Kapitel 26 - Ich bin bei dir

Judith

Wie üblich stehe ich in der ersten Pause allein am Rand des Schulhofs. Eigentlich hatte ich gehofft, Helena wäre schon hier, aber offenbar dauert ihr Sport-LK heute länger. Es ist immer noch etwas krampfig zwischen uns, weil die Versöhnung vor zwei Wochen so schief gegangen ist, nachdem ich abgehauen bin. Aber wir reden wieder mehr miteinander und hatten uns für die Pause verabredet. Hoffentlich kommt Helena bald.

Obwohl es mir selbst auf den Keks geht, dass ich in der Schule neuerdings so viel am Handy hänge, ziehe ich es auch jetzt hervor und öffne den Chat von Freddy und mir. 

Er hat seit zwei Tagen nicht mehr geschrieben und in der letzten Nachricht ging es nicht einmal um uns, sondern um seine Mutter. Ich vergrößere sein Profilbild, sehe ihn, mit der Gitarre in der Hand, glücklich auf einer Bühne stehen und in die Kamera lächeln. Und ich spüre noch immer seine Umarmung, seinen warmen Atem neben meinem Ohr.

 

Warum musste sein Bruder ins Zimmer platzen?

 

Ich frage mich, ob diese Lippen, die so sanft lächeln und so schöne Worte singen können, auch gut küssen können. Werde ich es jemals erfahren?

Seufzend schließe ich Freddys Foto wieder und lehne mich an die Schulmauer.

 

„Puh, noch so eine Stunde und ich kann locker die doppelte Portion Weihnachtsgans essen.“ Mit einem dumpfen Geräusch plumpst Helenas Sporttasche neben mir auf das Pflaster und ich richte mich wieder auf.

„Sorry, dass du so lang warten musstest“, sagt Helena und sieht mich zerknirscht an.

 

Ich winke ab. „Schon okay. Ich denke, ich muss dich nicht fragen, wie Sport war.“

 

„Bloß nicht. Erzähl lieber, was du am Wochenende gemacht hast. Du siehst aus, als hättest du etwas Besonderes erlebt.“ Helena grinst mich herausfordernd an.

 

Ich senke fühle mich ertappt und senke rasch den Blick, auch wenn es dafür nun wohl zu spät ist. Wie kann Helena wissen, was in mir vorgeht? Sie kennt mich trotz allem einfach immer noch zu gut. Zwei Wünsche ringen in mir – einerseits will ich das mit Freddy für mich behalten, schließlich ist noch gar nicht so viel passiert und ich weiß auch nicht, ob ihm das recht wäre, wenn ich etwas erzähle. Andererseits ist er es, der mich seit Wochen beschäftigt, mich aufbaut, glücklich macht.

 

„Ne, am Wochenende war nichts Besonderes“, sage ich dennoch ausweichend. Ich habe nur unverhältnismäßig lange auf dem Boden vor meinem Bett gesessen, mich an Freddys Seite geträumt und gehofft, ich könne in der Zeit zurückreisen.

 

Helena hebt eine Augenbraue und legt Daumen und Zeigefinger an den Mund, als würde sie dazwischen eine Pfeife halten. Sie hat den Sherlock Holmes ausgepackt – und der ist leider viel zu klug.

 

„Aber davor“, schlussfolgert sie. „Jetzt sag schon, die Pause ist gleich vorbei.“

 

Der Wunsch mich mitzuteilen gewinnt und ich platze heraus: „Freddy und ich haben uns beinahe geküsst.“

 

Jetzt ist es Helena, die sich an die Schulwand lehnt. „Wow, krass“, sagt sie in ungläubigem Tonfall. Dann wechseln Stimme und Blick wieder in den Forschermodus. „Wer genau ist Freddy?“

 

„Ich kenne ihn vom Fleet21, er ist Gitarrist und Frontman von Escape.“

 

Helenas Mund klappt auf und ihre Augen wachsen auf die Größe von Tischtennisbällen. „Ein Rockstar?“

 

Ich schüttle den Kopf. „Nein, so weit ist es noch nicht. Aber die Musik ist wirklich gut. Und Freddy ist total …“ Ich suche nach dem passenden Wort. Lieb, sanft, lustig, verschlossen, unsicher, verantwortungsbewusst, zugewandt – alles passt und doch fehlt immer ein bisschen, das mir aber zu wesentlich erscheint, um es nicht zu benennen. Helena wartet nicht, bis ich das richtige Wort gefunden habe, sondern fällt mir strahlend um den Hals.

