Kapitel 16 - Wegweiser gesucht

Judith

„Nur noch heute“, murmle ich, während ich mein Fahrrad vor der Schule anschließe. Nur noch ein paar Stunden Unterricht, dann ist erstmal wieder Wochenende. Obwohl ich weiß, dass ich den Schlüssel umgedreht habe, kontrolliere ich noch einmal, ob das Schloss zu ist. Reine Zeitschinderei. Ich lache bitter in die kalte Novemberluft. Früher war ich meist schon zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn hier, habe mit Helena und anderen Klassenkameraden geredet, manchmal sogar noch schnell Hausaufgaben abgeschrieben oder abschreiben lassen. Jetzt bin ich so knapp dran, dass es bereits zum ersten Mal klingelt, als ich auf das Gebäude zulaufe. 

Knapp nach meiner Deutschlehrerin erreiche ich den Klassenraum, halte mich aber zurück und husche erst nach allen anderen hinein. Still, sehr darum bemüht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, setze ich mich auf meinen Platz am Fenster, und tue so, als wäre ich allein im Raum. Es klappt.

 

Niemand nimmt von mir Notiz oder macht einen Kommentar.

 

Erst als Frau Jespersen die Anwesenheit kontrolliert und meinen Namen vorliest, gebe ich einen Mucks von mir, halte den Blick aber gesenkt.

Meine Lehrerin gibt einen Stapel Kopien herum, Frauke reicht mir stumm einen Zettel und ich überfliege den Text. Ein Gedicht von Johann Peter Zu. Den Namen habe ich nie zuvor gehört, aber da wir uns aktuell mit dem Rokoko beschäftigen, wird es wohl ein Dichter aus jener Zeit sein.

Vereinzeltes Gekicher ertönt, als Ann-Kathrin auf Frau Jespersens Bitte das Gedicht vorliest. Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wangen, um ein Kichern zu unterdrücken. Der Text ist wirklich selten kitschig. Allerdings sind die Elemente der Rokoko-Dichtung, die wir in der vergangenen Stunde durchgenommen haben, gerade zu plakativ, was vermutlich kein Zufall ist.

„Danke Ann-Kathrin. So, welche zentralen Motive erkennt ihr denn in dem Gedicht?“

Es wird still. Ich brauche nicht einmal von meiner Kopie aufzusehen, sondern erkenne an Frau Jespersens vernehmlichem Seufzen, dass sich niemand meldet. Dabei haben wir über diese Motive in der letzten Stunde ausführlich gesprochen. Die Freude, Liebe und Idealisierung und Romantisierung des Landlebens müssten meine Kurskameraden eigentlich erkennen, zumindest diejenigen, die sich, im Gegensatz zu mir, am Unterricht beteiligt haben. In meinem rechten Arm zuckt es und ich umklammere das Handgelenk rasch mit der linken Hand. Es reicht, dass die anderen mich wegen meine Glaubens auf dem Kieker haben. Auch noch als Streber bezeichnet zu werden, brauch ich echt nicht. Zum Glück klappt mein Tarnmodus auch gegenüber Frau Jespersen, die in diesem Moment versucht, Nikita mit der Frage zum Versmaß aus der Reserve zu locken.

„Äh, Moment …“ Mehr oder weniger rhythmisches Klopfen auf der Tischkante ist zu hören, weit entfernt von dem vierhebigen Jambus der ersten Zeile.

„Ein Alexandriner?“, rät Nikita.

Stöhnend lässt unsere Lehrerin ihren Zettel aufs Pult fallen. „Leute, wo seid ihr eigentlich die letzten anderthalb Jahre gewesen? Ihr tut ja so, als sei das eure erste Gedichtanalyse.“

Mit einer energischen Bewegung, deren Luftzug bis zu mir dringt, wendet sie sich zur Tafel um und schreibt die erste Strophe des Gedichts auf.

