Kapitel 35 - Danke für nichts

Freddy

Das Universum hat einen tiefschwarzen Humor. Anders lässt es sich nicht erklären, dass sich jeder Mist ausgerechnet jetzt zu einer Großdemo versammelt hat.

„Was hast du eigentlich gegen mich?“, frage ich stumm, als ich mit schweren Gliedern im Dunkeln das Wohnzimmer durchquere. Keine Ahnung, wen genau ich meine, aber es antwortet niemand. Dafür renne ich mit dem Zeh gegen die Sofakante.

„Fuck.“ Auch das noch.

Obwohl mein Zeh heiß pocht, laufe, oder besser humple, ich weiter, bis ich das Schlafzimmer erreiche und eine mir schon so vertraute Szene vorfinde. 

Mama liegt im Bett, die Decke halb zur Seite geschoben und die Hände zu Fäusten geballt. Im Schein der Nachttischlampe glitzert der Schweiß auf ihrer Stirn.

Vor zwei Minuten hat mich ein kurzer Aufschrei von ihr geweckt, jetzt kommt nur noch ein leises Stöhnen aus ihrer Kehle.

 

Ich setze mich auf die Bettkante, nehme ihre rechte Hand und massiere sie sanft, manchmal hilft das schon etwas. Die Anspannung in ihren Muskeln lässt etwas nach, doch kaum, dass ich halbwegs erleichtert aufgeatmet habe, stöhnt Mama wieder auf und ihre Finger ballen sich in meiner Hand wieder zur Faust.

 

Mit meiner freien Hand öffne ich die Schublade im Nachttisch und ziehe das Schmerzmittel hervor. Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass Mama es jetzt schon verhältnismäßig lang nicht gebraucht hat, trotzdem kann ich mir ein Seufzen nicht verkneifen, als ich das Fläschchen zwischen meine Knie klemme und den Deckel abschraube.

 

„Mama, schaffst du es, kurz loszulassen?“, frage ich leise. Einhändig bekomme ich die Tropfen nicht auf einen Löffel.

 

Es dauert eine Weile, bis meine Mutter die Kontrolle über ihre Hand so weit zurückgewinnt, dass sie ihre Faust öffnen und ich meine Hand rausziehen kann.

Leider hat das Medikament heute nicht die erhoffte Wirkung. Während Mama sich sonst immer kurz nach der Einnahme wieder entspannte, verzieht sie jetzt weiterhin schmerzhaft das Gesicht und fängt plötzlich an zu würgen. Ich schaffe es gerade noch, die Schüssel, die seit zwei Tagen im Zimmer steht, heranzuziehen und neben ihr Gesicht zu halten, bis meiner Mutter das Abendessen wieder hochkommt. Sie stöhnt, keucht, würgt noch einmal. Und ich kann nichts anderes tun, als mit der einen Hand die Schüssel und mit der anderen Hand ihren Kopf zu halten.

 

Fick dich, Universum, ich hoffe, wenigstens du hast Spaß!

 

Endlich lässt das Würgen nach und Mama sinkt erschöpft auf ihr Kissen zurück. Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und putze ihr mit einem Taschentuch den Mund ab. Bis auf eine Übelkeitsattacke direkt nach der ersten Chemo gestern, ging es Mama eigentlich ganz gut. Klar, sie war müde, aber nicht mehr als sonst. Aber das eben … Verdammt, wenn das so weiter geht. In knapp 30 Stunden geht mein Zug nach Mittenwald, aber ich beschließe in diesem Moment, dass er ohne mich fahren wird. Wie soll ich Finn mit unserer Mutter in diesem Zustand allein lassen? Es war bescheuert, dass ich das Ticket überhaupt gebucht habe. Schließlich hätte mir klar sein müssen, dass mit Mamas Vorerkrankung die Chemo kein Spaziergang werden würde, weder für sie noch für meinen Bruder und mich.

