Kapitel 14 - Ein Schritt zu dir

Judith

Fluchend bleibe ich stehen, als die Ampel vor mir auf rot springt. Ausgerechnet jetzt, wo ich sowieso schon zu spät bin. Ich wollte noch schnell ein paar Einkäufe erledigen, und natürlich war nur eine Kasse offen und der Laden völlig überfüllt. Hätte ich mir eigentlich auch denken können, schließlich ist morgen Feiertag. Jetzt sind es nur noch drei Minuten bis zum Treffen mit Freddy, und die Ampeln in unserem Viertel scheinen sich gegen mich verschworen zu haben. Ich lehne mich gegen den Ampelmast und schicke Freddy eine Sprachnachricht, dass ich mich vermutlich verspäte.

Als ich endlich am Kaiser-Friedrich-Ufer ankomme und Freddy am Brückengeländer stehen sehe, wirkt er allerdings nicht sehr ungeduldig. Eher nachdenklich. 

Die Unterarme aufs Geländer gestützt, schaut er auf den Kanal.

 

Sein lockiges Haar ist im Nacken zu einem Knoten gebunden, der halb im Kragen seines Hoodies verschwindet, und ein paar vorwitzige Locken fliegen ihm in die Stirn.

Es liegt bestimmt nicht an der Nachmittagssonne, die für Ende Oktober noch recht intensiv ist, dass mir warm wird. Am liebsten würde ich meinen Schritt noch einmal mehr beschleunigen und auf ihn zustürmen. Aber am Ende erschrecke ich ihn noch, so gedankenversunken, wie er gerade ist. Also drossle ich das Tempo und gehe langsam auf ihn zu.

„Hi“, sage ich leise, wobei ich meinen Herzschlag bis in meiner Kehle spüre.  

Freddy löst sich vom Geländer und dreht sich zu mir um, ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Wie schon bei unserem letzten Treffen erwidert er meine Umarmung erst nach einer Sekunde. Mist, warum fällt mir erst jetzt ein, dass er es vielleicht nicht mag, umarmt zu werden? Zumindest nicht von Leuten, die er erst ein paar Mal gesehen hat. So wie mich.

„Sorry“, murmle ich, und meine sowohl meine vielleicht etwas überstürzte Begrüßung als auch meine Verspätung. „Wartest du schon lange?“

„Keine Ahnung, hab nicht auf die Uhr geschaut. Aber schön, dass du jetzt da bist.“

Zwei Sätze. Zwei Sätze, von denen jedes Wort in jede Faser meines Körpers einzudringen scheint. Freddys Nachrichten zu lesen ist das eine, seine Lieder zu hören, das andere. Aber dass er auch beim Sprechen eine so sanfte und melodische Stimme hat, fällt mir jetzt zum ersten Mal auf.

 

Ich will mehr davon.

 

Zum Glück lässt er sich auf meine Fragen ein und erzählt bereitwillig von der letzten Woche in der Berufsschule. Gemächlich schlendern wir den Fußweg am Kanal entlang, aber ich achte kaum auf den Weg. Freddy schafft es, mit seinen Worten, mir Bilder direkt in den Kopf zu malen, und mir kommt es vor, als wäre ich mit ihm und seiner Klasse bei der Wanderung dabei gewesen. Erschrocken mache ich einen Satz, als er mir erzählt, wie ein Mitschüler abgestürzt ist. Das wilde Läuten einer Fahrradklingel lässt mich gleich noch einmal zusammenzucken, und ich stelle fest, dass ich mitten auf dem Radweg stehe. Freddy zieht mich am Ärmel zu sich.

„Oh Gott, ist ihm was passiert?“, frage ich, sobald der Fahrradfahrer an uns vorbeigefahren ist und ich mich etwas beruhigt habe.

„Nee, nichts Schlimmes. An der Stelle ging es zum Glück nicht tief runter. Eine verstauchte Hand und eine Spider-App auf seinem Handy. Aber das war trotzdem selten dämlich.“

„Tja, das Geländer steht da wahrscheinlich aus einem Grund.“

Freddy schnaubt, schüttelt den Kopf und streicht sich eine Locke aus der Stirn. „Ich check einfach nicht, wie man so verantwortungslos sein kann.“

Seine veränderte Stimmlage lässt mich aufhorchen. Das Sanfte ist verschwunden und hat einer deutlichen Spur Ärger Platz gemacht, die ihn seltsamerweise jedoch nicht aggressiv, sondern vielmehr verletzlich wirken lässt.

