Kapitel 15 - 31 Days of Rain in November

Freddy

„Ja, moin“, ruft Joshie und spielt einen Trommelwirbel, bei dem jeder Spielmannszug neidisch werden könnte. Ich stelle meine Gitarren ab und werfe die Jacke über einen Stuhl.

„Vielen Dank“, sage ich lachend, verbeuge mich und ziehe einen imaginären Hut.

Kristina fällt mir zur Begrüßung um den Hals, mit Ben und Johnny schlage ich nur mit der Hand ein.

„Endlich wieder vereint“, sagt Kris und setzt sich gleich wieder ans Klavier. „Husch, husch, pack aus, damit wir anfangen können.“

Sie grinst, aber ich sehe es ihr an den auf und ab tanzenden Fingern an, dass sie es kaum erwarten kann, zu starten. Als ob es mir anders gehen würde! Ich habe lang genug auf die Bandprobe hingefiebert. 

Wie üblich jammen wir ein paar Minuten einfach drauf los,

 

spielen uns Akkorde zu, wiederholen Riffs, summen Melodien mit. Es ist schon öfter vorgekommen, dass aus diesen Improvisationen Songs entstanden sind. Heute beendet Ben die Jam-Session allerdings mit einem energischen Räuspern. Wir haben ihn nie direkt zum Band-Leader erkoren, aber trotzdem folgen wir normalerweise seinen Vorschlägen. Vielleicht weil er der Älteste von uns ist und sich im Gegensatz zu uns andren nicht mehr mit Schule oder Ausbildung herumschlagen muss. Bislang haben sich Bens Ideen auch immer als gut erwiesen.

„Sechs Wochen ohne gemeinsame Probe, Leute, wir haben ein bisschen aufzuholen, wenn wir beim Wettbewerb ne Chance haben wollen.“ Ben zählt auf, was noch alles vor uns liegt. Aufnahmen von Liedern, Social Media Beiträge, neue Gigs klarmachen, jeder Punkt für sich ist schon aufwändig genug, in Masse wirkt es nahezu überwältigend.

Der Werbejingle eines Telefondienstes erklingt. Wir sehen uns zu Kristina um, die lächelnd ihre Finger von der Tastatur hebt. „Wir sollten das aufteilen und in kleine Schritte zerlegen. Lasst uns mit Freddys neuem Song anfangen.“

Mir ist klar, dass die Aufgaben dadurch nicht weniger werden, aber ich bin froh über den Vorschlag, erstmal wieder Musik zu machen.

„Yes, first things first“, pflichtet Joshie Kris bei, die Sticks dabei wie immer in wilden Bewegungen zwischen ihren Fingern drehend. Kurz darauf stecken wir mitten im Arrangement von 31 days of rain in november. Schmetterlinge flattern in meinem Bauch, nervöse Vorfreude kribbelt in meinen Fingerspitzen und bringt sie ebenso zum Vibrieren, wie die Stahlseiten, die ich anschlage. Ich liebe dieses Gefühl, wenn aus einer Idee ein fertiges Lied wird. Kris spielt uns vor, was sie sich überlegt hat, Ben steigt mit ein paar rhythmischen Akkorden ein, und in meinem Kopf fügt sich alles schon zusammen. Das wird großartig.

„Nice!“, sagt Johnny, als wir Strophen, Refrain und Bridge arrangiert haben.

 

„Jetzt mal live und am Stück.“

 

Ohne weitere Worte nicke ich den anderen zu, lege die Finger auf die Saiten und beginne mit den ersten Akkorden. Ich spiele ein paar Takte und Kris ergänzt dazu einzelne Töne, die wie Regentropfen zwischen meine Akkorde fallen.

 

Birds under a gloomy sky

Heading for the south

Say, who told them where to go

And can he tell me, too?

I’m struggling what way to choose

Can’t even see a path

If I got to cross a hedge of thorns

Where do I get a sword?

 

Feels like 31 days of rain in november

Thought it’d be over, but there’s still one more

31 days of rain in november

I’m torn and all alone

 

Stille legt sich über den Proberaum, als der Song vorbei ist und wir die Hände langsam von unseren Instrumenten nehmen. Es ist nicht meine Art, mich selbst zu loben, aber gerade bin ich schon ein bisschen stolz, vor allem aber ziemlich hyped. Der Song klang noch besser als ich mir vorgestellt habe. Und obwohl ich während des Singens jede Zeile komplett gefühlt habe, regt sich in mir jetzt vor allem das Bedürfnis, mich bei den anderen zu bedanken.