 

Ich warte, bis Mama eingeschlafen ist und beseitige die Spuren der nächtlichen Übelkeitsattacke, ehe ich leise in mein Bett zurückkehre.

 

„Ist alles okay?“

 

Finns Stimme ist nur ein Flüstern, doch sie durchbricht die Stille unseres Zimmer, als ob er geschrien hätte, weshalb ich zusammenzucke und mir beinahe den Kopf am Bettpfosten stoße.

 

„Du bist wach?“

 

„Immer.“

 

Scheiße, und ich hab gedacht, er würde von Mamas nächtlichen Schmerzen nichts mitbekommen. Kurz flammt Ärger in mir auf, weil er mir dann auch hätte helfen können, aber im Grunde genommen bin ich froh, dass er Mama nicht in diesen Zuständen gesehen hat.

 

„Es geht wieder“, sage ich in die Dunkelheit.

 

Eine Weile bleibt es still und ich glaube schon, dass Finn wieder eingeschlafen ist, als er plötzlich fragt:

 

„Freddy, glaubst du, dass Mama wieder gesund wird?“

 

Die Frage trifft mich wie ein Hieb. Als Mama zum ersten Mal ins Krankenhaus kam, hat er mir die Frage schon einmal gestellt. Damals hatte ich noch die Hoffnung, dass alles gut werden würde, inzwischen weiß ich, dass zumindest die Schmerzen nicht mehr weggehen werden. Aber vielleicht hat Mama ja einmal Glück und sie kann wenigstens diesen Scheißkrebs besiegen.

 

Ich weiß nicht, was ich meinem Bruder antworten soll, nur dass ich etwas sagen muss. Denn je länger ich warte, desto sicherer wird Finn mein Schweigen als ein nein interpretieren.

 

„Ich weiß es nicht“, sage ich schließlich ehrlich.

Finn seufzt leise und ich suche nach einem Trost, finde aber keinen.

 

 

Es klingelt, als ich am nächsten Nachmittag das Bad putze. Seltsam, um diese Zeit ist der Paketdienst eigentlich schon durch. Die Flasche mit dem Reinigungsmittel noch in der Hand drücke ich auf den Summer und lausche neugierig den Schritten, die kurz darauf durchs Treppenhaus schallen. Zwei Minuten später kommt Judith lächelnd auf mich zu.

 

„Hi, Überraschung.“

 

Das ist es allerdings. Und vor allem die Schönste Ablenkung vom Putzen, die ich mir vorstellen kann.

Im Flur unserer Wohnung stellt Judith ihren Rucksack ab und zieht eine große Plastikdose hervor. „Ich habe euch was mitgebracht.“ Sie öffnet den Deckel und ich erhasche einen Blick auf einige Stücke Rührkuchen mit Schokostückchen und Schokoglasur. Augenblicklich läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

 

„Nice. Magst du schon einmal in die Küche gehen, ich bring das hier noch kurz weg“, sage ich und halte das Putzzeug hoch. Im Bad war ich fast fertig, das Klo kann ich gleich noch putzen.

 

„Wie geht’s euch?“, fragt Judith, sobald ich neben ihr in der Küche stehe und den Kuchen auf Teller verteile.

 

„Es geht. Die letzte Nacht war ziemlich hart.“

 

Judith sieht mich besorgt an. „Shit. Ich hätte vorher schreiben sollen. Ist es euch lieber, wenn ich wieder gehe?“

 

„Nein, es ist schön, dass du da bist. Möchtest du einen Tee?“

 

„Gern.“

 

Ein paar Minuten später sitzen wir mit Finn und Mama am Wohnzimmertisch. Die Spuren der Nacht liegen in dunklen Ringen noch deutlich auf Mamas Gesicht, aber immerhin hat sie wieder Appetit und lässt sich den Kuchen schmecken.