„Du wärst nicht so leichtsinnig?“ Unwillkürlich fallen mir diverse Leute aus meiner Stufe ein, für die es beinahe normal ist, sich gegenseitig herauszufordern und über die Stränge zu schlagen.

Freddys Gesichtszüge verhärten sich und die Kiefermuskeln mahlen sichtbar gegeneinander. „Nein“, antwortet er düster.

„Wieso nicht?“

 

„Ich bin nicht allein auf der Welt.“

 

Okay, diese Antwort ist definitiv nicht das, was ich erwartet habe. Sie klingt so abgeklärt, als wäre er viel älter als neunzehn und hätte schon mehr erlebt als in unserem Alter üblich. Mir fällt unser Gespräch in Planten un Bloomen ein, als er kurz seine Mutter erwähnte. Ich zögere, ob ich die Frage, die mir auf den Lippen brennt, wirklich stellen soll. Sein Reaktion von damals ist mir noch sehr präsent und ich will ihn nicht wieder in die Flucht schlagen. Schlechtes Gewissen regt sich in mir, weil ich vor allem nicht will, dass er geht und mich allein lässt, dass die Wärme, die von ihm ausgeht, verschwindet. Weil ich weiter seine Stimme hören will. Oh Mann, bin ich wirklich so egoistisch?

Mit gesenktem Blick gehe ich neben Freddy her, mustere ihn alle paar Sekunden verstohlen aus den Augenwinkeln. Eine Fingerspitzen reiben gegeneinander, während er nachdenklich vor sich hin starrt, so wie eben auf der Brücke.

Ich atme tief durch. „Hat es mit deiner Mutter zu tun?“, frage ich leise.

Wie von einer unsichtbaren Wand gebremst, bleibt er stehen, sein Gesicht mir zugewandt, aber er sieht mich nicht an. In seinen Augen liegt Schmerz und Angst, ein Ausdruck, den ich in der Klinik schon oft gesehen habe.

„Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht möchtest“, sage ich rasch, als er schwer atmend einen Schritt vor mir zurückweicht.

Freddy schließt die Augen, lehnt sich an das Geländer, das den Weg zur Uferböschung abtrennt, und senkt den Kopf, während seine Fingerspitzen unentwegt aneinanderreiben. Er weint nicht. Nicht so wie viele der Patientinnen und Patienten, mit denen ich zu tun habe. Aber die Anspannung ist ähnlich. Was immer es ist, es beschäftigt ihn. Gern würde ich ihn in den Arm nehmen, aber ich halte den Abstand ein, den er zwischen uns gebracht hat, atme ruhig ein und aus und warte.

Schließlich sieht er auf und nickt leicht. „Ja, wegen meiner Mutter.“

Er müsste meinetwegen nicht weitersprechen, aber er tut es trotzdem, auch wenn er mich dabei nicht ansieht, aber das ist okay.

„Sie leidet schon seit Jahren unter chronischen Schmerzen, deshalb nehme ich ihr im Haushalt so viel wie möglich ab.“

„Deshalb hat dir Bayern nicht in den Kram gepasst?“

Freddy nickt. „Finn hilft zwar auch viel, aber ich will ihm nicht so viel Arbeit auflasten. Er ist schließlich erst dreizehn.“

„Was ist mit deinem Vater?“

 

Mist, Mist, Mist. Wie konnte mir diese Frage rausrutschen?

 

Wenn es einen Vater gäbe, hätte Freddy ihn doch schon erwähnt.

Er lacht auf. „Der glänzt seit zwanzig Jahren durch Abwesenheit.“

„Entschuldige, das war unsensibel. Ich hätte das nicht fragen sollen.“

„Schon okay. Mama, Finn und ich funktionieren gut zu dritt.“ Freddy lächelt und macht zu meiner großen Erleichterung wieder einen Schritt auf mich zu. Offenbar nimmt er mir meine Frage nicht übel.

„Das glaube ich. Man merkt, wie wichtig sie dir sind. Toll, dass du dich so um sie kümmerst.“

Freddy zuckt mit den Schultern. „Ich bin kein Held oder so. Ich mach einfach nur, was gemacht werden muss.“

Ich will etwas einwenden. Es gibt genug Menschen, die nicht einmal tun, was nötig ist, und die älter und finanziell sicher besser aufgestellt sind als Freddy. Aber Freddy schüttelt den Kopf und behauptet, mich lang genug mit seinem Kram belastet zu haben.

„Wie war dein Wochenende?“

Ich ahne, dass Freddy mir bereits mehr anvertraut hat als er sonst womöglich anderen erzählt, deshalb lasse ich mich auf den Themenwechsel ein, obwohl ich nichts Spannendes zu berichten habe.