 

„Ihr seid genial, wisst ihr das?“

 

„Selber“, kommt es von Joshie. „Echt mal, das ist einer der besten Songs, die du je geschrieben hast.“

Kopfschüttelnd winke ich ab, auch wenn mir bei Joshies Lob ganz warm wird. Ihre Anerkennung ist immer aufrichtig, genau wie ihre Kritik. Mit letzterer halten sich heute jedoch alle zurück. Johnny grinst mir, halb verdeckt unter dem Schirm seines Basecaps, zu – er ist wohl der einzige, der den Hintergrund des Songs kennt – und selbst Ben, für den es nicht schlechter als perfekt sein darf, hebt anerkennend die Augenbrauen.

„Mega. Wirklich. Habt ihr Bock, am Sonntag live zu gehen und den Song zu streamen?“

Ich schlucke. Bens Vorschlag kommt einem Ritterschlag für 31 days gleich. Irgendwann im letzten Jahr haben wir angefangen, regelmäßig bei Twitch zu streamen. Meistens Jamsessions oder erste Song-Ideen, bei denen unsere Zuschauer ihren Senf dazugeben konnten, aber auch ein Konzert haben wir schon über die Plattform gestreamt. Die Begeisterung der Leute für unsere Musik in den Kommentarspalten zu lesen, ist cool, macht aber längst nicht so viel Spaß wie ein richtiger Gig, bei denen wir das Publikum auch sehen können. Allerdings ist ein Live-Stream als Marketing nicht zu verachten, bei den letzten Konzerten waren immer mehr Leute da, wenn wir vorher auch gestreamt hatten. Aber mein Song ist noch so neu, ist es nicht etwas zu früh, ihn einem breiteren Publikum zu präsentieren?

„Ach, was“, sagt Kristina und wirft ihren langen Zopf von der einen über die andere Schulter. „Glaubst du, der Song wird noch besser?“

„Nein.“ Das kann ich mir kaum vorstellen.

„Seh ich auch so“, sagt Ben nickend. „Also, Sonntag, 20 Uhr?“

Unwillkürlich greife ich die Saiten meiner Gitarre fester. Ich bin gerade erst wieder ein paar Tage zu Hause, doch lang genug, um zu sehen, wie müde Mama ständig ist. Kann ich sie und Finn schon wieder einen Abend allein lassen?

Ich sehe Johnny, Kris und Joshie nicken, ihre Handys zücken und den Termin eintragen. In die Euphorie und Dankbarkeit von eben mischt sich ein bitterer Geschmack und ich presse den Zeigefinger so fest auf die Stahlsaite, dass ich mir nur mit Mühe einen Aufschrei verkneifen kann. Die Band, die Musik, das alles hier, ist das, was ich will. Wenn wir Erfolg haben wollen, muss ich mehr einsetzen. Aber wie hoch darf der Einsatz sein?

„Freddy, bist du dabei?“ Ben sieht mich forschend an. Sein Blick ist abwartend, doch die leicht vorgebeugte, angespannte Körperhaltung zeigt mir, dass er eine Ablehnung nur schwer akzeptieren wird.

„Ja, klar“, höre ich mich sagen. Mein Gewissen sitzt mir dabei so dicht in der Kehle, dass ich nicht mehr schlucken kann.

 

Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir ein anderes Leben.

 

Finn hebt nur die Hand, als ich nach Hause komme, den Kopf weiter über die Schulbücher gebeugt.

„Hi, alles klar?“

Er brummt nur etwas und ich lasse ihn in Ruhe, um das Essen für morgen vorzubereiten. Gerade als ich die Möhren geschält und kleingeschnitten habe, öffnet sich die Haustür und kurz darauf steht Mama in der Küche.

„Hallo Freddy.“ Sie legt mir einen Arm um die Schulter und bettet für eine Sekunde den Kopf darauf. Als sie ihn wieder hebt, sehe ich die dunklen Schatten unter ihren Augen, die ihr dezentes Make-Up nicht verdecken kann. Ihr glasiger Blick und die herabhängenden Schultern vervollständigen das Bild. Kein Wunder, eigentlich hätte sie längst zu Hause sein sollen. Ich atme tief durch, um die aufsteigende Wut niederzuringen, schiebe die Möhren dafür umso energischer in den Topf.

„Musstest du wieder Überstunden machen?“, frage ich und gebe mir alle Mühe, es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen.

„Ich hatte einen etwas anstrengenden Kunden. Es hat ewig gedauert, das zu protokollieren.“

Ich nicke stumm. Gefühlt hat Mama in jeder Schicht mindestens einen anstrengenden Kunden mit einer Beschwerde. Ich rühre rasch die Möhren um und ziehe einen Teller aus dem Schrank.