 

„Der ist richtig lecker. Hast du selbst gebacken?“

 

Judith senkt den Blick und schiebt sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich hab die Glasur drübergekippt. Gebacken hat meine Schwester.“

 

„Die Glasur ist besonders gut“, erwidert Mama lachend und sammelt mit der Fingerspitze die Kuchenkrümel vom Teller.

 

„Soll ich dich morgen zum Bahnhof fahren?“, fragt Judith unvermittelt, und mir fällt beinahe der Teller aus der Hand. Sicherheitshalber stelle ich ihn auf dem Tisch ab.

 

„Ich fahre morgen nicht“, sage ich fest.

 

„Was? Und was ist mit der Schule?“, fragt Finn.

 

Ich sehe zu Mama, die meinen Blick müde und stumm erwidert. Die Tatsache, dass sie meinen Plänen nicht widerspricht, zeigt mir, wie richtig meine Entscheidung ist.

 

„Die wird auch ohne mich auskommen“, murmle ich und hoffe, dass das Thema damit vom Tisch ist.

 

Aber nein, ausgerechnet meine Freundin schüttelt den Kopf. „Freddy, du kannst doch nicht deine Ausbildung vernachlässigen. Wie stellst du dir das vor?“

 

„Wie stellst du dir das vor?“, entgegne ich.

 

„Ich bin ja auch noch da“, mischt Finn sich ein.

 

„Du hast noch Schulpflicht, ich nicht.“

 

„Laut Ausbildungsvertrag schon“, sagt Mama leise.

 

Verdammt, ich weiß, dass sie recht hat, aber ich will es nicht hören. „Ich kann euch so nicht allein lassen.“

 

Judith stellt ihren Teller ab und nimmt meine Hand in ihre. „Ihr seid nicht allein.“

 

Gerade will ich etwas erwidern, als Mama laut aufstöhnt und der saubergeputzte Teller auf den Boden neben das Sofa fällt. Sofort bin ich bei ihr, helfe ihr, sich hinzulegen, während Finn ins Schlafzimmer läuft und das Schmerzmittel holt. Doch als er das Fläschchen aufdreht, schüttelt Mama den Kopf.

 

„Warte, versuch es erst mit dem Wärmekissen“, sagt sie, nur um im nächsten Moment die Lippen aufeinanderzupressen und die Luft anzuhalten.

Ich bin skeptisch. Aber ich werde sie auch nicht zwingen, das Schmerzmittel zu nehmen. Und ausnahmsweise hat das Universum mal ein Einsehen und nach ein paar Minuten lassen die Schmerzen nach und Mama atmet wieder entspannter.

 

„Braucht ihr noch etwas?“

 

Judith! Ich habe sie in den letzten zehn Minuten völlig vergessen, habe einfach nur funktioniert wie immer.

 

Jetzt spüre ich ihre Hand auf meinem Knie, sehe in ihr besorgtes Gesicht, sie ist etwas bass um die Nase. Vermutlich ist ihr jetzt erst klar geworden, wie unsere Realität hier aussieht. Ich hätte ihr dieses Erlebnis gern erspart, gleichzeitig bin ich auf merkwürdige Art froh, dass ich ihr nun nicht mehr erklären muss, dass das alles nicht so einfach ist. Ein Blick in ihre Augen und ich weiß, sie versteht es.

 

„Schon okay, danke“, sage ich und sammle unsere Kuchenteller ein, um sie in die Küche zu bringen.

 

Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, sieht meine Mutter mir entgegen, mit jenem vertrauten halben Lächeln auf dem Gesicht, das ich schon so gut kenne, und entschlossenem Blick. Sie hat eine Entscheidung getroffen, und so wie sie guckt, bin ich mir sicher, dass mir ihr Entschluss nicht gefallen wird. Fragend sehe ich abwechselnd zu Finn und Judith, aber die beiden zucken nur mit den Schultern. Sie haben also immerhin keine heimliche Absprache hinter meinem Rücken getroffen.