„Samstag war ich mit Lernen beschäftigt und gestern hatten wir einen Workshop für die Ministranten.“

„Für wen?“ In Freddys Blick spiegeln sich hundert Fragezeichen.

„Ministranten, Messdiener“, sage ich und suche nach einer Erklärung. „Das sind die Kinder und Jugendlichen, die in der Kirche den Altardienst machen, also zum Beispiel Brot und Wein zum Altar bringen.“

Freddy zieht die Augenbrauen in die Höhe. „Du gehst zur Kirche?“

 

Ist das Überraschung, Belustigung?

 

Mit einem Mal kann ich seinen Tonfall nicht mehr deuten. Alles in mir verkrampft sich und mein Herz fühlt sich an, als hätte jemand einen Knoten reingedreht.

„Ja, willst du dich auch darüber lustig machen?“ Kaum wage ich, ihn anzusehen. Ich will nicht den gleichen Spott wie bei Kilian oder den anderen in seinem Gesicht sehen. Aber ein winziger Funke Hoffnung, dass Freddy nicht so ist wie meine Klassenkameraden lässt mich doch wieder aufsehen.

Eine tiefe Falte zieht sich senkrecht über Freddys Stirn. „Nein, warum sollte ich?“

Er wirkt irritiert über die Frage.

„Du wärst nicht der Erste“, murmle ich und kann mich nicht dagegen wehren, dass die Bilder aus dem Video sich vor meinem inneren Auge abspielen. Freddy streckt die Hand aus, berührt mit den Fingern sanft meinen Arm, hält mich fest, sodass ich stehen bleiben muss.

„Wie meinst du das?“, fragt er. Seine grünen Augen ruhen besorgt auf mir und sehen mich so ernst an, dass der Knoten in meinem Herz sich schmerzhaft löst, und ich nur mit Mühe die Tränen zurückhalten kann. Ich könnte ihm von dem Video erzählen, das sehe ich ihm an, er würde mich nicht auslachen, aber ich bin noch nicht soweit, diesen Schmerz zu teilen.

„Die in meiner Schule machen Sprüche deswegen“, sage ich vage.

Freddy verdreht kopfschüttelnd die Augen. Ob er schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht hat?

„Vielleicht bin ich ja auch wirklich komisch, dass ich in die Kirche gehe.“

„Bist du nicht“, erwidert Freddy bestimmt. „Ich hab zwar keine Ahnung von Kirche, aber wenn es dir wichtig ist, sollte sich niemand deswegen über dich lustig machen.“

Jetzt brennen meine Augen doch. Irgendwo tief in mir weiß ich es eigentlich, aber in den letzten Wochen ist diese Gewissheit zu einem sehr dünnen Stimmchen geworden; es ist okay, wie ich bin.

„Danke“, flüstere ich und wische mir über die Augen.

Freddy lächelt. „Klar.“

Die Enge in meinem Innern weicht vor der Wärme, die aus seinem ruhigen Blick strahlt und sich in mir ausbreitet. Am liebsten würde ich mich eng an ihn drücken und mein Gesicht in seinem Pullover vergraben …

 

Hilfe, was denke ich denn da?

 

Bevor ich etwas unüberlegtes tue, bringe ich vorsichtshalber ein paar Zentimeter Sicherheitsabstand zwischen uns und atme ein paarmal tief durch.

„So, jetzt haben wir aber genug Depri-Themen für heute behandelt, oder?“

„Definitiv.“ Lachend steckt er die Hände in die Jackentaschen und schlendert neben mir die Straße entlang.

Während wir durch die Straßen des Generalviertels laufen, merke ich, wie angenehm es ist, mit ihm zu schweigen. Keine drückende Stille, die wir überwinden müssten, kein krampfhaftes Suchen nach Gesprächsthemen. Wir finden ein gemeinsames Tempo, laufen schließlich sogar im Gleichschritt, wie ich mit einem amüsierten Lächeln feststelle, und als wir unter ein paar Kastanien, die die Straße säumen, beide tief einatmen, müssen wir lachen.