„Wie viele Hebungen haben wir hier in der Zeile?“

Ich schaue abwechselnd auf mein Blatt und zur Tafel, immer darauf bedacht, nicht völlig abwesend auszusehen oder anders aufzufallen. Es funktioniert.

 

Wer hätte gedacht, dass ich das Verschwinden so professionalisieren kann?

 

Frau Jespersen nimmt jedenfalls keine Notiz von mir und ruft mich kein einziges Mal auf.

Trotzdem bin ich froh, als die Doppelstunde vorbei ist und ich fünfzehn Minuten in der hintersten Ecke des Schulhofs verschwinden kann. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und öffne meinen Chat mit Freddy. Erst heute Morgen hat er wieder geschrieben.

 

Hey Judih, hast du Sonntagabend schon was vor? Wir streamen 31 Days of Rain. Ist aber noch top secret, also, welcher Song. Dass wir live gehen nicht 😉

 

Natürlich habe ich mir den Termin direkt notiert. Zwar kenne ich mich mit Twitch nicht aus, aber sich einen Stream anzusehen, kann ja kein Hexenwerk sein. Meine Frage, ob er mir eine Aufnahme aus der Probe schicken kann, hat er jedoch nur mit einem grinsenden Emoji kommentiert.

 

Du willst mich echt bis Sonntag auf die Folter spannen?

 

Ich liebe die Demoversion, die er mir neulich geschickt hat. Aber seitdem hat er mir auch schon begeistert davon erzählt, dass die anderen tolle Ideen zu seinem Song hatten. Nach allem, was ich bislang von Escape gehört habe, sind die Arrangements bestimmt großartig. Ich kann es kaum erwarten, den fertigen Song zu hören.

 

Nicht direkt, aber ich hab’s gestern nicht aufgenommen. Aber es klingt richtig geil. Kannst dich schon drauf freuen.

 

Als ob das zur Debatte ständ. Ich bin hyped. Mein Herz schlägt wie verrückt in meiner Brust und ich kann nur mit Mühe ein hysterisches Kichern unterdrücken. Bin ich verrückt? So auszurasten wegen eines Songs?

 

Nein, es ist nicht einfach irgendein Lied von irgendeiner Band.

 

Es ist Freddys Song, den er nach unserem ersten Spaziergang geschrieben hat. Ich war abgesehen von der Band die erste, der er den Song gezeigt hat. 31 Days verbindet uns, und in einer rasch wachsenden Ecke meines Herzens hoffe ich, dass daraus noch mehr wird. Oder ist es das nicht schon, mit all den Nachrichten, die wir ausgetauscht haben? Obwohl es nur Kleinigkeiten sind und wir nicht einmal täglich schreiben, kann ich es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Abgesehen von meiner Familie ist Freddy der einzige, bei dem ich mich gerade sicher fühle, vor dem ich mich nicht verstecken und unsichtbar werden will.

Ganz im Gegensatz zu Helena. Anstatt wie früher über die ersten beiden Schulstunden zu reden und Pläne für das Wochenende zu schmieden, grüßen wir uns nur kurz, als jetzt der Matheunterricht beginnt. Seitdem ich das Video auf ihrem Handy gesehen habe und sie mir nicht mehr zu sagen wusste, als dass ich das einfach ignorieren sollte, weiß ich nicht mehr woran ich bei ihr bin. Hat sie sich mit anderen aus unserer Stufe hinter meinem Rücken über mich lustig gemacht? Oder schweigt sie dazu?

Ich weiß nicht, was schlimmer wäre, aber ich kann das Ziehen in meiner Brust nicht ignorieren, als sie ihr Mathebuch neben meinem aufschlägt. Scheiße, wir kennen uns seit der Grundschule, haben alles miteinander geteilt, das kann doch jetzt nicht einfach so vorbei sein.