 

„Das ist mega, ich freu mich so für dich. – Aber, wieso habt ihr euch nur fast geküsst?“

 

„Sein kleiner Bruder ist ins Zimmer geplatzt.“

 

„Oh no, bad luck“, murmelt Helena und zieht einen Schmollmund, ehe sich ihr Gesicht wieder erhellt. „Na ja, dann beim nächsten Mal.“

Sie setzt einen Dackelblick auf und kuschelt sich ein weiteres Mal an mich. „Hast du ein Bild von ihm?“

 

Ihre Neugier ist mir fast ein bisschen zu schnell, aber weil ich mich so freue, ihr endlich von Freddy erzählt zu haben und sie sich mit mir freut, ziehe ich wieder mein Smartphone hervor und zeige ihr Freddys Profilbild. Helena pfeift anerkennend.

 

„Wow. Das sieht aber schon sehr nach Rockstar aus. Und ihn hast du geküsst?“

 

„Was? Ich glaub’s nicht. Hallejudith knutscht mit Rockstars rum?“

 

Mir gefriert das Blut in den Adern und mein ganzer Körper erstarrt. Ich schaffe es nicht einmal, mein Handy wieder in die Tasche zu stecken. Mit dem geöffneten Bild von Freddy leuchtet es mir entgegen. Gut sichtbar für Oksana, die mit süffisantem Grinsen hinter mir steht. Was macht sie hier? Wieso habe ich sie nicht kommen sehen?

 

Helena schüttelt den Kopf und macht einen Schritt auf Oksana zu. „Halt doch einfach die Klappe.“

 

Ich stolpere beinahe über meine Füße, als Helena mich mit sich zieht, weg von Oksana, hinein ins Schulgebäude. Dort schiebt sie mich in eine Ecke und ich sinke auf eine warme Heizung. Ironischerweise fange ich ausgerechnet hier an zu zittern. Wie viel hat Oksana gehört? Sie hat mich Hallejudith genannt, sind die Videos von ihr? Oder nennen mich inzwischen alle in der Stufe so und ich habe es nur noch nicht mitbekommen?

 

„So eine blöde Kuh“, murmelt Helena vor sich hin.

 

Das Zittern lässt nach, dafür brennen nun Tränen in meiner Kehle und in meinen Augen, und mir fehlt die Kraft, sie zurückzuhalten. Helena lässt sich ebenfalls auf der Heizung nieder und legt ihren Arm um mich.

„Es tut mir so leid“, sagt sie. „Ich hab das unterschätzt.“

 

„Ich auch“, sage ich schniefend und bin trotz allem so unendlich dankbar, dass Helena jetzt hier neben mir sitzt. Und obwohl ich mich vor der Antwort fürchte, muss ich Helena dennoch fragen: „Wie schlimm ist es wirklich? Wie viel reden sie über mich?“

 

Helena senkt den Blick und zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht genau. Ich bin aus den Gruppen ausgetreten, als das zweite Video auftauchte. In den Kursen reden sie nicht, jedenfalls nicht, wenn ich dabei bin.“

 

Die Schulklingel schrillt durch den Flur und Schülerinnen und Schüler strömen in den Gang, aber Helena und ich bleiben auf der Heizung sitzen.

 

„Bin ich wirklich so schlimm? Was habe ich ihnen getan?“

 

Helena schüttelt vehement den Kopf. „Nein, bist du nicht, und du hast nichts getan. Dein einziger Fehler ist, dass du zu gut zu allen bist. Sogar zu mir, ich hab das nicht verdient.“

 

Ich fahre mir mit dem Handrücken über die Augen. „Wieso?“

 

„Es war nicht richtig, einfach die Gruppen zu verlassen. Damit habe ich das Problem nicht gelöst, sondern bin ihm nur aus dem Weg gegangen.“

 

Das stimmt leider, das kann ich nicht leugnen.