„Ich liebe den Geruch von Herbst“, sage ich. „Dieses Erdige.“

Freddy bückt sich und hebt eine Kastanie auf, die goldglänzend aus ihrer grünen Schale schaut, und wiegt sie in der Hand. „Ich mag Kastanien, es ist irgendwie beruhigend, sie in der Hand zu halten.“

Ich finde ebenfalls eine frische Kastanie, und so laufen wir die nächsten Straßenzüge jeder mit seiner Kastanie in der Hand. Die alten, herrschaftlichen Häuser weichen modernen Neubauten, bis wir schließlich in eine Kleingartenanlage abbiegen. Ein Weg, den ich schon oft auf Spaziergängen abgelaufen bin, und auf dem Freddy mir einfach gefolgt ist, obwohl ich an seinen erstaunten Blicken erkennen konnte, dass er noch nie hier war. Hätte ich ihn fragen sollen, woher er kommt? Als ich für unseren Spaziergang das Kaiser-Friedrich-Ufer als Treffpunkt vorgeschlagen habe, hat er ohne Weiteres zugestimmt. Vielleicht kommt er aus einer anderen Ecke von Eimsbüttel?

Er scheint es hier jedenfalls zu genießen.

 

„Früher hab ich mir so ähnlich immer Hobbingen vorgestellt“,

 

sagt er lachend und deutet auf die bunten Lauben um uns herum.

„Echt? Bisschen spießig, oder? Haben Hobbits Gartenzwerge?“, frage ich mit Blick auf eine imposante Sammlung in dem Garten zu meiner Linken.

„Keine Ahnung, aber für mich wirkte es immer wie ein kleines Paradies.“

„Habt ihr einen Garten?“

„Nein, nur einen kleinen Balkon. Und ich bin echt schlecht mit Pflanzen. Aber ich glaube, ich würde es gern können, säen und ernten und so.“

„Ich hab eine Yucca-Palme in meinem Zimmer, aber das ist auch die einzige Pflanze, um die ich mich kümmern muss“, gebe ich lachend zu. Für eine Selbstversorgerfarm wäre ich wahrscheinlich auch nicht die richtige. Nicht so wie die Eigentümer des Gartens, an dem wir gerade vorbeilaufen. Wie kann ein Garten selbst Ende Oktober so schön und aufgeräumt und irgendwie heimelig aussehen? Ein paar Kürbisse im Beet, Grünkohl und dazwischen eine Vogelscheuche in kariertem Flanellhemd.

„Komm, wir suchen uns unsere Lieblingsgärten aus“, schlage ich vor und ziehe Freddy am Ärmel weiter in einen der Wege zwischen den Parzellen.

Entlang der ersten zwei Wege finde ich keinen Garten, der mich mehr begeistert als der mit der Vogelscheuche. Aber im dritten verliebe ich mich spontan in ein weißes Gartenhäuschen mit blauem Fensterrahmen. Über dem Weg steht ein weißer Rankenbogen, an dessen Streben sich Rosenzweige lehnen, die natürlich längst verblüht sind, aber trotzdem noch erahnen lassen, wie schön es im Sommer ausgesehen haben muss. Ich bleibe vor dem Tor stehen und schaue in diese Jane Austen Idylle.

„Jane Austen? Ist das diese Mr. Darcy Story?“, fragt Freddy skeptisch, als ich ihm meine Assoziation mitteile.

„Ja, unter anderem. Ihre Geschichten sind wundervoll, kennst du sie?“

Freddy schüttelt den Kopf. „Ich lese nicht so viel. Und diese kitschigen Liebesstorys … ich weiß nicht.“

„Banause“, erwidere ich gespielt beleidigt und puste mir schnippisch eine Strähne aus der Stirn.

„Sorry, wenn ich deine Süßer-Liebeslied-Sänger-Assoziationen zerstöre“, sagt er schulterzuckend.

„Süßer Sänger? Sprichst du von dir?“, frage ich und hoffe, dass mir der spöttische Tonfall gelingt. Tatsächlich kommt Freddy mit seinem Spruch der Wahrheit erschreckend nahe. Zwar singt er bei Escape keine Liebesschnulzen, aber die Texte sind doch alle gefühlvoll. Einen Sinn für Romantik hätte ich ihm zugetraut.

Aber Freddy bleibt am Ende des Weges vor einem sehr zugewachsenen Garten stehen. Das Gartentor hängt schief in den Angeln, der Weg dahinter wird von wildwucherndem Gras mehr als nur eingerahmt, und die Gartenlaube ist hinter ein paar Büschen nur zu erahnen.

„Das gefällt mir.“

„Urwüchsig“, versuche ich, einen halbwegs positiven Begriff für diese Verwahrlosung zu finden.

„Geheimnisvoll“, widerspricht Freddy. „Wie bei Robinson Crueso.“

Und wie er, schießt es mir durch den Kopf. Obwohl er heute ein bisschen von sich erzählt hat, ist der Großteil von ihm noch ein Mysterium. Eins, das ich gern ergründen würde, wenn er mich lässt.

vorheriges Kapitel                                                                              nächstes Kapitel

Kommentar schreiben

Kommentare: 0