Mama braucht nur fünf Minuten, um uns ihren Plan mitzuteilen, und wie befürchtet, geht er mir gegen den Strich. Da hilft es auch wenig, dass Judith die ganze Zeit über meine Hand hält.

 

Meine Mutter wird sich für die nächsten Chemoeinheiten stationär aufnehmen lassen, um ihre starken Nebenwirkungen besser kontrollieren zu lassen. Sagt sie. Und ja, zum Teil glaube ich ihr das auch. Der andere Teil der Wahrheit, den sie nicht ausspricht, ist, dass sie Finn und mich entlasten will. Ich kann sie verstehen, trotzdem spüre ich bereits wieder Panik in mir aufsteigen. Sie will ins Krankenhaus gehen, ich soll zur Schule fahren und Finn einmal mehr bei Anton unterkommen, wobei Judith direkt auch die Hilfsbereitschaft ihrer Familie anbietet. Es ist nett gemeint, aber es macht mir Angst. Was, wenn von den Ärzten oder dem Pflegepersonal sich wundert und Fragen stellt? Nur ein Hinweis und …

 

„Freddy, das klappt schon. Mach dir keine Sorgen.“

 

Mach ich aber. Mama wird Fachleute um sich herum haben, die ihr helfen, und Finn, der sie besucht. Mein Bruder wird bei seinem besten Freund sein, selbst Judith wird nah am Geschehen sein. Nur ich soll an den Arsch der mir bekannten Welt, an einen Ort, der mir in diesem Moment kaum egaler sein könnte, außer Reichweite jedweder Kontrolle. Ich finde, das sind mehr als genug Gründe, um mir mehr als nur ein bisschen Sorgen zu machen.

 

Trotzdem stehe ich vier Tage später mit meiner Reisetasche vor der Tür meiner WG in Bayern und klingle. Ich schaffe es gerade noch zu registrieren, dass es Debbie ist, die mir öffnet, als sie mir auch schon mit einem Jubelschrei um den Hals fällt.

 

„Da ist ja endlich unser Star!“

 

Weil ich ohnehin keine andere Wahl habe, erwidere ich ihre Umarmung, verstehe aber nur Bahnhof. Ich habe zehn verfluchte Stunden im Zug gesessen, bin hundemüde und will am liebsten sofort wieder zurück nach Hamburg. Wie ein Star fühle ich mich bestimmt nicht. Meine Leistungen in der Berufsschule kann sie auch nicht meinen, immerhin habe ich die ersten drei Tage verpasst.

 

„Ich hab keine Ahnung, was du meinst“, sage ich und schiebe mich an Debbie vorbei in den Wohnungsflur.

 

Meine Mitbewohnerin sieht mich irritiert an. „Oh, ich dachte, du wärst der Sänger von Escape, aber vielleicht siehst du ihm auch nur ähnlich“, sagt sie dann mit spöttischem Tonfall.

 

Ich beiße die Zähne zusammen. Die Band, unser Song – das fühlt sich noch weiter weg an als meine Familie. Wie ein anderes Leben, in das ich nicht mehr zurück darf. Aber Debbie das jetzt zu erklären, ist zu anstrengend.

 

„Doch, doch, bin ich“, sage ich also. Meine Hoffnung, dass sie es damit auf sich beruhen lässt, erfüllt sich jedoch nicht.

 

„Na also. Euer Song und das Video sind der Hammer!“

 

„Du hast ihn gehört?“

 

„Nicht nur ich“, erwidert Debbie lachend, zieht ihr Smartphone aus der Hosentasche und hält es mir entgegen.

 

Ich schnappe nach Luft, taumle und muss mich an der Wand festhalten. Das ist Girl in the Crowd, unser Video, das seit fünf Tagen online ist. Und das sind fucking 23.000 Klicks und über sechzig Kommentare.

Sagte ich bereits, dass das Universum einen grausamen Humor hat?

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