„Geht’s dir gut?“

Sie zuckt zusammen und sieht mich mit großen Augen an, als ob sie nicht damit gerechnet hätte, dass ich sie ansprechen könnte. Nach ein paar Sekunden erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

„Es geht, ganz gut“, sagt sie und schiebt ihre Brille ein Stück den Nasenrücken hinauf. „Und dir?“, fügt sie leise und mit gesenktem Blick hinzu.

„Okay“, sage ich und bereue die Lüge sofort. „Du fehlst mir.“

Um Helenas Mundwinkel zuckt es. Langsam hebt sie den Blick und nickt. In einem Highschool-Film würden wir uns jetzt dramatisch um den Hals fallen, aber weil unsere Lehrerin in diesem Augenblick mit dem Unterricht beginnt, beschränken wir uns auf eine kurze, aber innige Berührung unserer Hände.

Kaum ist die Stunde vorbei, will ich die Umarmung nachholen. Helena springt jedoch auf und sprintet mit verzweifeltem Gesicht Richtung Tür. Nicht einmal ihre Tasche nimmt sie mit. Ich verkneife mir ein Grinsen. Jetzt weiß ich auch, warum Helena in den letzten zwanzig Minuten so unruhig auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht ist. Ich schultere also meinen Rucksack und nehme auch Helenas Tasche mit nach draußen. Die drei Minuten bis meine Freundin vom Klo zurückkommt, kann ich jetzt auch noch warten. Ich lehne mich an die Flurwand, schließe kurz die Augen und spüre, wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht legt. Helena und ich kriegen das hin, ganz bestimmt, wir …

 

„Haha, wie geil, zeig nochmal.“

 

Mehrstimmiges Lachen ertönt, kurz darauf eine Musik, die mir nur zu bekannt vorkommt, und mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

„Haha, Hallejudith. Ich feier das so.“

„Das erste Video war schon geil, aber das ist noch besser.“

Der Flur vor meinen Augen verschwimmt. Meine Kehle schnürt sich zu und meine Beine sind weich wie Gummi. Es ist wieder passiert. Sie machen weiter und stören sich nicht einmal daran, dass ich alles mitbekomme. Oder wollen sie genau das?

„Was habe ich euch eigentlich getan?“, will ich rufen, aber mir fehlt die Kraft auch nur den Mund zu öffnen.

Raus. Ich muss hier raus. Nicht noch vor den anderen kollabieren. Das Lachen meiner Klassenkameraden hallt in meinen Ohren, während ich halb blind vor Tränen nach draußen stolpere. Durch Gruppen lachender, essender oder spielender Schüler kämpfe ich mich bis zu den Fahrradständern vor, wo ich mich schluchzend auf meinen Sattel stütze und nach Luft ringe. Ich pack das nicht mehr.

Mit zitternden Fingern schließe ich mein Rad frei und fahre vom Schulhof. Scheiß auf die letzten beiden Stunden. Den anderen ist es doch sowieso lieber, wenn ich nicht da bin. Vielleicht sollte ich in die Elbe gehen oder an der nächsten Kreuzung einfach nicht halten, wenn die Ampel auf rot springt. Ob es meinen Klassenkameraden dann leidtun würde?

Ich bremse hart, als mir das Szenario einer schulischen Trauerfeier durch den Kopf schießt.

 

So weit ist es also schon gekommen.

 

Meine Gedanken erschrecken mich so sehr, dass ich vom Rad absteige und es langsam auf dem Bürgersteig neben mir herschiebe. Die kalte Luft lässt mich wieder etwas klarer denken. Ich werde nichts Unüberlegtes tun. Ich schaffe das. Ich brauche nur etwas Zeit. Zeit, um zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu finden.

Ist es Ironie, dass es mich nach einer ziellosen Wanderung durch die Straßen und entlang des Kanals ausgerechnet an einen Ort führt, wegen dem ich gerade ausgelacht wurde?

Den Rucksack zu meinen Füßen sitze ich im Raum der Stille der Klinik und sehe auf das Kreuz und die Kerze. Was soll das alles? Warum können mich die anderen nicht einfach in Ruhe lassen? Wann habe ich ihnen Anlass gegeben, sich über mich lustig zu machen? Gott, wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann sag es mir!