 

„Aber was hättest du schon groß machen können?“

 

Helena wirft die Arme in die Luft und verfehlt dabei nur knapp einen Mitschüler aus dem Jahrgang unter uns. „Eher so etwas sagen, wie eben zu Oksana, zur Schulleitung gehen …“

 

Sie springt auf. „Das sollten wir jetzt tun, komm.“

 

Helena nimmt meine Hand, aber ich halte sie zurück. „Nein, warte. Das ist so peinlich.“

 

Ich will nicht, dass die Direktorin oder die übrige Schulleitung diese Videos sehen. Was, wenn sie die Filmchen insgeheim komisch finden? Und was ist, wenn ich die anderen bei der Schulleitung anzeige? Wen soll ich überhaupt anzeigen? Ich weiß nicht, von wem die Videos kommen. Aber wer auch immer es ist, wird nicht begeistert sein, wenn die Schulleitung davon erfährt. Und was passiert dann? Ich will mir gar nicht ausmalen, welche Gemeinheiten folgen könnten. Vielleicht ist es besser, noch bis Ostern auszuhalten.

 

Helena funkelt mich an. „Ja, das ist peinlich. Aber für die anderen, für mich. Nicht für dich!“

 

So energisch habe ich sie schon lang nicht mehr erlebt, nicht einmal bei den letzten Trainings, wenn sie verbissen das Handballtor verteidigte.

„Ich hab Angst“, gebe ich zu.

 

„Das glaube ich dir“, sagt Helena und setzt sich wieder neben mich. „Wenn du es absolut nicht willst, sag ich der Schulleitung nichts. Aber, wenn du doch darüber reden willst, bin ich für dich da. Also, wenn du es noch möchtest.“

 

Wieder steigen Tränen in mir auf. Weil ich so dankbar bin, dass Helena für mich da ist, und weil es mich gleichzeitig so traurig macht, dass sie glaubt, ich würde sie nicht mehr zur Freundin haben wollen. Ich schließe sie in eine feste Umarmung.

 

„Ich will dich nicht verlieren, weißt du das nicht?“

 

„Ich war mir kurz unsicher, schließlich habe ich mich nicht gerade wie eine gute Freundin verhalten.“

 

„Aber jetzt bist du da.“

 

Helena seufzt. „Ja, jetzt bin ich da.“ Sie lächelt und wischt sich nun selbst über die Augen. „Siehst du, ich hab ja gesagt, du bist zu gutmütig.“

 

Nun muss ich auch lachen und schaffe es, die übrigen Tränen herunterzuschlucken. Der Flur ist inzwischen nicht mehr von durcheinanderwuselnden Leuten gefüllt. Die meisten, stehen weiter hinten in kleinen Grüppchen vor den Klassenräumen. Herr von Ophoven kommt an uns vorbei und bleibt kurz stehen, als wir keine Anstalten machen, ihm zum Musikraum zu folgen. Fragend sieht er uns an.

 

„So, die Damen, darf ich bitten?“

 

Helena sieht mich fragend an und formt mit ihren Lippen das Wort Schulleitung. Mein Herz schlägt bis zum Hals und in meinem Magen flattert es. Zum Glück sitze ich immer noch auf der Heizung, ich weiß nicht, ob meine Beine mich in diesem Moment tragen würden. Trotzdem nicke ich meiner Freundin zu.

 

„Tut mir Leid, Herr von Ophoven, wir müssen ganz dringend mit der Schulleitung sprechen.“

 

„Jetzt? Kinder, hättet ihr das nicht in der Pause machen können?“

 

Helena setzt ihr schönstes Lächeln auf und blinzelt unseren Musiklehrer hinter ihren Brillengläsern an. „Das war leider unmöglich. Aber es ist wirklich unaufschiebbar.“

Mit einem schlecht verborgenen Augenrollen gibt Herr von Ophoven seinen Unwillen zum Ausdruck, nickt dann aber.

 

„Also gut.“

 

Kopfschüttelnd geht er den Flur hinunter und ich ergreife Helenas ausgestreckte Hand.   

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