als hätte Frau Walther wirklich die Absicht, nach ihrem Krankenhausaufenthalt irgendwo das Tanzbein zu schwingen. Ob sie selbst daran glaubt, weiß ich nicht, aber allein die Behauptung lässt ihr Gesicht für einen Moment jünger aussehen. Ob sie als junge Frau wohl viel ausgegangen ist?

„Möchten Sie trotzdem ein bisschen Musik hören?“ Ich erinnere mich plötzlich daran, dass wir im vergangenen Jahr einmal das Fenster geöffnet haben, als Bauarbeiter draußen das Radio eingeschaltet hatten.

Frau Walther sieht mich überrascht an. „Hast du denn ein Radio?“

Ich schüttle den Kopf und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. „Darüber können wir auch Musik hören.“

„Du liebes Bisschen! Dass auf so ein kleines Gerät ganze Schallplatten passen.“

„Ja, das ist erstaunlich“, sage ich lachend. „Haben Sie ein Lieblingslied?“

„Na, ist das denn auch auf diesem Apparat?“

Wahrscheinlich würde es zu weit führen, ihr die Raffinessen von Mediatheken und Streamingdiensten zu erklären. Daher sehe ich sie zuversichtlich nickend an.

Für mich soll’s rote Rosen regnen“, verrät Frau Walther schließlich und ich habe nach nur zwei Sekunden den entsprechenden Titel gefunden. Zuerst macht sie große Augen, dann aber singt sie leise mit.

Ein entspanntes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht, als das Lied endet und ich spüre, wie auch mein Mund sich wieder zu einem Lächeln formt. Ich habe nicht viel gemacht, außer ein Lied abzuspielen. Die Wassereinlagerungen in ihren Beinen, konnte ich Frau Walther nicht nehmen. Trotzdem ist deutlich zu sehen, dass es ihr besser geht als vor einer halben Stunde. Und mir auch.

„Danke, dass du hier warst“, sagt sie zum Abschied und ich muss schon wieder schlucken. Vielleicht hat Frau Walther mir heute mehr geholfen als ich ihr.

 

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