Ich schließe meine Hände um die Kante der Sitzbank und ertaste dabei eins der Hefte mit Impulsen und Gedichten, das wir vom Seelsorgeteam den Patienten hin und wieder mitgeben. Die aufgeschlagene Seite zeigt ein paar Zeilen von Dietrich Bonhoeffer.

 

Gott, lass meine Gedanken sich sammeln zu dir. Bei dir ist das Licht, du vergisst mich nicht. Bei dir ist die Hilfe, bei dir ist die Geduld, ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt den Weg für mich.

 

Stumm summe ich die Melodie zu Bonhoeffers Zeilen. Einmal, zweimal. Beim fünften Mal werde ich ruhiger. Nach dem siebten Mal fällt mir das Atmen wieder leichter, und auch die Tränen versiegen kurz darauf. Langsam stehe ich auf, lege das Heft auf den Altar neben die Kerze und sehe dankbar auf das Kreuz. Ich habe noch keine Antwort auf eine einzige meiner Fragen, aber ich bin froh über die Ruhe, die sich in mir ausgebreitet hat. Und ich weiß, dass mein Weg mich nicht in die Elbe führen wird.

 

Das ist ein Anfang.

 

Eigentlich habe ich heute keinen Einsatz, aber da ich schon einmal hier bin, kann ich auch noch kurz im Büro vorbeischauen und mit Petra schnacken. Vielleicht hat sie Zeit für einen Tee.

Nur wenige Meter vor der Tür zum Zimmer des Seelsorgeteams lehnt eine Frau an der Wand und stützt sich mit beiden Händen am Geländer ab. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt und atmet schwer.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Sie senkt langsam den Kopf, sieht mich aus geröteten Augen an, und da erkenne ich sie. Es ist die Frau, mit der ich vor Kurzem im Raum der Stille gesprochen habe. Die zur Biopsie in der Klinik gewesen war. Ob die Ergebnisse schon da sind? So verzweifelt wie die Frau aussieht, ja, und wahrscheinlich sind sie alles andere als rosig.

„Ach Sie sind das“, sagt sie leise. Sie hat mich also auch wiedererkannt. „Danke, ich …“

Sie schüttelt den Kopf und wischt sich mit einer Hand die Tränen von der Wange. Leider habe ich diesmal keine Taschentücher dabei, schließlich war es auch nicht geplant, dass ich heute hier sein würde.

„Möchten Sie sich setzen?“ Ich deute auf zwei Stühle ein paar Meter weiter.

„Ich glaube, dann stehe ich nie wieder auf.“

„So schlimm?“

Sie nickt, wischt sich über die andere Wange. „Der Biopsie-Befund ist eindeutig. Ich … ich hab …“

Das Wort verlässt ihre Lippen nicht und schwebt doch wie große Neonbuchstaben durch den Flur.

 

„Das tut mir leid, das ist furchtbar.“

 

„Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Die Ärztin hat mir gerade ganz viel erzählt, aber …“

Vorsichtig strecke ich meine Hand aus und berühre ihren Oberarm, und in diesem Moment löst sie sich von dem Geländer, lässt sich in meine Arme fallen und weint stumm. Es ist mir nicht unangenehm, ich bin nur überrascht, weshalb ich erst nach einer Sekunde meine Arme um sie schließe.

„Entschuldigung“, murmelt sie, löst sich aber nur halb aus der Umarmung.

„Das ist in Ordnung. Manchmal ist weinen das Beste, was man machen kann.“

Die Frau nimmt mich beim Wort und weint weiter an meiner Schulter und ich lasse sie gewähren. Vielleicht war es kein Zufall, der mich nach dem Ärger in der Schule in die Klinik geführt hat. Hier werde ich gerade jedenfalls dringender gebraucht als im Englischkurs.   

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