„Dann iss jetzt in Ruhe, Finn hat Ravioli gemacht.“

Meine Mutter lächelt müde und schüttelt den Kopf. „Danke, aber ich gehe sofort ins Bett. Ich bin fix und fertig und morgen habe ich die Frühschicht.“

„Mama, du musst was essen“, erwidere ich, diesmal ohne den Vorwurf zu verbergen. Es ist nicht gut, wenn sie ihre Medikamente ohne Grundlage nimmt. Aber das ist nicht einmal meine größte Sorge. „Warum hast du heute Spät- und morgen Frühschicht? Wieso hast du überhaupt Frühschicht?“

„Ich habe morgen Mittag noch einen Arzttermin, deshalb habe ich meine Schicht getauscht.“

„Schaffst du das?“

Mama legt mir ihre Hand auf die Schulter und sieht mich streng an. „Freddy, ich bin deine Mutter, nicht du meine. Es geht schon. Muss ja.“ Letzteres flüstert sie nur, aber es ist deutlich genug.

Alarmiert sehe ich sie an. Diesen Ausdruck in ihrem Gesicht, eine Mischung aus Sorge, Erschöpfung und einem Hauch Trotz, trägt sie jedes Mal, wenn es um unsere Finanzen geht. „So schlimm?“

 

Sie zuckt hilflos mit den Schultern.

 

„Wenn die Heizkosten nicht wieder steigen, geht’s noch.“

„Ansonsten geh ich noch Zeitungen austragen oder so.“

Trotz ihrer Müdigkeit sieht Mama plötzlich sehr entschieden aus. „Du konzentrierst dich auf deine Ausbildung. Es ist wichtig, dass du einen Abschluss hast.“

„Klar, von deinem Abschluss kannst du dir ja auch richtig viel kaufen.“

Warum habe ich das gesagt? Es ist nicht Mamas Schuld, dass sie krank geworden ist, dass sie nicht mehr in ihrem alten Job arbeiten kann, dass sie überhaupt nur noch eingeschränkt arbeitsfähig ist. Die Wut überfällt mich wie Blitzeis. Es ist einfach nicht fair. Nach all dem Scheiß, der in den letzten Jahren passiert ist, hätte Mama einfach etwas Ruhe verdient. Die braucht sie auch dringend, wenn das mit den Schmerzen nicht immer schlimmer werden soll. Stattdessen quält sie sich jeden Tag zur Arbeit, nur um sich dort am Telefon von unzufriedenen Kunden anschnauzen zu lassen.

Heftig schlage ich das Küchenhandtuch auf die Arbeitsplatte und balle meine Hände zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortreten.

„Fuck“, presse ich zwischen zusammengebissen Zähnen hervor. Auch wenn niemand es gehört hat, meine Mutter ist längst im Bad verschwunden, tut es gut, den Fluch ausgesprochen zu haben. Ich räume die Küche auf, kritzle noch rasch ein paar Notizen in mein Ausbildungsheft und gehe Richtung Bett.

Anders als vermutet liegt Finn noch nicht im Bett, sondern hockt halb umgezogen auf dem Boden unseres Zimmer und packt seine Schultasche.

„Hausaufgaben fertig?“, frage ich und fühle mich gleich selbst genervt von mir. Kein Wunder, dass mein Bruder nur unwillig knurrt.

„Sorry. Geht’s dir gut?“

„Ja, alles okay.“ Die Antwort kommt etwas zu schnell, finde ich, oder kommt mir das nur so vor, weil Finn aufspringt, aus seiner Hose schlüpft und die Leiter zu seinem Bett hochklettert?

„Du weißt, dass du mir alles sagen kannst, oder?“

„Ich weiß“, flüstert er, knipst das Licht aus und dreht sich zur Wand.

Innerlich seufze ich auf. Warum habe ich, seit ich in Bayern war, das Gefühl, dass irgendetwas an mir vorbeigegangen ist?  

 

Das Hamburger Schietwedder macht seinem Namen am nächsten Tag alle Ehre.

 

Gefühlt ist es heute gar nicht richtig hell geworden, die Wolken kleben beinahe an den Dächern und der Regen fällt ohne Pause auf die Welt. Allein die Intensität des Regens bringt ein wenig Abwechslung in das Grau.

Entsprechend verwundert sieht Sven mich an, als ich mir zu Beginn meiner Mittagspause meine Regenjacke und meinen Rucksack schnappe und Richtung Ladentür gehe. „Du willst echt raus?“

„Eine Sauna oder so eine Hütte mit Kamin wäre mir jetzt auch lieber“, erwidere ich schulterzuckend, „aber ich muss ein paar Sachen besorgen.“

„Na dann, viel Glück“, sagt Sven und steckt demonstrativ die Hände in die Tasche seines Hoodies. Kaum zu glauben, dass er echter Hamburger ist.

Allerdings fährt auch mir ein leichter Schauer über den Rücken, als ich in das kaltnasse Wetter hinaustrete. Aber hilft ja nichts. Das Brot ist nur heute im Angebot.

Das ProTone liegt nur ein paar Meter hinter mir, da vibriert mein Smartphone in meiner Jackentasche Mit klammen Fingern ziehe ich es hervor und mir wird noch eine Spur kälter, als ich Finns Namen lese.

„Freddy … ich … ich hab‘ Mist gebaut. Kannst du zur Schule kommen?“

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